Mit Pauken und TrmpetenSmallheader Kurzgeschichten

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Die Geschichte der Trommlergarde Langwiesen, so, wie ich sie erlebte, angefangen mit einer aggibüchse, mit der ich durch's Dorf trommelte, bis hin zur glanzvollen «The Royal Stewart Show Drum& Clairon Band» im schottischen Tartan.

 

Die Geschichte der Langwieser Trommlergarde, erzählt von Harry Greis

Der kleine Trommelknabe aus dem berührenden Weihnachtslied, der an die Krippe kam und sich nicht getraute hineinzugehen, weil er nichts besass ausser seiner Spielzeugtrommel, und der dann durch einen vom Himmel herabsteigenden Stern doch hingeführt wurde, um vor dem Jesuskind zu trommeln - dieser kleine Trommelknabe hätte ich sein können. Den kindlichen Glauben dazu hätte ich gehabt. Nach einem Weihnachtsfest in der Familie - ich erzähl's um das zu illustrieren - riss ich das Fenster auf und schrie, so laut es meine Kinderstimme erlaubte, in die Christnacht hinaus: «Danke Christkindli!»  Ich sehe immer noch meinen älteren Bruder Olaf, der in der Küche beim Abtrocknen helfend, vor Lachen beinahe durch die Durchreiche ins Esszimmer fiel. Der hatte ja gar keine Ahnung. Und die Blechtrommel? Noch weit bescheidener, als in dem Lied! Aber lest die Geschichte selber. Von Anfang an:

Trommeln wirkten auf mich von klein an elektrisierend. Hörte ich ihre dumpfen Schläge, stürmte ich ins Freie, um zu sehen, wo sie spielten. Gerieten wir in irgendeinem Ort wegen eines Umzugs in den Stau, so liess ich meinen Eltern keine Ruhe mehr, bis wir parkierten und uns den Umzug anschauten, natürlich immer darauf spekulierend, möglichst nahe an die Tambouren heranzukommen. Die Spieler des Schaffhauser Tambourenvereins führten damals sowohl den Schaffhauser als auch den Neuhauser Fastnachtsumzug an und sie hatten Piccolopfeifen dabei. Obwohl sie Masken trugen, war klar ersichtlich: Der Kleine, vorne in der Mitte, der war ein Junge. Das faszinierte mich ungemein: «Der darf schon mitspielen.»

Piccolos zusammen mit Trommeln hörten wir dann vor allem im Radio, wenn in Basel die Fasnacht tobte. Überhaupt übte Basel auf mich eine gewaltige Faszination aus, denn Basel, das war nicht einfach Fasnacht: Basel, das war Trommelkunst, und die Basler spielten auch nicht die abgedroschenen Ordonnanzmärsche, die jeder Spatz von den Dächern pfeifen konnte, sondern viel schönere und eben, mit den Piccolos zusammen, wie die alten Landsknechte. Kamen wir einmal nach Basel, so klebte ich an der Fensterscheibe im Auto und späte krampfhaft, ob ich irgendwo einen Laden, ein Schaufenster oder sonst etwas mit einer Trommel entdecken konnte. «Trommel» durfte man glaub ich gar nicht ungestraft sagen, die hiessen «Baslerkübel». Grösser als die Ordonnanztrommeln, nicht mit rot-weissen Rahmen, sondern schwarz-weiss, wie das Baslerwappen und zudem mit Seilen bespannt. So stellte der Baslerkübel für mich das A und O einer perfekten Trommel dar, es sollte darüber nichts Erhabeneres geben. Meistens waren es aber nur die kleinen Blechtrommeln mit den Basler Läckeli, die in den Schaufenstern standen.

Einmal spasste mein Vater: «Hast du gesehen, dort hat einer eine Saublase aufgehängt, ich glaube die machen Trommeln.» Von da an kontrollierte ich jeden Eingang zu Hinterhöfen und Gässchen und suchte zum Trocknen aufgereihte Saublasen. Ich wusste noch nichts von Kalbsfellen.

Auch in Langwiesen gab's Tambouren. Allerdings bekamen wir sie nur im Januar zu hören und zu sehen, genau genommen am Hilari und vielleicht noch ein paar Wochen zuvor, wenn sie oben im Kohlfirst übten. Sie führten den Hilariumzug an und trugen rot-weisse Landsknechtsgewänder mit geschlitzten Jacken und Pluderhosen mit einem weissen und einem roten Strumpf, mit Schnallen an den Schuhen und mit einer Feder am Barret. Das ahmte ich mit meinem ebenfalls rot-weiss gestreiften Pijama nach. Ich brauchte nur die Hosenbeine unter den Knien zusammenzubinden und einen Gürtel um den Bauch zu schnallen. Federn fand man auf jedem Bauernhof, und von denen standen im Dorf damals noch etliche. Nur, das Kostüm ohne Trommel machte noch keinen Tambour.

Die Schlägel für eine Spielzeugtrommel lagen irgendwann beim Aufwachen unter meinem Kopfkissen. Vermutlich steckte mein Grossvater dahinter. Eine Trommel selber aber gab's nie. So baute ich mir eine aus einer Maggibüchse. Maggibüchsen brauchten sie im Konsum, gefüllt mit Saucenwürfeln, die sie einzeln verkauften. Als eine dieser runden Büchsen leer wurde, durfte ich sie haben. Eine Schnur musste als Bandelier herhalten, und so konnte ich loslegen.

Ich ging auf die Strasse und marschierte immer von unserer Autogarage bis zur Helvetia hinaus und trommelte, was das Zeug hielt. Ich war ja jetzt ein Tambour. Die grossen Buben hingegen fanden das gar nicht lustig. Sie nahmen mir die Trommel weg, warfen sie herum, spielten damit Fussball und ich musste zusehen, wie sie immer mehr aus der Form kam. Schliesslich liessen sie von mir, besser gesagt von meiner Maggibüchse ab, und ich rannte heulend mit dem formlos gewordenen Blechding unter dem Arm nach Hause. Zugegeben, mich würde das Geschetter heute auch am Nerv treffen. Aber damals war das meine Welt und diese Welt drohte kaputt zu gehen.

Mein Vater wäre nicht mein Vater gewesen, wenn er nicht sofort begriffen hätte. Nein er ging nicht hinaus um die grossen Buben zu versohlen, obwohl ich mir das gewünscht hätte. Aber er war Automechaniker und diese machten damals noch alles, was es an einem Auto zu machen gab. Er holte das Ausbeulwerkzeug - einen dünnen Hammer mit breiten Schlagflächen, und ein massives Gegenstück aus Eisen, spannte es in die Werkbank und beulte meine Maggibüchse so aus, wie er das sonst mit Kotflügeln und dergleichen tat. Sie war nicht mehr ganz glatt, aber doch wieder brauchbar und so marschierte ich sofort hinaus auf die Strasse und trommelte erneut durchs Dorf. Ich weiss nicht mehr, wie oft die grossen Buben kamen, aber jedes Mal holte mein Vater das Ausbeulwerkzeug und immer wieder war ich da und trommelte.

Das Trommeln liess ich mir nicht nehmen. Es hatte mich erobert und ich war überzeugt, es damit weit zu bringen. Und die Leute in Langwiesen sollten sich noch wundern. Es sollten Zeiten kommen, wo sie nicht nur meine kleine Blechbüchse, sondern richtige Trommelfelle dröhnen hörten, Dutzende, stundenlang und immer wieder, vom Wald her, vom Fenisberg, aus meinem Haus am Bühl, aus der Autogarage oder auch vom Schulhausplatz und sie würden das dann für eine ganz normale Sache halten, die einfach zu Langwiesen gehörte, wie der Rhein und der Hilari. Ja, aber so schnell ging das alles natürlich nicht.

Einen Verbündeten fand ich in Karli Stemmler, der gleich über der Strasse wohnte. Auch ihn hatte der Trommlervirus erwischt und so rannte er eines Tages mit einer richtigen Trommel zu mir herüber. Sie war zwar eine Spielzeugtrommel, aber sie hatte ein richtiges Kalbsfell. Als sich Soldaten im Dorf einquartierten, zogen wir zu denen hinaus aufs Feld, Karli mit seiner Spielzeugtrommel und ich mit einer Schweizerfahne.

Da die Eltern bei meiner Geburt auf den 1. August spekuliert hatten, ich dann zwar erst am 2. auf die Welt kam, galt ich dennoch als halber Eidgenoss, und der Nationalfeiertag gehörte vor allem mir, so glaubte ich wenigstens. Immerhin: mein Grossvater mütterlicherseits, der bei uns im Haus lebte, feierte seinen Geburtstag nämlich am letzten Julitag und das gab immer ein grosses Familienfest, wo auch unsere Cousins alle teilnahmen. So ergab sich ein feierliches Triduum von Geburtstagen: der des Grossvaters, derjenige der Schweiz und dann meiner. Ach ja, fast wäre ich abgeschweift: Die Schweizerfahne war natürlich ein Geburtstagsgeschenk.

Ich besass eine viel zu grosse, ausgediente Soldatenmütze. Abtretende Schweizer Soldaten durften ihre Uniform behalten und so lagen auf unzähligen Estrichen solche Uniformteile herum. Manchmal bekleideten sie auch Vogelscheuchen über den Kornfeldern. Karli war noch besser ausgerüstet, als ich. Er besass einen Luftschutzhelm, aus Aluminium zwar, und glatt, ohne diesen Sand, wie der bei denen der Soldaten. Aber das ging schon in Ordnung. Wir brachten es fertig, dass die Soldaten samt ihren Unteroffizieren nach den Feldübungen hinter uns her im Schritt ins Dorf einmarschierten. Zuerst ich mit der Fahne, dann Karli mit der Trommel.

Das wiederholten wir alle Tage nicht ohne Stolz, beim Antreten jeweils sogar in der Nähe der Offiziere, die damals noch Sterne am Kragen trugen, stehen zu dürfen. Am letzten Abend luden uns die Soldaten zum Nachtessen im «Bahnhöfli» ein. Es gab Pilaf. Das sind Hörnli mit Hackfleisch. Das mischt der Kü-Che schon im Topf so zusammen und so kommt es auf den Teller - ein typisches Schweizer Militärmenü - aber für Karli ein Problem: Sie waren zu Hause Vegetarier und so wollte er das Hackfleisch nicht essen und es von den Teigwaren abzukratzen, war unmöglich. Vegetarier gab‘s nicht so viele, wie heute, dafür wusste es aber das ganze Dorf. Karli glaubte also, die Familienehre damit aufs Spiel zu setzen. Es gab Tränen, aber der Kü-Che besorgte ihm dann irgendetwas anderes.

Immer auf den Hilari hin, fanden sich ein bis zwei oder, wenn's hoch kam, sogar drei grössere Buben, die vorne am Umzug trommelten. Einer schaffte es später sogar im Militär zu den Tambouren: unser Nachbar, Herbert Thalmann. Er brachte dann den jüngeren jeweils das Trommeln bei, in der Regel die ersten sechs Ordonnanzmärsche. Diese spielen sich etwas einfacher, als die Märsche sieben bis zwölf. Vor allem gibt's darin noch keinen Neunerruf. Diese ersten sechs Ordonnanzmärsche kannte das vereinte Schweizervolk mit Sicherheit inn- und auswendig, denn jeder Trommler, auch derjenige in der kleinsten Blasmusik, spielte immer diese sechs Märsche, wenn die Blasinstrumente schwiegen und er allein für das weitere Einhalten des Schrittes sorgen musste. Hatte er sie abgespult, begann er wieder von vorne.

Nun, was soll's, Hauptsache, vorne am Umzug klopften Tambouren die Felle, denn ohne Tambouren oder wenigstens eine Musik, war das gar kein richtiger Umzug, sondern nur ein Spaziergang. Wie hätte man denn im Schritt gehen sollen? Und das war damals unverzichtbar für eine disziplinierte Sache, wie einen Umzug. Und ausserdem brauchte es zu einem Umzug auch Zuschauer, und diese kamen gewöhnlich erst aus dem Haus, wenn sie das Trommelvolk hörten.

Etwas muss unbedingt zum besseren Verständnis noch erwähnt werden: Die Langwieser waren besser, als die Feuerthaler – jedenfalls aus der Perspektive von uns her - für die Feuerthaler war das natürlich umgekehrt. Obwohl diese Mentalität so ziemlich genau auf die 4., 5. Klasse der Primarschule passte, erfasste sie jeweils zur Hilarizeit das ganze Volk von Langwiesen und Feuerthalen, vom Hosenscheisser bis zum Urgrossvater. Feuerthalen und das kleinere Langwiesen hatten sich in den Vierziger Jahren zusammengetan und bildeten nun eine Gemeinde mit allem Gemeinsamen, was eine Gemeinde normalerweise hat. Nur, am Hilari war Langwiesen Langwiesen und Feuerthalen Feuerthalen. Alles klar?

In jedem der beiden Dörfer organisierte nicht nur ein eigener Hilariverein diesen alten fasnächtlichen Brauch, auch die Schüler versammelten sich getrennt in einem Feuerthaler und einem Langwieser Schülerhilariverein.

Schulpolitisch eine Schulgemeinde, mussten die Hilarianlässe, die unter der Ägide der Schule stattfanden, auch gemeinsam durchgeführt werden. Das galt für die Theateraufführungen in der Turnhalle und besonders für die Umzüge am Freitag und Samstag. Es waren klar definiert zwei Umzüge hintereinander, denn um Farbe zu zeigen, trugen beide Dörfer unübersehbar ihre eigenen Fahnen voran. Die Feuerthaler glaubten, sie hätten als grösseres Dorf das Sagen und gingen den Langwiesern voraus, auch am Samstag Nachmittag über die Rheinbrücke nach Schaffhausen und dort durch die Altstadt.

Diese Tradition stürzte Häbi Thalmann dann einmal grundlegend und für alle Zeiten um. Für Langwiesen hatte er wieder drei Tambouren einstudiert und die Feuerthaler standen in diesem Jahr ohne da. Schon allein das musste sie demütig machen. Sie fragten Häbi an, ob er ihnen nicht wenigstens einen der Tambouren abtreten könnte, da Langwiesen geradezu Überfluss davon hätte. Er sagte zu, diesen Job gleich selber zu übernehmen. Nur, damit hatten sie den Bock zum Gärtner gemacht.

Wie üblich warteten die Langwieser unten in der Lindenstrasse, die Tambouren vorne, bis die Feuerthaler vom Schulhaus die Zürcherstrasse herunter kämen, diesmal mit Häbi Thalmann an der Spitze und die Feuerthaler Fahne hinter ihm. Warum die Langwieser das so ohne Weiteres hinnahmen, hatte niemand hinterfragt, obwohl gerade das doch eigentlich schon verdächtig hätte sein müssen. Bei der Kurve unten, damals war dort noch die Zürcher Kantonalbank, hörte ihr Leihtambour plötzlich auf zu trommeln und rief so laut er konnte: «Tambouren, vorwärts, marsch!» Er schob die Trommel auf die Flanke und rannte davon, den Langwiesern entgegen, die sich auf diesen Befehl in Gang gesetzt hatten.

So verdutzt hatten wir die Feuerthaler noch nie gesehen. Nur noch mit einem Fähnrich voran standen sie da, wie nackt, denn, ohne Tambouren gab's keinen richtigen Umzug – sagte ich das schon? Jetzt war das Undenkbare möglich geworden: Der David hatte den Goliat mit einer List besiegt und das kleine Langwiesen führte mit vier Trommeln den ganzen Umzug an.

Das war natürlich einer der grössten Triumphe im Wettstreit zwischen dem Langwieser und Feuerthaler Hilari. Häbi Thalmann kostete das dann auch voll aus: Der Umzug führte damals über den Schaffhauser Bahnhofplatz, hinunter zu den Mühlenen und dann über die Brücke nach Flurlingen. Häbi ging in seiner Siegerlaune geradeaus den Berg hinan nach Neuhausen, wo jedermann völlig verblüfft über den unerwarteten Hilariumzug eiligst auf die Strasse lief - vier Tambouren konnte man nicht überhören - und erst in Neuhausen überquerte er die eiserne Brücke nach Flurlingen. Es gab da keine Bewilligungen und keine Erlaubnisse, und zum Glück auch keinen Polizisten, der das aufhalten konnte. Es war einfach geschehen. Tatsachen nennt man so was. Da walzte einfach dieser riesige Tross an kostümierten, johlenden und käpselipistoleschiessenden Hilarikits heran und es schien vernünftiger zu sein, sie gewähren zu lassen. Und, das muss man den Feuerthalern lassen, diese kürzten nicht ab, sondern trotteten mit ihrer Fahne brav hinterher.

Klar, das gab ein Nachspiel, und klar, das durfte sich nie wiederholen,
denn die Polizei sagte dazu anschliessend schon noch ein Wörtchen, aber das Ungleichgewicht zwischen Langwiesen und Feuerthalen hatte sich verlagert. So mussten die Feuerthaler mit den Langwiesern zusammensitzen und ihnen zähneknirschend eine neue Spielregel zugestehen, nämlich die, welches Dorf den Umzug anführte. Fortan würde jedes Jahr damit abgewechselt.

Das blieb so lange der Fall, bis ich, bereits als Erwachsener, dann die Langwieser Umzüge gestaltete und diese mit viel Aufwand ausstaffierte. Da zogen wir es von uns aus vor, hinten zu gehen, frei nach dem Motto: «Der Haupt-Act am Schluss, sonst spielen wir die andern an die Wand, und das wollen wir doch nicht. Oder?» Aber jetzt hole ich auch schon wieder aus und presche vor, denn soweit war es noch lange lange nicht.

Zunächst aber erreichten wir ein Alter, wo wir ernsthaft darüber sprechen konnten, wer für das Trommelspiel infrage käme. Karl war schon mal da, ausserdem Franz und Berni, alles Schulkameraden. Sie hatten bei Herbert bereits einige Märsche gelernt, während ich das irgendwie verpasst hatte.
Ich durfte dennoch mitmachen, denn Häbi Thalmann brauchte für seine Truppe einen eigenen Fähnrich. Ich musste schon beim Training im Wald mitmarschieren und so kannte ich nach den stundenlangen Einsätzen alle sechs Ordonnanzmärsche bereits auswendig, als mir Häbi im nächsten Jahr ebenfalls eine Trommel in die Hand drückte und ich mitspielen durfte.

Häbi liess uns vier Buben dann am Umzug allein marschieren, kreiste aber ständig um uns herum. Einmal fuhr er mit seinem Motorrad, das noch einen Seitenwagen montiert hatte, langsam an uns vorbei und machte: «Brädädä-tädadä-täm-tädäm», oder was es eben gerade war. Dann stand er am Strassenrand, möglichst in einer Kurve, damit er uns frontal mustern konnte, und kontrollierte unseren Schritt und unser Spiel, immer stolz mit verschränkten Armen, mit seiner Tabakpfeife im Mund und selbstverständlich immer neben irgendjemandem, von dem er sich seine Truppe loben liess. Er hatte uns auch gut vorbereitet. Schon im November setzte er hartes Training im Kohlfirst an, wo wir stundenlang trommelnd über die holprigen Wege marschierten. Er sagte: «Wenn ihr das schafft, dann ist der Umzug auf der geteerten Strasse ein Kinderspiel.» Und das stimmte dann auch.

Zu diesem Hilari hatte Häbi ein eigenes Kostüm für uns Tambouren entworfen. Eine Art Page, gefertigt aus farbigem Filz mit eingezacktem Wams und Kragen. Zweifarbig und immer zweimal in derselben Kombination. Dazu ein Barett mit Feder und als Beinkleider schwarze Strumpfhosen und Stiefel.

Dann schlug er uns vor, nicht mehr nur auf den Hilari hin zu üben, sondern das ganze Jahr regelmässig zusammenzukommen und zu trommeln, um vielleicht auch bei einem anderen Anlass auftreten zu können. Er hatte ein Feuer entfacht, das in uns zu brennen begann, und eigentlich sollte das als der Moment in die Dorfchronik eingetragen werden, an dem die Langwieser Trommlergarde zu existieren begann. «Trommlergarde» hiess sie allerdings noch nicht, es waren schlicht und einfach die «Langwieser Tambouren».

Wir sahen in Herbert Thalmann ein Idol, wir waren genau in diesem Alter, wo sich Jungs an Idolen orientieren. Mit Begeisterung trafen wir uns jetzt jede Woche in seiner Werkstatt oder im Garten, spielten auf gummibestückten Holzböcken, und lernten zuerst mal die weiteren sechs Ordonnanzmärsche, gefolgt vom Zapfenstreich und einem anständigen Wirbel.

Als Häbi dann heiratete, wirbelten wir eine geschlagene Stunde lang ununterbrochen auf dem Schutzdach unserer Tankstelle, die direkt neben seinem Elternhaus stand. Er strahlte vor Freude und wir liessen ihn glauben, das sei es jetzt gewesen. In Tat und Wahrheit hatten wir bereits geplant, in den von ihm entworfenen Pagenkostümen auf das Schloss Hohenklingen zu fahren, wo er sich am Abend mit seinen Gästen zum Hochzeitsessen einfinden würde, und ihn dort dann nochmals zu überraschen. Damit hatte er nicht gerechnet. Es liefen ihm Tränen herunter und er lud uns zum Essen ein, womit wir wiederum nicht gerechnet hatten.

Im Sommer lernte uns Häbi den Trauermarsch. Er erklärte uns, weshalb immer ein Schlag auf einem Schritt fehle, der dann leer und einsam wirke und so die Trauer unterstütze. Ja und dann sagte er auch noch: «Wenn einmal einer von uns stirbt, spielen ihm die andern den Trauermarsch am Grab.»

Kaum einen Monat später sollte das bereits eintreffen, und der von uns an einem Grab gespielte Trauermarsch mit dem leeren Schlag galt ausgerechnet ihm. Er hatte die Aufgabe übernommen, am 1. August auf dem Fennisberg das Höhenfeuer anzuzünden. Nun ja, damals tat man vielleicht noch Dinge, über die wir heute den Kopf schütteln. Jedenfalls goss er Benzin in den immensen Holzstoss, bevor er ihn anzünden wollte. Da sauste ein Feuerwerkskörper daher und nicht nur der ganze Holzstoss stand augenblicklich in Flammen, sondern auch Häbi Thalmann. Männer erstickten zwar mit Jacken und blossen Händen das Feuer auf seinen Kleidern, aber der Körper hatte schon zu viel Hitze aushalten müssen. Sie führten ihn noch hinunter ins Dorf, wo ihn die Ambulanz erwartete, aber Häbi Thalmann überlebte den Unfall nicht.

Wir vier Buben schworen uns, sein Erbe weiterzuführen und eine Tambourengruppe auf die Beine zu stellen, wie sie Langwiesen noch nie gesehen hätte. Wir warben nicht nur im Dorf, wir holten auch zwei Feuerthaler Schüler - die dort dann zwar als Verräter galten - und einen aus Schaffhausen, dazu, ein absolutes Novum in Kreisen von Tambouren: auch Mädchen. «Warum sollten die nicht trommeln?» Die einzige Frage, die sich uns damals ernsthaft stellte, war die, ob Mädchen ein Bandelier mit einer Trommel dran über dem Busen ohne Beschwerden tragen könnten. Heute muss ich darüber lachen, denn die unzähligen Mädchen und Frauen, die inzwischen überall auf der Welt die Trommelfelle rühren, beweisen etwas anderes.

Am nächsten Hilari glänzten wir mit zwölf Tambouren. Da mein Bruder Olaf in der Jungwacht Clairon gespielt hatte, nahmen wir auch ihn dazu, zudem einen eigenen Fähnrich - also vierzehn Leute. Das liess sich anschauen. Jeder von uns bildete einige der Neuen aus und im Herbst trainierten wir, wie jeweils mit Häbi, oben im Kohlfirst ganze Nachmittage lang. «Wenn man das schafft, dann schafft man auch die Teerstrasse.» Die vier Pagenkostüme ergänzte eine Schneiderin im Dorf dann auf vierzehn.

Im Frühling verliess ich Langwiesen, denn ich wechselte nach Schwyz ins Kollegium. Ich lebte dort im Internat und somit war meine Zeit mit der Trommlergarde vorbei, denn es gab pro Jahr drei Semester, und nur dazwischen, also an Weihnachten, an Ostern und im Sommer eine Möglichkeit, die Zeit zu Hause zu verbringen. Hilari, das wäre nicht zu träumen gewesen. Dafür hätte ich niemals die Erlaubnis bekommen.

In Schwyz legte ich die Trommelschlägel allerdings nicht weg. Ich spielte in der Kollegi-Blasmusik mit. Wir waren zu zweit und wir spielten nie das Selbe aber immer das Gleiche. Für uns gab’s keine Noten, nur ein paar Wunschvorgaben des Dirigenten, der in der Soutane mit einem rauchenden Stumpen in der Hand die Proben dirigierte. Rhythmisch passten wir allerdings ausgezeichnet zueinander, es klang, wie ein Schlagzeug. Ich brachte dabei auch bereits einige Erfahrung von der Jungwacht mit, wo ich bisweilen mit der Clairongarde getrommelt hatte. So erhielt ich eine gute Übung im Improvisieren und den Mut, auch einmal aus der Tradition auszubrechen, was mir später noch sehr behilflich werden sollte.

In der Kollegimusik zu spielen, brachte ein paar kleine Vorteile. So durften wir als Einzige an der Fronleichnamsprozession eine Sonnenbrille tragen, weil sonst die Notenblätter blendeten. Und einmal schnorrte ich mir in Geografie - was ja nun mit Trommeln wirklich nichts am Hut hat - eine bessere Note heraus, weil dem Geografieprofessor mein Trommelspiel gefallen hatte.

Im Kollegium Schwyz weitete sich meine musikalische Tätigkeit aus. Ich begann das Orgelspiel zu lernen und versuchte mich mit einer Trompete, ohne die Ventile zu benützen. Ich brachte mir damit in kurzer Zeit das Claironspiel bei.

 

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Die Trommlergarde

 

Schon nach drei Jahren war ich wieder in Langwiesen. Das Internatsleben in Schwyz hing mir bereits zum Hals heraus und das Latein obendrein, und ich brauchte unbedingt wieder mehr Auslauf. Ich war zwar kein schlechter Schüler, wohl aber ein miserabler Lateiner. Von Altgriechisch wollen wir erst gar nicht reden, obwohl der Griechischlehrer ein netter Kerl war. Nur auf diese beiden toten Sprachen war es in Schwyz angekommen. So warf ich das Handtuch.

Zu Hause studierte ich zunächst im Fernkurs, dann an einer Tagesschule in Zürich, wo mir sogar das Latein besser gefiel. Eine Tambourengruppe, die das ganze Jahr über übte und auch andere Anlässe bestritt, war nie entstanden, und die ehemaligen Kollegen aus der Zeit von Häbi standen im Berufsleben. Da lauerte aber ein Häufchen Kinder und Jugendliche darauf, am Hilari trommeln zu dürfen, und so übernahm ich es, diese darauf vorzubereiten.

Dabei brachte ich die Idee einer ständigen Truppe wieder aufs Tapet. Nur, das sollte sich als recht harzig erweisen. Diese Jungs und Mädels kannten Herbert Thalmann nicht mehr. Sie erschienen zwar zu den Proben, die ich jeweils im Umkleidehäuschen der Fussballer im Paradiesli durchboxte, aber sie hatten null Bock, auch nur einen einzigen Marsch mehr, als eins bis sechs der Ordonnanzmärsche zu lernen. Wozu auch? Wir besassen ja gar keine Trommeln. Für den Hilari liessen sie sich zwar immer von überall zusammenbetteln, aber das Jahr über spielten wir nur auf Trommelböcken aus Holz. Ausserdem genügten für den Hilariumzug sechs Ordonnanzmärsche doch vollauf, zumindest nach der einhellige Meinung dieser jungen Tambouren.

Ich sah das ganz anders. Ich träumte von einer richtigen Tambourengruppe. Dabei lehnte ich mich an die Clairongarde der Jungwacht und nannte sie fortan «Trommlergarde». Dazu hatte ich eine Vision, die wegführte vom Tabourengroove, weg von Ordonnanzmärschen – mindestens weg von diesen immer gleichen ersten sechs. Die Baslermärsche waren anderseits auch wieder viel zu schwer und die Baslerkübel dazu. Ich wollte etwas ganz Neues, etwas, das es so noch gar nicht gab, bei uns wenigstens. Wie aber macht man das mit einem Haufen unmotivierter Kids?

So wandte ich einen psychologischen Trick an, um neue Märsche einzustudieren. «Ihr kennt doch d' Mülleri hät, sie hät? Neunerruf, Fünferruf, Schlepp?» Nun das brachten sie hin. Dieses Gassenhauerlied, das damals alle auf dem Schulplatz oder bei Wanderungen gesungen hatten, liess sich leicht mit den Trommelschlägeln wieder ins Original zurücksetzen. Das kam viermal hintereinander und dann folgte der zweite Teil, das Trio. Ich hängte statt dessen den zweiten Teil des zweiten Ordonnanzmarsches an, den sie ja klopfen konnten und der mir am naheliegendsten schien. Bei der nächsten Probe fügte ich eine kleine Brücke dazwischen. Sie spielten sie, ohne zu murren, da sie leicht war. Bei jeder Probe änderte ich etwas am Trio ab, meistens brauchte ich nur eine Schleppgruppe mit einer Triole zu vertauschen oder sonst so etwas völlig Unbedeutendes. Als wir es dann eines Tages nochmals leicht verändert spielten, erklärte ich ihnen mit wichtiger Mine: «Meine Damen und Herren, das, was Ihr jetzt gespielt habt, ist der Original Zapfenstreich.» Sie verziehen mir den Trick, da sie so nicht mit Mühe und Aufwand einen neuen Marsch lernen mussten und, falls es nicht schwieriger würde, so könnte ich das in Zukunft auch wieder machen. Der Zug begann, sich auf dem richtigen Geleise zu bewegen.

Aber etwas anderes machte mir Sorgen: Irgendwann käme der Hilari und wir bräuchten wieder eine ganze Anzahl Trommeln. Wenn wir diese auch noch im Laufe des Jahres einsetzen wollten, so mussten wir irgendwann eigene Instrumente besitzen. Ich brachte zwei ziemlich schittere, alte Trommeln her, immerhin mal ein Anfang. Da ich inzwischen täglich in Zürich eine Tagesschule besuchte, hatte sich mein Jagdrevier nach alten Büchsen etwas ausgeweitet. Eines Tages entdeckte ich am Ende des Niederdorfes, dort, wo es schon «Oberdorf» heisst, einen kleinen Musikladen mit zwei oder drei Schaufensterchen. Da gab’s Trommeln, auch alte. Ich trat ein. Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein grosser Schritt für die … Stopp, dieser berühmte Satz war damals noch gar nicht ausgesprochen.

Hinter dem Ladentisch stand eine liebenswürdige alte Dame. Sie kam mir vor, wie eine gute Tante, und als solche sollte ich sie später dann auch immer sehen, wenn ich den Laden besuchte. Nein, grad so viele alte Trommel hätte sie eben doch nicht und sie wüsste auch nicht, woher man sie bekäme. Ihr Mann könnte vielleicht noch etwas mehr wissen, er kenne viele Blasmusiken. Sie schickte mich ans andere Ende des Niederdorfes in seine Werkstatt.

Durch enge, verwinkelte Gässchen, ich musste mich fast durchzwängen, gelangte ich in seine Bude. Es war ein niedriger Werkstattraum mit Fenstern in einen dieser düsteren Hinterhöfe, die kaum jemals ein Sonnenstrahl berührte. Es roch nach Farbe und Nitroverdünner. Die Gestelle rundum randvoll belegt mit Stapeln von Holz, Metall, Leder. Überall im Raum standen Schneidmaschinen, Schweissanlagen, Spritznischen und eine Drehbank. An den Wänden hingen Schraubenzieher und Schlüssel, wie das damals bei einem Handwerker halt eben so aussah. Aber wo immer ein Plätzchen frei war, sah ich aufgetürmte Trommelfelle, Zargen, Metallringe und Stäbe, Bandeliere und Spannseile aus verschiedenen Materialien. Dann, unübersehbar, fertige und halb fertige Trommeln und Pauken – und was für Trommeln und Pauken! Das war die Bude eines Handwerkers, der Instrumente baute, eine Bude voller Musik, wie ich sie bisher nie gesehen hatte. Und mitteln drin stand er an der Arbeit: der Meister Eugen Giannini. Es sollte der Anfang einer ganz grossen Zeit für das Langwieser Trommelwesen werden und der Beginn einer langen Freundschaft.

Eugen Giannini war ein wahres Original. Vom Schiffbauer und Hobbyschlagzeuger hatte er sich zum renommierten Trommelbauer emporgearbeitet und seine Instrumente sollten die gesamte Blasmusik im deutschsprachigen Raum erobern. Sie waren anders, sie fielen sofort auf. Das begann schon mit den Zargen aus Holz und nicht aus Blech. Dazu farbig, mit heraldischen Wappen und der Aufschrift des Korps, dem sie gehörten, auf einem herrlich geschwungenen Spruchband.

So etwas war in der Schweiz neu. Er hatte es vor allem aus Schottland und England hergebracht. Vor allem die Pauken mit ihrer behäbigen Fläche eigneten sich hervorragend für solche Heraldik. Die Fellspannrahmen hatte er nicht, wie üblich, schräg gestreift, sondern mit einer Wellenform versehen, was ganz neu wirkte. Eugen Giannini hatte aber noch etwas anderes erfunden, das damals bereits von sich Reden machte: ein Schlagzeug, das für den Transport ineinander verschachtelt werden konnte, bis es nur noch die Grösse des Kicks hatte.

Schon der Anblick dieser Instrumente blendete mich und liess meinen Blutdruck ansteigen. Aber das allein war es noch lange nicht. Eugen Giannini, ein drahtiger Mann, der mit seinem Schnauz aussah, wie meine beiden Grossväter selig, entpuppte sich auch als Meister im Begeistern.

«Was wollen sie mit dem alten Blödsinn?» Seine Sprache, stets direkt und unkompliziert, machte auf mich als jungen Mann gewaltigen Eindruck. «Wenn Sie schon etwas aufziehen, dann recht. Es gibt genug Blödmänner und Nichtskönner in diesen Tambourenvereinen und Marschmusiken. Machen Sie etwas, das heute ankommt, machen Sie Show, machen Sie Parade». Und schon hatte er einen Drummajorsstock in der Hand. Nicht diese Tambourstecken, wie ich sie von überall her kannte. Nein, einen aus Metall, der ihm vom Boden bis zur Schulter reichte, mit goldlaubverziertem Knauf und einem Zürcher Löwen obendrauf. Einen, wie sie die Schotten und die Engländer stolz ihren Pipe- und Drumbands vorauszutragen pflegen. Und er begann in diesem niedrigen engen Raum, damit umherzufuchteln und ahmte mit «Räbamm räbam» das fehlende Korps nach und zeigte, ohne irgendetwas von den Gestellen herunterzufegen, wie so eine Show gehen sollte. Ihr müsst nicht diese hirnlosen Ordonnanzmärsche abklopfen, Ihr müsst Loks spielen, mit Schlegeln, die durch die Luft wirbeln». Er nahm eine Tenortrommel und spielte mir das vor. «Dazu braucht Ihr auch eine Pauke und Cimbales.»

Ich war Feuer und Flamme. Klar, das wäre das. Aber jetzt kommt der Einwand: Erstens, meine Jungs wollten nichts Neues lernen und zweitens, wir hatten überhaupt kein Geld – ich nicht und die Kinder schon gar nicht.

«Wenn die begeistert sind, machen die mit», sagte er, «Und Geld? Da liegt doch so viel Geld in Vereinen herum, habt Ihr den keinen Verein, der sie Euch kaufen könnte? Irgendjemanden findet Ihr doch, der sie Euch sponsert. Diesen alten Unsinn: Vergesst es, das machen all die blöden Tambouren ja auch, und mit den Tambourinstruktoren kann man sowieso nicht reden. Alles Ignoranten und Nichtskönner.»

Das liess mich nicht mehr los. Er hatte genau das gesagt, was ich in meinen Träumen ersehnt hatte. Das war es. Ich nahm einen der älteren Jungs mit zu Giannini und dieser zog wieder seine Überzeugungsshow ab. Es war nicht einfach ein Verkaufstrick, es ging Giannini gar nicht in erster Linie ums Geld, das sollte sich auch später noch bestätigen. Er war ganz einfach überzeug davon. Hier wollte er etwas verändern und er suchte Verbündete mit der nötigen Begeisterung. Mit ein paar Leuten spielte er bereits in einer Zürcher Blasmusik. Die «Arbeitermusik Zürich», die AMUZ, denen er zwei Reihen Trommler samt Tenortrommeln und Pauke voranstellte, und mit denen er englische Shows einstudierte, kam toll an. Die an und für sich eher schlichte Blasmusik erntete damit grossen Erfolg. Ich hab's gesehen, denn ich sprang später auch etwa ein und trommelte mit.

Natürlich liess sich Bruno genauso begeistern, wie ich, und wir trugen diese neu gewonnene Leidenschaft mit nach Langwiesen. Der Hilariverein könnte für diesen Zweck der geeignete Verein sein, denn für den Hilari wollten wir doch in erster Linie spielen. So stand der Antrag für den Kauf von acht Giannini-Trommeln auf den Traktanden der nächsten Mitgliederversammlung des Langwieser Hilarivereins und ich erhielt die Gelegenheit, zu referieren. Klar imitierte ich Giannini. Was in der kleinen Bude in einem Hinterhof des Niederdorfes in Zürich funktionierte, sollte auch im alten Löwensaal in Langwiesen funktionieren. Ich demonstrierte die schitteren Ordonnanztrommeln, die wir hatten, schwärmte von Gianninis heraldischen Wunderinstrumenten, liess Fotos kreisen und, ich überzeugte. Die Mitglieder des Hilariverein stimmten alle dem Kauf dieser Instrumente zu.

Einziges Problem, von einem Mitglied noch aufgeworfen: das Wappen vorne drauf. Langwiesen hatte bisher gar kein richtiges Wappen. Ein gekreuzter Stachel und ein Ruder auf weissem Grund, wie wir es immer als Fahne mitgetragen hatten, war kein Dorf- oder Gemeindewappen, sondern das alte Fischereizeichen. Dies stellte ich in der Zentralbibliothek in Zürich fest, zu der ich als Student eine Karte besass und anderntags sofort hinging. Aber ein richtiges Wappen für Langwiesen fand ich in diesem gewaltigen Arsenal an Büchern nicht.

Die Antwort hatte der alte Gemeindeschreiber von Feuerthalen. Irgendwo in England war eine kostbare Wappenscheibe aufgetaucht mit einem Kranz von winzig kleinen Wappen der alten Kohlfistgemeinden. Langwiesen, in früheren Zeiten eine vollwertige Gemeinde, behauptete ebenfalls ihren Platz auf dem bunten Glas. Die Gemeinden hatten sich Kopien dieser Wappenscheibe machen lassen, und so konnte ich das kleine Schildchen mit einem Transparentpapier und Bleistift am Fenster nachzeichnen: ein stehender Stachel, mit einer waagrechten Gerte auf blauem Grund. Die Langwieser hatten früher vom Fischfang und von Reben gelebt. So spritzte und malte Gianannini auf die acht Trommeln das neue Wappen, welches so zum ersten Mal auf einem öffentlichen Gegenstand prangte. Wir klopften uns auf die Brust. Und weil der Hilariverein die Trommeln nicht einfach gesponsert, sondern gekauft hatte, integrierten wir die Trommlergarde als festen Bestandteil in den Hilariverein und schrieben auf die Spruchbänder über und unter dem Wappen: Hilariverein Langwiesen». Später hätte ich den Mut gehabt, «Trommlergarde Langwiesen» zu schreiben, aber diesen eigenständigen Status besassen wir noch nicht.

Nun machten wir uns emsig ans Vorbereiten für die Übergabe, die ein kleiner Festakt sein sollte. Es müsste ja auch eine Pauke und Tenortrommeln her, und eine Cinelle obendrein. Da wir, wie bereits erwähnt, zwei alte Ordonnanztrommeln besassen, baute ich diese um, nahm ihnen die Saiten weg, spritze die Zargen ebenfalls rot und die Ränder blau-weiss und fertigte dasselbe Wappen einfach aus Karton an und klebte es vorne drauf. Aus dem Gerümpel des Estrichs im Schulhaus fischten wir eine schmale Pauke – nicht besonders repräsentabel, aber immerhin eine Pauke - und dazu eine Cinelle. Mit der Pauke machte ich es ebenso wie mit den Tenortrommeln, und der Cinelle brauchten wir nur mit Sigolin zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Tenortrommeln, kleiner als die Neuen, waren somit gar keine richtigen Tenortrommeln, tönten aber ohne Saiten tiefer oder besser gesagt, dumpfer und mit den an die Hände angebundenen Schlägeln, konnten die Spieler über und unter der Trommel die gleichen schwingenden Figuren drehen. Immerhin, mal für den Anfang.

Damit wir uns in Langwiesen gut machten, probte ich mit den Buben und Mädchen im Paradies und zu dieser Hauptprobe erschien auch Giannini höchstpersönlich. Er begeisterte in seiner Art jetzt die ganze Bande und probte in der kurzen Zeit mit uns eine kleine Laufshow ein, die wir auf dem Schulplatz dann aufspielen sollten.

Dann zogen wir die Pagenkostüme an, die wir bisher, ausser am Hilari, noch nie getragen hatten, und verlegten die Show auf den Schulplatz in Langwiesen, wo schon etliche Eltern, Hilarivereinsmitglieder und sonst an uns Interessierte warteten. Giannini, festlich mit Jacke und Schlips herausgeputzt, reichte mir die Trommeln, die ich dann jedem einzelnen Buben oder Mädchen in die Hand drückte. Zum Schluss schenkte er mir persönlich einen Majorstab - es war derjenige, mit dem er mir vor Monaten demonstiert hatte - nur hatte er ihn jetzt noch mit einer silbernen Kette aufgewertet.

Und so spielten wir zunächst den Zapfenstreich. Unser Repertoire war ja aus besagten Gründen noch bescheiden. Aber mit der kleinen Laufshow, von der wir noch vor drei Stunden überhaupt nichts wussten, überraschten wir die Langwieser dann völlig, obwohl wir, wie eh und je, nur die ersten sechs Ordonnanzmärsche klopften. Es klappte tipp top: Ich voran mit dem Majorstab, die Trommler hinterher - marschieren hatten sie ja für den Hilariumzug gelernt - und weil sie gut aufpassten, gelangen die Kontermärsche genauso wie die Kreise und die Spirale, die den Eindruck erweckte, wir kämen irgendwann in der Mitte in Bedrängnis, und die sich doch, wie ein Wunder, ganz einfach wieder in die Viererformation auflöste.

Der Durchbruch war geschafft. Ab jetzt folgten mit die Buben und Mädchen bedingungslos, wenn ich mit neuen Ideen antrabte. Jetzt waren wir eine richtige Drumband mit Instrumenten, und die Auftritte sollten ebenfalls folgen. Schon nach dem Hilari zogen wir an den Umzügen der Schaffhauser Fasnacht, der Fasnacht in Winterthur und später in Bassersdorf fast regelmässig mit – natürlich mit allen zwölf Ordonnanzmärschen.

Im Frühling sollte ein Höhepunkt eintreffen: das Sechseläuten in Zürich. Grundsätzlich durften nur Stadtzürcher am Kinderumzug teilnehmen – Sechseläutenumzüge sind heiliger, als jede Fronleichnamsprozession. Es gelang mir, auch mit Hilfe von Giannini, eine Ausnahme zu erwirken. In dieser Euphorie konnten wir den Hilariverein nochmals bewegen, das Portemonnaie, beziehungsweise die Vereinskasse zu öffnen und zwei richtige Tenortrommeln und eine anständige Basstrommel zu spendieren. Dazu kam eine passende Cinelle.

Allerdings gab es klare Vorschriften: Zu den Strumpfhosen mussten wir Halbschuhe tragen - Stiefel würden da nicht passen. Dann durften wir keine Fahne mitnehmen und so weiter, und so fort. Die Halbschuhe stellten kein Problem dar, aber die Fahne. Nicht wegen des Tuches, sondern wegen dem, der sie trug. Er hätte zu Hause bleiben müssen. Giannini entwickelte Fantasie: Bei den Engländern gäbe es solche, die mit einem riesengrossen Zirkel mitmarschierten und immer für die richtige Distanz zwischen den Reihen sorgten. Also baute er einen solchen Zirkel und der Fähnrich durfte mitmachen. Ich habe allerdings bis heute nie bei einem englischen oder schottischen Korps einen solchen Winkelmann gesehen, aber die Idee war goldig und ermöglichte dem Buben, mit nach Zürich zu reisen.

Aber noch ein paar andere unangenehme Sachen versuchten, uns den Tag zu vermiesen. Wegen der gerade ausgebrochenen Maul- und Klauenseuche mussten die Pferde im Stall bleiben. Das verkürzte den Umzug massiv und so hatten wir die Knabenmusik aus Zürich vor uns und eine andere Blasmusik hinter uns. Die störten uns nicht so sehr, wie wir sie. Denn wir besassen den lauteren Klangkörper und hörten auch nicht auf zu spielen, wenn wir stillstanden. Dann präsentierten wir nämlich unsere immer besser funktionierende Laufshow, die bei den Leuten fantastisch ankam.

So war es nur eine Frage der Zeit, bis einer daherrennen und ganz aufgeregt sagte würde, wir müssten aufhören, wir sollten doch einfach mitmarschieren, ohne zu spielen. Ich protestierte lautstark und drohte: «Dann gehen wir gleich nach Hause.» Ungläubig wollte er wissen, warum das für uns so wichtig wäre. Giannini, der immer in unserer Nähe war, sagte lakonisch: «Weil das eine Trommlergarde ist und Trommlergarden trommeln.» Sie liessen uns zähneknirschend weiterspielen. Peinlich war es mir dann nur, als ich am Schluss des Umzugs den Chef aufsuchte, um zu erfahren, ob er mit uns zufrieden sei: Es war genau der Mann, mit dem ich mich da während des Umzugs so ins Zeug gelegt hatte. Er hatte inzwischen Verständnis entwickelt.

Dann machte uns noch etwas das Leben schwer, das heisst eigentlich nicht nur uns, sondern allen am Umzug: Es goss in Strömen, nicht gerade das Angenehmste und für unsere Filzkostüme auch nicht das Beste, aber gerade hier lag das Potenzial für einen weiteren Tagessieg: Als erste und praktisch einzige Trommler an diesem langen Umzug klopften wir auf Nylonfellen. Giannini hatte sich auch hier als Pionier erwiesen. Kalbsfelle mussten nach jedem Spielen entspannt werden, Kalbsfelle bekamen irgendwann ein Loch oder rissen, Kalbsfelle wurden bei Regen nass und waren dann schlicht unbrauchbar. Zwar gab es diese sogenannten «Pariser», grosse Plastiksäcke über der Trommel, aber optimal war das nicht. So liessen die meisten Tambouren ihre Instrumente an der Seite hängen, währen die Langwieser Kinder ihr Programm voll durchzogen und regelmässig das Wasser auf den Asphalt kippten. Der Regen konnte uns mal. Trommelnd in Viererkolonne über die «Quaibrücke» zu marschieren, jede Reihe auf einer eigenen Spur, das erlebt man nicht alle Tage.

Natürlich nützten wir die Situation, einmal in Zürich grosses Publikum zu haben, voll aus. Im Hauptbahnhof etwa, wo sich die Leute beinahe auf die Füsse standen, marschierten wir einfach trommelnd in die Masse hinein. Alle wichen zurück, wir zogen eine kurze Laufshow mit zwei Kontermärschen und schon stand unsere freie Spielfläche für ein Platzkonzert. Giannini, der uns den ganzen Nachmittag gecoacht hatte, war absolut happy. Hier gab's eine Truppe, die seine Ideen umsetzte.

Jetzt wollten alle Kinder mitmachen. Wir beschränkten uns auf Langwieser und bauten die Garde aus: nochmals zwei Tenortrommler und irgendwann vier Claironisten. Mit den Clairons spielten wir anfänglich Märsche der Jungwacht, später komponierte ich eigene Märsche, unter anderen den «Langwieser Marsch».

In Eugen Gianninis Bude im Zürcher Niederdorfquartier ging ich ein und aus, selbst, wenn ich nichts brauchte. Ich kam einfach und jedes Mal sagte der Meister: Aha, da kommt er ja, habe gerade an Sie gedacht.» Wir blieben übrigens immer beim «Sie». Das «Du» war damals ganz einfach noch nicht so selbstverständlich und zwischen uns lagen doch etwa 40 Jahre. Giannini zeigte mir immer wieder etwas, das wir noch tun könnten, machte mir etwas auf Instrumenten vor oder präsentierte mir eine neue Idee, und ich setzte sie um im kleinen Langwiesen, wo inzwischen alle von der Trommlergarde sprachen, die es in dieser Art weit und breit nirgends gäbe.

Irgendwann wollte ich auch ein privates Instrument haben und mietet bei Eugen Giannini eine Occasionstrommel für ein Jungwachtlager, gleichgross, wie die der Trommlergarde, aber mit verchromtem Metallrahmen und Metallspannern, wie man sie in England und Schottland sieht. Als ich sie nach dem Lager käuflich übernahm, offerierte mir Giannini, sie heraldisch zu fassen, und zwar in voller Pracht, wie er schon immer eine Trommel machen wollte: nach englischem Vorbild, mit dem Familienwappen Greis» und links und rechts zahlreichen Spruchbannern, auf denen zu lesen wäre, wo ich schon überall getrommelt hätte. Selbstverständlich bräuchte ich nur für die Trommel zu bezahlen, die Heraldik wäre ein Geschenk.

Als ich das Instrument zum ersten Mal sah, blieb mir die Spucke weg. Giannini stelle es dann noch ein- zwei Wochen ins Schaufenster seines Verkaufsladens. Ich glaube es ist das schönste und prächtigste Instrument, das er je geschaffen hat, und ich sah inzwischen etliche von diesen. Es ist noch heute, da ich längst die Trommelschlägel zur Seite gelegt habe, zusammen mit dem Majorstab ein dominierendes Juwel in meiner Wohnstube.

Für den Hilari war das Kostüm klar. Die Pagenwämse. Das Jahr über verwendeten wir weisse Hemden mit blauen Krawatten. Das schien uns zu dürftig und wir suchten Ideen. Damals trugen Knabenmusiken und Tambourenvereine gerne eine Art Policemützen. Also stellten wir eine Uniform zusammen aus einer weissen Policemütze, einem zürichblauen Hemd mit einem bestickten Emblem auf der Brust, das ich dazu eigens entworfen hatte, kurze, schwarze Hosen - die Mädchen Jupes - und weisse Kniesocken, was vor allem bei den Laufshows gut wirken sollte. Ein wenig stand hier die sogenannte «Kluft» der Jungwacht, beziehungsweise deren Clairongarden, schon Pate. Irgendwie konnten wir das finanzieren, irgendwie auch bestellen.

Die Einweihung dieser Uniform erlebte ich nicht mehr mit. Ich hatte damals fast über Nacht, von einem Tag zum andern, den Entschluss gefasst, bei den Franz von Sales-Oblaten in Fribourg als Novize einzutreten und darum die Leitung der Garde an Bruno Zwahlen abgegeben und hatte mich aus dem Dörfchen am Rhein verabschiedet. Wieder einmal.

Fribourg bedeutete nicht das Ende meiner Trommlerei. Ich spielte ab und zu bei der Clairongarde der Jungwacht mit, deren Kreisführer ich geworden war, und als wir in der Aula der Universität die von mir komponierte und geleitete «Jungwachtkantate» aufführten, stand zur Webung meine prächtige Gianninitrommel in den Schaufenstern des Warenhauses «Au Trois Tours».

Über diese Jungwachtkantate sollte ich hier, im Zusammenhang mit meiner Erzählung über die Trommlergarde, schon noch ein paar Worte verlieren, denn sie sollte sich nicht als unbedeutend erweisen für das, was uns als die grosse Zeit der Langwieser Trommlergarde noch bevorstand:

Diese «Jungwachtkantate», ein dreissigminütiges Werk, das ich mit über hundert Buben und deren Führen zur Aufführung brachte, hatte einige Elemente in sich, die meine Musik für später prägten. Zunächst war da eine beachtliche Clairongarde von vierzig «Mann», die sich tatsächlich sehen lassen konnte. Sie bildete den Hauptbestandteil des Instrumentariums. Dazu kamen einige Solisten mit Fanfaren, Trompete oder Posaune, die ebenfalls aus dieser Clairongarde stammten. Hinzu setzte ich, und das war wieder ganz neu, eine Beatband mit Schlagzeug, Elektrogitarre und Elektrobass, die ich bei anderen Gelegenheiten für die sogenannten Jazzmessen brauchte, mit denen wir zur fast gleichen Zeit in Fribourg Furore machten und sogenannte Spirituals – heute sagt man eher «Gospels» - in der Kirche sangen und spielten. Diese Kombination nun und dazu natürlich alle Buben aus fünf Jungwachtscharen als Chor, die besten von ihnen zusätzlich als Gesangssolisten, schafften mir die Möglichkeit einer solchen kolossalen Aufführung. Den noch brandneuen «Langwieser Marsch» verarbeitete ich als Eröffnungsfanfare in die «Jungwachtkantate». Umgekehrt tauchten dann später gewisse Elemente der «Jungwachtkantate» im «Musikal Festspiel» wieder auf, das ich 1976 anlässlich der 1100 Jahrfeier von Langwiesen komponierte.

Die Clairongarden der Jungwacht erlebten damals ebenfalls einen Umbruch. Es kamen Stücke auf, wie der «Clairon-Dixie», und bei der Erstaufführung des «Bassclairon-Rag» anlässlich der Osterkurse in Schwyz, spielte ich unter der Leitung des Komponisten als Trommler mit. Nicht zuletzt durch den Rock, der damals noch vorsichtig «Beat» hiess, kamen neue Rhythmen auf und erfassten mich mehr und mehr. Ich spielte die Songs der Beatles nicht nur auf den Orgeln in der Stadt Fribourg während der Messe – was noch ein gewisses Risiko in sich barg – ich schaffte damit auch die Grundlage für eine wiederum ganz neue Art des Trommelspiels, und die Langwieser Trommlergarde sollte auch hier wieder eine Vorreiterrolle spielen. Aber noch war es nicht so weit, noch wussten wir es alle nicht. Ich hatte ja Langwiesen und die Trommlergarde hinter mir gelassen - und das für alle Zeit.

 

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The Royal Stewart Show Drums & Clairon Band

Hatte ich damals innert weniger Tage in Langwiesen die Koffer gepackt, um nach Fribourg zu verreisen, so dauerte es kaum länger, als ich mich, gut vier Jahre später, entschloss, zurückzukehren. Leider spielte ausgerechnet die von mir so geliebte Jungwacht eine entscheidende Rolle. Den Orden der Salesoblaten hatte ich inzwischen verlassen und mich jetzt, zölibatsfrei geworden, in eine Blauringführerin verliebt. In so vielen Dingen waren wir der Zeit voraus, aber so etwas durfte es in der Kirche Gottes nicht geben. So stellten mich einige wichtige Leute der Jungwacht vor die Wahl: «Entweder die Jungwacht – oder Pia.» Ich entschied mich für Pia. So war ich eben und brach auch gleichzeitig das Theologiestudium ab.

Zu Hause arbeitete ich im Familienbetrieb als Administrator. Ich kaufte ein Haus im Bühl, holte Pia nach und heiratete sie.

Die Trommlergarde hatte sich inzwischen komplet verändert. Sie war wieder eine Tambourengruppe und spielte die Ordonnanzmärsche eins bis sechs. Einer aus dem Hilariverein betreute sie und holte einen Tambourinstruktor ins Dorf, ein Dritter bildete die Anfänger aus. Ich weiss über diese Zeit nicht viel. Einmal durfte die Garde mit der ganzen Gemeinde zu einem Gemeindeverbrüderungsfest nach Moudon reisen, um dort am Umzug mitzuspielen, und dazu staffierte sie der Hilariverein mit einer neuen Uniform aus: wieder eine Pagenuniform, wie unsere alte aus Filz, nur massiver verarbeitet, einheitlich aus blauem und rotem Manchester und ohne Zacken an Wams und Kragen. Diese Uniform trugen die Tambouren jetzt immer, wenn sie auftraten.

Laufshows, Stickkreuzen und Schlägelwirbeln gab's nicht mehr und dazu brauchte es auch keine Tenortrommeln und keine Basstrommel, auch keinen Major. Der Instruktor lief vorne rechts und der Betreuer vorne links - auch am Hilari in Zivilkleidern - in der Hand ein Paar in Weihnachtspapier eingewickelte Ersatzschlägel. Ich nahm das alles einfach zur Kenntnis, es war nun ihre Sache, es war eine andere Garde und im Übrigen auch inzwischen ein anderer Hilariverein. Beim Hilari der Erwachsenen gab es Arbeit genug, entstanden in dieser Zeit doch die Hilarianlässe in unserer Garage, der später berühmten «Greishalle». Die Trommlergarde war für mich kein Thema mehr.

Wohl aber war ich ein Thema für die Spieler der Trommlergarde. Warum? Da gab es verschiedene Gründe. An einer Versammlung des Hilarivereins beschwerte ich mich ich über die miesen Themen des Umzuges. Liessen die doch tatsächlich Kinder in Gasmasken daherlaufen, um auf die damals hochaktuelle Luftverschmutzung hinzuweisen. Ich sagte, das sollte man ändern. Ich sagte: «Sollte man» und nicht: «Wolle ich». Mit der Reaktion hatte ich nicht gerechnet: Es stand einer auf und machte einen Antrag an die Versammlung: Man solle mich als Verantwortlichen für den nächsten Umzug wählen. Wenn ich schon wüsste, wie man das macht, dann könnte ich es ja auch gleich tun. Alle stimmten dem zu. Verblüfft stand ich da, aber ich liess mir das nicht anmerken. Ohne zu überlegen und ohne die geringste Ahnung, wie das geschehen sollte, sagte ich: «Gut, ich nehme dieses Amt an». Ob sie ihrerseits alle damit gerechnet hatten, weiss ich nicht. Aber so waren wir damals in Langwiesen. Nicht lange fackeln, einfach mal anfangen. Meistens ist auch etwas daraus geworden.

Diesmal auch. Kurze Zeit später legte ich dem Dorf meine Idee vor: Asterix und Obelix. Ich entwarf alle Kostüme exakt nach den Vorbildern der Comics und ein Heer von Frauen schneiderte und nähte, während die Kinder in unserer Autospenglerei scharenweise am Boden knieten und den Dekor für die Umzugswagen malten. Das löste im Dorf eine Asterixmanie aus. Alle, die sie noch nicht besassen, besorgten die Bücher. Väter erzählten mir später, wie sie nachts, wenn sie nach Hause kämen, ins Kinderzimmer schlichen, um die Asterixbücher zu entführen und sie selber zu lesen.

Langwiesen präsentierte seinen ersten kompletten Umzug mit einem einzigen grossen Thema. Von Majestix über Miraculix bis zu Trubadix, sogar der Schmied mit dem Hammer fehlte nicht, und natürlich die Hauptfiguren Asterix mit der Feldflasche voll Zaubertrank und Obelix mit einem riesigen Hinkelstein, samt seinem Hund Idefix.

Alle Kinder durften sich daran beteiligen. Alle? Nein, da war eine kleine Gruppe, die nicht mitmachen durfte, obwohl sie gerne täte, die in blauroten Manchesteruniformen im Pagenschnitt vorausmarschieren musste, links und rechts ihre Leiter mit den Ersatzschlägeln im Weihnachtspapier. Und dieses war der erste Streich.

Der zweite Streich waren Spielfilme in Super8, die ich drehte, und in denen viele Kinder und Erwachsene von Langwiesen schauspielern durften. Diese Filme beschäftigten uns den ganzen Sommer über, bis hinein in den Winter und holten an den nationalen Wettbewerben der Amateurfilmer regelmässig Silbermedaillen. So war das Haus im Bühl zu einem Treffpunkt für die Langwieser Jugend geworden, und da Pia ebenfalls gerne mit Kindern arbeitete, tat sie das Ihrige dazu und die Kits gingen bei uns aus und ein, wie wir damals früher bei Thalmanns.

Nun erinnerten sich die älteren an die Zeit, als ich diese Trommlergarde geleitet hatte, sie sogar gegründet, und wie wir damals überall an Fasnachtsumzügen und Waldfesten hatten auftreten können, und ja, so was würden sie eben gerne wieder haben. Dabei war für sie ganz klar: Das wollten sie mit mir, denn ich war jetzt so ein Idol für sie, wie damals Häbi Thalmann für uns eines gewesen war. Ich winkte ab, ich sagte: «Ihr habt jemanden der sich um Euch kümmert und ich will niemanden wegstossen. Wir drehen dafür Filme und gestalten Hilariumzüge.»

Aber am Hilari, als hinter ihnen Asterix und Co. liefen und sie vorne als Pagen marschieren mussten, kam es zum Eklat. Die Kinder und Jugendlichen motzten auf. Sie protestierten und schliesslich, kaum war der Hilari vorbei, traten sie in Streik. Ich weiss nicht mehr alle Details und alle Stufen. Irgendwann schleppten sie mich in den Schulhauskeller, stellten ihre Trommelböcklein hin und liessen sich von mir instruieren. Der Hilariverein, der davon hörte, schickte zwei Mann in den Keller, um diesen Unfug abzustellen. Als sie sahen, wie die Jungen auf meine Befehle horchten und begeistert das trommelten, was ich ihnen vortrommelte, sagten sie zueinander: Was können wir da noch ändern? Das ist jetzt einfach so.»

Die beiden waren vernünftige Vorstandsmitglieder, aber nicht alle. Die Instrumente lagerten damals im Estrich des Kindergartens und hätten nur geholt werden dürfen, wenn wir sie gerade gebraucht hätten. Also meldete ich einen Bedarf an, wir holten sie und brachten sie nie zurück. Ich gab sie jedem Kind nach Hause. Ab da übten wir nicht mehr auf Trommelböcken, sondern immer direkt auf den Instrumenten.

Die Revolution der Knirpse weitete sich dann auch auf die Erwachsenen aus. Schon am nächsten Hilari gab es in Langwiesen einen fast neuen Hilarivereinsvorstand. Mir nahm es auch den Ärmel rein und ich wurde darin Verantwortlicher für die Trommlergarde und die Umzüge. Das ermöglichte mir, immer direkt Anliegen und Probleme der Trommlergarde in die Vorstandssitzungen einzubringen. Der Hilariverein liess mich gewähren und redete in der Folge nie mehr in unsere Angelegenheiten hinein. Er erlaubte mir sogar, eine eigene Kasse zu führen, und das durch Gagen erwirtschaftete Geld selber zu verwalten.

Aber zunächst mussten so schnell wie möglich Auftritte her. Das Nächstliegende war die Schaffhauser Fasnacht. Schnell angemeldet, gut, nur, was anziehen? Nicht diese blauroten Dinger. In die Asterixgruppe hatte ich auch eine Kohorte Römer gesetzt. Getreulich nach den Zeichnungen, mit den unhistorischen, aber lustigen grünen Röcken und so. Sie waren auf das Körpermass von Kindern geschnitten, aber mit meiner Popnietenzange und ein paar Arbeitsstunden liessen sie sich schnell zu einem passenden Kostüm für die Jugendlichen aufpumpen. Wir probten in der kurzen Zeit vom Hilari bis zur Fasnacht Laufshows, instruierten neue Spieler für die Tenordrums, das Bassdrum und die Zimbales, ich setzte den ältesten der Jungs als Major ein, und so zogen wir als wiedererstandene «Trommlergarde Langwiesen» an die Schaffhauser Fasnacht.

Die blauroten Pagenkostüme trugen wir noch ein paar Mal, wenn wir ausserhalb von Hilari und Fasnacht auftraten. Beim nächsten Hilariumzug, einem römischen Triumphzug passte ich auch die Trommler ins Sujet ein: wieder römische Legionäre, aber diesmal, wie es sich gehörte, mit weissen Röcken und roten Mänteln und einem Lederzeug aus braunem Kunstleder. So zeigten wir uns neben Schaffhausen und Bassersdorf auch an der Winterthurer Fasnacht und an der Fasnacht von Wettingen, wo wir die Spitze des Umzugs bildeten.

Wir setzten die Clairons wieder ein, verdoppelten sie später und ergänzten sie mit einem Bassclairon. Fanfaren erweiterten das Klangbild. Wir verwendeten kurze Fanfaren, also doppelt gefaltete, weil ich sie nicht von separaten Spielern, sondern von den besten Claironisten blasen liess, und diese somit bequemer zwischen den beiden Instrumenten wechseln konnten. Ich selber spielte ebenfalls Clairon und Fanfare, was aber währen einer Laufshow nicht möglich war. Dann liessen wir von Giannini nochmals zwei Tenortrommeln bauen und verdoppelten die Cimbale. Mit vierundzwanzig Spielern gab das ein stattliches Bild, das wir nur noch dann überboten, als der Dudelsack dazukam. Dazu mussten wir aber zuerst einmal «Schotten» werden.

Den ersten Schritt dazu machten wir mit dem dritten Hilariumzug, den ich inszenierte. Wir erzählten die Geschichte von Winnetou und wir ahmten die Bilder aus den Constantin-Filmen minutiös nach. Old Shatterhand und Winnetou glänzten sogar in Kostümen aus Kunstleder, gefertigt bis in die feinsten Details, genau wie im Film.

Die Trommlergarde aber wählte ein eigenes Thema und es war ja wirklich nur eine Frage der Zeit, wann uns dieses Thema einholen sollte: Schotten mit Kilt und allem Drum und Dran.

Meine Schwägerin Sonja und meine Schwester Esther schneiderten Schottenuniformen für alle Fünfundzwanzig – ich als Major, dessen Funktion ich inzwischen wieder selber übernommen hatte, mitgezählt. Was herauskam, war ein lustiges Kostüm – ein Kostüm für den Hilari eben: Der Kilt, eher ein Jupe, mit rotem Schottenmuster, aber natürlich keinem echten Tartan. Und anstelle der prachtvollen Schnallen für die Plaids brachten wir Deckel an von Mc Barens-Tabakdosen, auf denen zwei goldene Löwen prangten. Obwohl ich damals fleissig paffte, schaffte ich sie nicht allein mit meiner Tabakpfeife, aber im Filmklub in Zürich gab's einige, die ihn auch rauchten und die halfen tüchtig mit. An den Felltaschen aus Karton, verziert mit dem Signet der Trommlergarde, baumelten weisse und schwarze Wollfransen, die Gamaschen aus weissem Kunstleder gaben den letzten Pfiff und machten sich gut beim Marschieren. Als Jacken schliesslich bedienten wir uns schwarzer Rollkragenpullis mit aufgenähten weissen Borten an Kragen und Manschetten.

Aber auch akustisch führte uns ein anderer Umstand näher an das, was wir von den schottischen Pipe- and Drumbands so gehört hatten und prägte schliesslich unseren ganz eigenen Stil: Die Kinder spielten jetzt, da sie vom Tambourengroove wegkamen, wieder zu schnell. Irgendwann stellte ich das vor allem beim Marschieren fest. In diesem Tempo bringt man ja gar keine Fünferrufe hin, die sich beschleunigten, wie das bei Tambouren hierzulande üblich war. Auch den Schlepps fehlte der eigentlich typische Vorschlag. Ich versuchte, das zu bremsen, bis ich eines Tages feststellte, dass auch die Schotten so schnell trommelten und die Wirbel nicht beschleunigten, sondern schnurgerade durchzogen, wie mit einem Maschinengewehr.

So kreierte ich neue, eigene, viel schnellere Märsche nach schottischem Vorbild, die «Langwieser Strassenmärsche». Wir lernten, das Tempo immer einzuhalten, egal, ob wir uns schnell bewegten, oder langsam, oder gar nicht. Einzig die Grösse der Schritte galt noch als variables Mass. In der Presse konnten wird bald einmal von der Langwieser Trommlergarde lesen, die immer mehr ihren eigenen Stil entwickle. Recht so.

Und das schätzten einige Veranstalter auch an uns. Die Fasnachtsgesellschaft von Robenhausen bei Wettingen zahlte uns eine grössere Gage als Erwachsenengruppen. Sie sagten: «Ihr seid die einzige Musikgruppe, die genau in dem Tempo marschieren kann, das wir vorgeben.» Immer fuhr an diesem mächtigen Fasnachtsumzug vorne ein Auto, das von hinten per Funk Weisung erhielt. Stand es, spielten wir stehend ohne aber aufzuhören die Füsse zu bewegen oder machten eine Figur mit der Laufshow, beschleunigte es, zogen wir aus, immer im gleichen Abstand hinter ihm her. In der Tat konnten das damals selbst militärerprobte Blasmusikanten nicht.

Die Laufshows allein genügten uns nicht mehr. Auch hatten wir das Konfettischlucken und die anschliessenden Bratwürste beim Krach von ohrenbetäubenden Guggenmusiken langsam satt, und strebten ein anderes Publikum an. Auf dem Platz und der immer mehr infrage kommenden Bühne musste eine Show her, die die Figuren auf den Plätzen ergänzte oder sogar ersetzte. Mir schwebte immer mehr ein grandioses Schlagzeug vor, das aus unserem gesamten Instrumentarium bestünde. Bass und Tenortrommel gab's schon mal. Die anderen Trommeln wollte ich aufteilen in Sopran- und Alttrommeln. Eigentlich hätten die Soprantrommeln kleiner sein müssen, um höher zu klingen. Nun waren aber mal schon gleichgrosse da, und ausserdem hätten mir die besten Spieler und diese wollte ich ja für Sopran einsetzen, nicht gerne mit kleineren Instrumenten gespielt. Das wäre gegen ihre Ehre gegangen – sie waren halt eben doch immer noch halbe Kinder.

So hängte ich Zargen von Tambourins, denen ich die Felle weggenommen hatte, unter die Schlagfelle von vier dieser Trommeln. Äusserlich wirkten sie noch immer wie vorher, klangen aber durch den geringeren Durchmesser des noch tönenden Fells viel höher. Jetzt konnte ich vierstimmig komponieren und vor allem Läufe spielen lassen, wie auf einem Schlagzeug. Nur, und damit kam der springende Punkt: Dort macht das ein und derselbe Spieler. Wie bringt man das aber hin, dass ein Lauf über verschiedene Drums auf einen Haufen Kinder verteilt, so durchfliessen kann, als spiele ein einziger?

Ich liesse bei solchen Läufen alle Spieler auf allen Instrumenten weiterspielen, nur sollten gewisse Schläge stumm sein. Wo dies der Fall war, kreuzten sie die Trommler entweder über dem eigenen Kopf oder gegenseitig mit den Schlägeln des Nachbarn, oder sie bewegten sie frei in der Luft, und so entstand gleichsam als Gratiszugabe eine virtuose Show. Die Tenortrommler hatten schon bisher ihre Schlägel auf- und abwirbeln lassen, oder mit ihnen beide Felle geschlagen, wobei sie die Zarge mit der einen Hand auf- und abdrehten und selbst der Bassdrumer kannte schon eine ganze Menge stummer Schläge, die auch immer attraktiv aussahen. Da ich das alles nicht dem Zufall überliess, sondern in der Partitur genau festlegte, klang das ebenso vortrefflich, wie es aussah. Diese mehrstimmige Besetzung erlaube es auch, sehr schnelle und komplexe Schläge auf mehrere Spieler aufzuteilen. So entstanden geradezu atemberaubende Rhythmen, die einer allein gar nicht hätte spielen können. Nebenbei bemerkt ist das, heute nach mehr als dreissig Jahren, genau das Rezept, nach dem die inzwischen weltberühmte Basler Drumband «Top Secret» ihr erfolgreiches Süppchen kocht.

Wir lehnten manche Stücke an bekannte Hits an, wie In the Summertime» oder Popcorn» die damals die Charts belegten oder ich schrieb ganz eigene, neue Stücke. Bei diesen Konzerttiteln verwoben wir die Clairons und Fanfaren direkt mit den Drums oder holten etwa mit dem Clairon-Dixie aus der Jungwacht zu jazzigen und rockigen Rhythmen aus und irgendwann komponierte ich einen Rock 'n' Roll mit dem Titel, «It's Rock 'n' Roll Time» für Drums und Clairons. Und, es war wirklich Zeit für den Rock ‚n‘ Roll. Denn im Schatten der Trommlergarde wuchs eine rockige Pflanze heran, die eines Tages leuchtender blühen sollte als diese.

Auch eine brasilianische Samba, namens «Brasilia» gehörte zu unserem neuen Programm. Hier spielten die Claironisten zusätzliche Instrumente, wie Waschbrett, einer Rätsche und Blechbüchsen und ich besetzte die Trillerpfeife. Um den typischen Sambarhythmus zu swingen, liess ich zwei verschiedene Rhythmen gegeneinander laufen, einen eher schleppenden und einen schnellen. Diese «Brasilia» mussten wir ab und zu nach frenetischem Applaus ein zweites Mal spielen. Dann fertigten wir vier verschieden tiefe Steeldrums aus Ölfässern, kauften Bongos und ein zweiteiliges Conga, Tambourine, Mambas. So hatten wir zu unserem eher klassisch-schottischen Teil, einen fröhlichen, rockigeren zweiten Teil und das kam toll an.

Wir peilten das Fernsehen an. Dafür wäre wohl die Sendung «Für Stadt und Land» mit Wiesel Gyr am ehesten in Frage gekommen. Diesem schrieb ich und bekam zur Antwort, dass viele bei ihm spielen möchten und er die Auswahl eher sporadisch vornehme.

Aber dann gelang es uns mit dem, was man «Vitamin B» nennt: In den 70er Jahren war Kurt Felix mit seiner Sendung «Teleboy» der grosse Star beim Schweizer Fernsehen. Nicht als Moderator, sondern als privater Amateurfilmer, kam er als Gast in den Zürcher Filmklub. Da ich zum harten Kern zählte, setzte ich mich beim anschliessenden Schlummertrunk neben ihn und sprach ihn auf die Trommlergarde an. Der Präsident Max Hänsli, selber auch bekannt vom Fernsehen, gab mir gehörig Schützenhilfe. Der Fernsehmann sagte tatsächlich zu, uns in Langwiesen zu besuchen.

Wir präsentierten uns auf dem Schulplatz in den blauroten Pagenkostümen. Die Laufshow gefiel ihm. Kurt Felix engagierte uns zwar nicht in seinen «Teleboy», sondern in die volkstümliche Sendung «Für Stadt und Land», die er diesmal für Wiesel Gyr zusammenstellte. Nun waren wir also doch drin. Bei der anschliessende Besprechung wählten wir den hinteren Saal des «Bahnhöfli», um allein zu sein. Da sich die Anwesenheit des Fernsehstars in Windeseile herumsprach, füllte sich der Saal allerdings in kürzester Zeit.

Das Schweizer Fernsehen zeichnete die Sendung auf Schloss Sonnenberg auf. Die TV-Kameras, damals noch kolossale Ungetüme, schoben die Assistenten samt den Kameramännern auf massiven Dollys über den Platz, und für den Blick von oben hatten sie einen gewaltigen Kran aufgestellt. Wir kamen auf die wahnwitzige Idee, nicht als Pagen aufzutreten, sondern als Schotten. Wir hätten es eigentlich besser wissen müssen. Denn kurz zuvor in Gailingen neben einer echten schottischen Pipeband aus Kanada auftretend, hätten wir sehen müssen, wie weit weg unsere Hilarikostüme von einer richtigen Schottenuniform lagen.

Das fand auch ein Zuschauer vor dem Fernseher, der ein eingefleischter Schottenfan, und wie sich später herausstellte auch -kenner war, und der mir einen recht bösen Brief schickte, was uns denn eigentlich einfiele, in solchen Lumpen aufzutreten. Das sei doch eine Verhöhnung der schottischen Tradition. Der Brief tadelte uns in allen Tönen, aber er kritisierte nicht die Musik, sondern nur das Kostüm. So schrieb ich ihm postwendend zurück, wir würden uns brennend gerne mit ihm darüber unterhalten. Er lud uns ein. Mit einem Auto voller Spieler fuhr ich an einem Sonntag ins Toggenburg, wo er wohnte und uns empfing und uns Kaffe machte.

Statt einer weiteren Schelte erzählte er mit Euphorie, wie damals Eigen Giannini, was zu einer echten Schottenuniform gehöre, und dass wir, wenn schon, etwas Rechtes anschaffen und uns und die Schotten nicht mit einem Fasnachtskostüm lächerlich machen sollten. Er kannte eine Firma, Hugh Macpherson in Edinburg und überliess uns einen Prospekt, den er eigentlich für sich besorgt hatte.

Ich bestellte Offerten aus Edinburg für alles, was wir bräuchten. Dann ging ich ans Rechnen. So viel Geld würden wir wohl nie zusammenbringen. Wie ich das bei den Kostümen für die Hilariumzüge getan hatte, überlegte ich nun, wie wir billiger zu dieser Uniform kämen, an der wir alle vollkommen den Narren gefressen hatten. Die Löwenköpfe am Plaid könnte Giannini für uns günstig herstellen. Die Gürtel mit den prunkvollen Schnallen, die Glengarys, Bandeliere, die silbernen Felltaschen aus echtem Rosshaar und die Gamaschen kämen von Macpherson aus Edinburg. Ich fand bei Jelmoli Damenkilts im roten Royal Stewart Tartan, die zwar nicht aus Schottland kamen, sondern aus London, dafür von der Stange. Ich sagte: «Ich bestelle dreissig Stück, wenn sie mir den gleichen Stoff in Ballen liefern können, so und so viele Meter.» Jelmoli fragte in London an und konnte ihn anbieten. Daraus würde meine Schwester die Plaids nähen, die erheblich weniger Stoff brauchten als die originalen, weil wir die Falten über der Brust nur andeuteten. Für die Kinder genügte das vollauf, denn ihr Oberkörper hatte auch nicht die Dimension, wie der eines schottischen «Kleiderkasten». Das Oberteil, was eigentlich die Jacke und somit das teuerste wäre, fertigten wir wieder, wie bei den Kostümen, aus Rollkragenpullover mit jetzt allerdings besseren und perfekteren Aufsätzen. Mit so viel Schottenstoff und Gürteln und Schnallen würde bei den Kindern doch kaum noch Schwarzes zu sehen sein. Ausserdem gab’s damit kaum Anpassungsprobleme.

Die Rechnung begann, besser auszusehen. Meine Mutter bot mir ein zinsloses Darlehen für einen Teil. Ich müsste jetzt nur noch einen Sponsoren finden. Vater, aktiv im Gemeinderat, schlug mir vor, bei der Gemeinde ein Gesuch einzureichen. Das tat ich, gut dokumentiert, mit Fotos und einer Kostenübersicht. Ich rechnete mit ein-, vielleicht zweitausend Franken. Der Gemeinderat bewilligte uns achttausend. Das deckte beinahe die Hälfte der ganzen Offerte. Unser Traum ging in Erfüllung.

Erwähnen möchte ich nachträglich: Wir vermochten das Geld für das Darlehen pünktlich zurückzuzahlen, verdient mit Auftritten, die uns mit dieser Uniform und der aussergewöhnlichen Show aus der ganzen Schweiz und dem nahen Deutschland buchstäblich zuflogen. Ein befreundetet Bankier empfahl uns, die Gage zu verdoppeln – wir bekämen dann die besseren Auftritte. Das taten wir auch, und der von ihm organisierte Gig war dann gerade der erste, dem wir den höheren Betrag abverlangten.

Aber so schnell ging's dann doch nicht. Alles, was wir in der Schweiz und in England bestellt hatten, war da. Die Schotten liessen auf sich warten. Wir setzten trotzdem einen Termin für die Einweihung der Uniform fest. Sie sollte in Langwiesen starten, in der Aula vom Schulhaus Stumpenboden mit vorangehender Laufshow auf dem Feuerthaler Fussballplatz ihren offiziellen Weiheakt erhalten, und dann als Höhepunkt auf den Fronwagplatz in Schaffhausen führen. Dazu holten wir eine Gastband, natürlich passend zu uns: die «Happypipers» aus Luzern, damals die einzige Schotten-Pipeband in der Schweiz. Ich druckte Plakate, wir warben über die Presse. Und der Tag kam näher, aber die Uniformteile aus Schottland nicht.

In der Woche vor der Einweihung telefonierte ich nach Edinburg  im Glauben, meine paar Brocken Englisch würden ausreichen. Es gab ein Fiasko. Immer, wenn ich etwas mühsam Aufgeschriebenes ebenso mühsam gestottert hatte, gab die freundliche Frau eine ebenso freundliche Antwort. Ich verstand jedes Wort – nur wusste ich nicht, was es hiess. Jemand im Betrieb, der besser englisch konnte, rief dann nochmals an: Die Sendung sei bereits unterwegs. Ich durfte hoffen.

Allein am Freitagmorgen fehlte jede Spur. Samstags gab's keine Post und am Sonntag sollte Uniformeinweihung sein. Ich war völlig am Boden. Das Zeug hätte in der Schweiz sein müssen, aber es erreichte uns nicht.

Mein Bruder Sigi hatte eine Idee. Er kannte vom Militärdienst den Chef einer Transportfluggesellschaft. Er rief ihm an und schilderte meine verzweifelte Lage. Der schickte einen Angestellten rüber zur Swissair und bat, ob er die Frachtbriefe nach unserem durchsuchen dürfte. Das durfte er. Mitten im Nachmittag das erlösende Telefon: Der Frachtbrief sei gefunden, ich könnte da und da mein Paket abholen, sie wüssten dort Bescheid. Sofort setzte ich mich ins Auto und sauste los, denn es blieb mir gerade eine gute Stunde, bis die den Laden dichtmachten. Ich wählte den Weg über Jestetten und Rafz, damals der direkteste Weg nach Kloten, aber natürlich über einen Zoll nach Deutschland und über einen Zoll wieder in die Schweiz.

Ausgerechnet jetzt musste ich den Kofferraum öffnen und was lag da: «Du heilige Scheisse»: lauter Pakete mit Ersatzteilen für Autos. Auspuffs, Stossstangen und dergleichen. Ich hatte am Morgen die Post geholt, und vor lauter Aufregung vergessen, diese aus dem Auto zu nehmen. Zum Glück glaubte mir das der Zöllner, samt meiner ganzen Uniformgeschichte, und liess mich fahren. Ich erreichte die Frachtausgabe in der letzten Viertelstunde vor dem Wochenende. Da stand mein Paket aus Schottland, riesengross und ... sie verlangten vierhundert Franken für den Zoll. Wohlgemerkt: zu einer Zeit, wo es weder Bankomaten, noch Kreditkarten für gewöhnlich Sterbliche gab.

Es war der absolute Zu- aber auch Glücksfall, dass ich Tage zuvor meine alte Philicorda Elektroorgel verkauft hatte - just für vierhundert Franken – und diese noch im Portemonnaie hatte. So stand ich endlich draussen auf dem Parkplatz, im Auto das Riesenpaket aus Edinburg, während sie hinter mir die Türen schlossen.

Kommunikation, wie heute mit Handys und Internet gab's noch nicht. Für meine Garde hatte ich ein sogenanntes «Rundtelefon» organisiert. Ich brauchte nur Dreien anzurufen, und die Meldung ging von Telefon zu Telefon durch, bis sie von den Letzten wieder bei mir anlangte. Am Freitagabend standen alle da in der Werkstatt und ich mass ihnen die Gürtel, die Bandeliere und die Felltaschen an. Alle viel zu gross und zu weit. Ich musste alles kürzen, die Löcher versetzen und die Schnallen neu einpassen. Ich markierte alles und arbeitete dann die halbe Nacht und den ganzen Samstag durch, schnitt, bohrte die Löcher mit der Bohrmaschine und vernietet alles mit Popnieten. Am Sonntag lag alles bereit. Nicht auszudenken, wie das ausgeschaut hätte, wenn wir ohne all das zur Uniformweihe hätten antreten müssen, vor allem neben den perfekt gekleideten «Happypipers».

Diese spielten nicht nur ihre Dudelsäcke, mit all den berühmten Weisen, wie Scotland the Brave» und Amazing Grace», sie schlossen sich auch unserer Laufshow an, die wunderbar klappte. Hinter mir folgten dreissig «Schotten». Es prägte sich als bleibendes Erlebnis ein, vor allem das Konzert auf dem Schaffhauser Fronwagplatz. Das Geld reichte dann sogar noch für ein Nachtessen im «Löwen» in Langwiesen, wie sich das für eine richtige Unformeinweihung auch gehörte.

Jetzt folgten die Buchungen immer häufiger, nicht selten sogar für zweimal in ganz verschiedenen Städten am gleichen Samstag, zum Beispiel um acht Uhr in Einsiedeln im Theatersaal des Klosters und gegen Mitternacht im «Casino» in Winterthur als Abschluss einer Offizierstagung. An diesem Abend hörten man zum ersten Mal: «The Royal Stewart Show Drums & Clairon Band» aus den Lautsprechern. Den Namen hatten wir vom unserem roten Tartan abgeleitet, der in Schottland hauptsächlich von königlichen Bands getragen wird und «Royal Stewart» heisst. Die Militärs waren begeistert, klar so was gefällt Offizieren und sie stampften mit den Füssen auf den Boden. Sogar ein Brigadier soll mitgestampft haben. Meine grösseren Jungs, solche Bühnenauftritte bereits gewohnt und wohl wissend, wie man den Applaus verlängern kann, rissen den Vorhang auf und zu, und auf und zu, und das Publikum klatschte und tobte.

Den Auftritt in Einsiedeln im Kloster verdankten wir einem anderen Auftritt, bei dem Pater Kassian Etter - der Sohn vom früheren Bundesrat, nebenbei bemerkt - uns bereits in Zürich gesehen hatte: Die Organisatoren der Schweizermeisterschaft der Filmamateure, die «SAFIT», wie sie damals hiess, an der Pater Kassian, aber auch ich mit einem Film mitstritten, hatte uns mit einem speziellen Auftrag engagiert.

Schon im Herbst zuvor hatten wir mit der Band im Klostergut Paradies vierzig Clips von je 30 Sekunden gedreht, die dann als Signet die einzelnen Filme ankündigten. So gewöhnten sich die Festivalbesucher und Autoren während zweier Tage Stück um Stück an die «Royal Stewart Band», glaubten aber, das sei irgendwo in einem Schlossgarten in Schottland gedreht worden.

Beim Apéro am Galaabend zum Bankett vor der Siegerehrung aber, öffneten sich die grossen Schiebetüren im «Spirgarten» in Zürich und genau diese vermeintliche Band von drüben aus der Insel präsentierte mitten im Saal, beleuchtet von Kerzenlicht, ihre jetzt zusammenhängende Laufshow. Weil mich viele als Autor von Wettbewerbsfilmen kannten, waren sie überrascht, mich als Drummajor zu sehen. So liess ich es mir nicht nehmen, bis zur Preisverleihung die Schottenuniform zu tragen und mit ihr die Silbermedaille und die goldene Schere, die es damals erstmals gab, für meinen Spielfilm abzuholen, bei dem selbstverständlich auch einige der anwesenden Kinder als Schauspieler mitgewirkt hatten.

Einen ähnlichen Überraschungscoup landeten wir später einmal beim Militär in Herisau. Damals schleppten wir bereits einen eigenen Verfolgerscheinwerfer und eine Lichtshow samt einer Crew mit. Ein Veranstalter hatte uns für vier Auftritte innerhalb einer Woche in der Ostschweiz gebucht. Zwei davon fielen ausgerechnet in einen Ergänzugskurs in Herisau. So brauchte ich die Erlaubnis, an zwei Abenden das Areal zu verlassen und erst noch die Schottenuniform zu tragen.

Da wir ausserdem bereits mit «Black Angels» auftraten, hatte ich ein Gesuch eingereicht, um mit meinen langen Haaren einrücken zu dürfen. Ich hatte geschrieben, das wäre ein unabdingbarer Bestandteil unseres Images. Der Hauptmann antwortete, dem Gesuch werde stattgegeben unter zwei Bedingungen: 1. Ich müsse tagsüber ein Haarnetz tragen und 2. am Kompanieabend mit den «Black Angels» auftreten. Das Zweite ist natürlich nur ein Wunsch und kein Befehl», schrieb der Hauptmann in Klammern.

Ich antwortete ihm, «Black Angels» sei, abgesehen vom enormen Aufwand, für Soldaten nicht das Geeignete (es gab damals noch keine Militärkapelle, die einem abtretenden deutschen Verteidigungsminister «Smoke on the Wather» vorspielte). Ich hätte aber das Vergnügen, ihm einen viel passenderen Vorschlag zu machen und würde ihm die Trommlergarde anbieten, die ohnehin an diesem Abend, allerdings erst um etwa 10 Uhr, in Frauenfeld aufzutreten habe und im Übrigen auch am Tag zuvor in Rorschach, wozu ich ebenfalls Bewilligungen bräuchte. Die Band würde für den Kompanieabend in Herisau gratis auftreten, sollte aber verpflegt werden, weil sie doch schon am früheren Abend ankäme. Der Hauptmann, Feuer und Flamme, sagte allem zu und, klar würden die Kinder verpflegt und, klar dürfte ich in der Schottenuniform an die entsprechenden Auftritte reisen. Ausserdem war es mein fast ausschliesslicher Job in diesem EK, im «Team zur Vorbereitung des Kompanieabends» mitzuwirken. Das tat ich natürlich gerne. Ich musste dafür auch nirgends im Dreck rumkriechen.

Die Trommler kamen mit einem Reisecar und dieser fuhr hinten ans «Casino» in Herisau, wo sie unbemerkt auf die Bühne gelangten. Dort standen ein reich gedeckter Tisch und eine eigens abkommandierte Fassmannschaft. Während draussen die Soldaten Riz Casimir speisten, taten wir auf der Bühne das Gleiche. Zwar hatte ich bei den Kameraden viel von meiner Trommlergarde erzählt, aber ich hatte sie glauben gemacht, ich sei bereits nach Frauenfeld abgefahren, und wirklich niemand ahnte, was ihnen bevorstand.

Wir kamen tierisch an und der Applaus waren tosend - die nachfolgenden Programme dann allerdings von uns auch mit Wucht an die Wand gespielt. Der Hauptmann war stolz, weil aus seiner Kompagnie einer eine solche Show hingeschmissen hatte, und ich konnte fortan alles haben, was man in so einem Militärdienst zum besseren Aushalten brauchte.

Eine Zeit lang erklang auch bei uns Scotland the Brave» und Amazing Grace». Heidi aus Neftenbach beherrschte den Dudelsack vortrefflich und wirkte als Piperin in der Band. Mit ihr spielten wir an einer Militärmusikshow auf dem Flugplatz Dübendorf. Es sollte unsere wohl grossartigste Laufshow werden. Kurz zuvor schwitzte ich allerdings Blut, denn ich hatte unsere Truppe doch ein wenig überschätzt. Der Veranstalter engagierte uns auf einen Werbeflyer hin, den ich an verschiedene Adressen versandt und in dem ich unsere Show, als professionelle Show angepriesen hatte. Das ganze Engagement erwies sich als ein Treffen von vier Korps aus vier Ländern, wobei drei der Bands Profibands und wir eben wir waren: Eine Militärband aus Frankreich, eine Militärband aus Deutschland, eine Militärband aus den USA und - in der Programmbroschüre klang das ebenso professionell, wie hochtrabend: «The Royal Stewart Show Drums & Clairon Band» aus der Schweiz.

Am Telefon versuchte ich, diesen Tusch etwas herunterzuspielen, und das hätte uns beinahe den Auftritt gekostet: «Wow, alles Profibands, hoffentlich können wir denen das Wasser reichen.» Barsch bekam ich die Antwort: «Sie haben doch gesagt, Sie seien professionell.» «Ja, klar», sagte ich schnell, Das sind wir auch». Bescheiden zu sein, ist in solchen Fällen manchmal gefährlich.

Aber jetzt mussten Nägel mit Köpfen eingeschlagen werden. Als wir ankamen, glitzerte es auf den Tribühnen nur so von Goldlaub und dicken goldenen Nudeln. Bei einem der vier Fahnenmasten aufgestellt, repräsentierten wir die Schweiz, während vier Fallschirmjäger herunterglitten und die jeweiligen Landesfahnen überbrachten, die dann an den Masten emporschwebten. Alle standen sie stramm und in Achtungsstellung, nur wir nicht. Und erst da erkannte ich den Ernst der Lage.

Das Showlaufen begann. Die Franzosen in schnellen Schritten mit schnittigen Claironeinsätzen, die Deutschen mit perfektem Spiel à la «Preussens Gloria» und die Amerikaner mit von swingenden Schwarzen eingelegten Soli. Ich sah unsere Dürftigkeit.

Blitzartig beorderte ich die Kinder hinter ein Hangar, erklärte einem Mädchen, das nicht gut genug im Schritt gehen konnte, dass es wohl oder übel für die Laufschau aussetzen müsse – es war darüber sogar ganz froh - und probte mit den anderen knallhart in Vierer- statt Fünferkolonne nochmals alle Figuren und Wechsel. Auf die Felle schlagen durften wir natürlich nicht, das hätte man gehört, aber wir fassten wieder Mut.

So zogen wir in die Arena ein, ich als Major voraus, hinter mir der Dudelsack und dahinter die Band, und wir legten eine der perfektesten Laufshows hin, die wir je geliefert hatten. Die Begeisterung war frenetisch. Was uns von den Profis unterschied, aber auch die Differenz zu ihnen wettmachte, war die jugendliche Frische, und Militärs, so zeigte es sich einmal mehr, schwören auf stramme Disziplin, besonders, wenn sie von Schulkindern geboten wird. Wir hatten es geschafft.

Die Laufshows boten den Heranwachsenden auch manchmal Gelegenheit, etwas zu tun, was sie unter anderen Umständen niemals hätten tun dürfen. Sie nannten es «Aufräumen» für das anschliessende Konzert. So traten wir einmal zwischen zwei Blöcken der Stadtmusik auf dem Schaffhauser Fronwagplatz auf die Bühne - spielend mit Laufshow versteht sich - und da die alten Herren zwar alle ihre Instrumente samt den Stühlen weggetragen, ihre Bierbecher aus Plastik aber auf der Bühne wohl vergessen hatten, lange nicht alle leer, war es verlockend, diese mit den Schuhen - rein zufällig selbstverständlich - von der Bühne zu kicken. Und plötzlich war die Spielfläche leer.

Auch prominenten Stars zeigten die Kids mittels weitausholender Lauffiguren ganz sanft, wer jetzt da oben das Sagen hatte, wenn sie auf die Bühne traten. Die Sängerin Paola, die Gattin von Kurt Felix, brachte sich einmal ziemlich schnell in Sicherheit, als sie glaubte, ihre Popularität sei ausreichend, um auf der Spielfläche zu bleiben, als die Langwieser antrabten.

Das waren so die kleinen Spässe, die ich ihnen erlaubte, und die bei den Kindern immer toll ankamen. Einmal aber meinte ich es todernst: Wir spielten an einem Sommernachmittag in Rüschlikon auf Gottlieb Duttweilers Park im Grünen. Die Sonne brannte und wir marschierten in unseren wollenen Kilt und Plaids, während die Leute in Badehosen überall am Rand des Rasens lagerten und uns zuschauten. Da gewahrte ich zwei junge Männer in meinem Alter, die aufsprangen, mich anstierten und lachend zueinander sagten: «Ja, tatsächlich, er ist es». Ich erkannte zwei ehemalige Mitschüler der Schule für Soziale Arbeit, wo mich Jahre früher Lehrer und Schüler in gleicher Art solange gemobbt hatten, bis ich das Studium an dieser Institution aufgab. Sie setzten sich wieder, sich weiterhin belustigend, denn schon damals hatten sie über meine Freude am Trommeln gespottet.

Ich entschied mich spontan zu einer Rache. Ich steuerte in den Rasen hinaus und machte einen englischen Kontermarsch. Der englische Kontermarsch benötigte ganz wenig Platz zum Kontern, auch direkt vor einem Hindernis.

Beim amerikanischen Kontermarsch hingegen brauchte er einige Meter Platz, weil sich hier die Spieler nicht einfach um 180 Grad drehten, sondern die linken und die rechten Kolonnen im Halbkreis gegeneinander marschierten, aneinander vorbei und erst dann wieder gerade aus.

Ich steuerte nun mit meiner donnernden Phalanx direkt auf die Beiden zu, die noch immer hämisch grinsend in Badehosen dahockten und sich freuten, den blöden Kerl von damals ausgerechnet beim Trommeln mit den Kindern wiederzusehen. Ich setzte den amerikanischen Kontermarsch direkt vor ihnen an. Als Major blieb mir noch Platz genug zum Umkehren. Ich schaute nicht zurück, ich wusste, was jetzt gerade geschah und ich hörte auch ein gewisses Chaos für einen Moment im Spielrhythmus. Aber als ich draussen auf dem Rasen umkehrte, um den Erfolg zu prüfen, hingen die Beiden mit weit aufgerissenen Augen und Mäulern direkt vor einem ziemlich schrägen Abhang an den Ästen eines Gebüsches. Die Trommler sagten nachher, hier hätte ich mich wohl in der Distanz verschätzt. Ich klärte sie auf. Mir tat das unheimlich gut, und das tut es noch heute, obwohl das nur eine kleine Revanche war für eine Zeit, die ich lieber nie erlebt hätte.

An Fasnachtsumzügen nahmen wir eigentlich schon lange nicht mehr teil. Und das von mir verlangte anschliessende Essen für die Kids stellte zwar keine Vorgaben, aber es sollten mittlerweilen längst nicht mehr Bratwurst und Brot sein. Manchmal tafelten wir geradezu in vornehmen Restaurants und ich brauchte mich nie zu schämen. Im Gegenteil, immer wieder lobten mich Veranstalter, wie diszipliniert meine Mädchen und Buben seien. Das war nicht selbstverständlich, hatte aber auch mit unserem Projekt zu tun. Ohne glasklare Disziplin wäre ein solches Unternehmen nicht möglich gewesen. Das wussten sie und haben es respektiert. Ich holte auch tatsächlich viel aus ihnen heraus: Wöchentlich gab's für alle zwei Proben: am Montag zuerst Laufshow mit der ganzen Band auf dem Schulhausplatz und dann Konzertprobe im Schulzimmer. Die einzelnen Register traten zu einer weiteren Probe an und die Solisten zu einer dritten. Für mich gab das, zusammen mit der Ausbildung der Anfänger, die noch nicht mitspielen durften, dreizehn Proben pro Woche. Alles vor 20 Uhr. Dafür durfte ich, mit der an einer Elternversammlung ausgesprochenen Erlaubnis, an Samstagen Auftritte buchen, ohne sie zuerst anfragen zu müssen, sofern wir bis 02 Uhr wieder im Dorf wären. Das war schon ein grossartiges Vertrauen. Ich weiss nicht, ob das heute noch möglich wäre.

Es gab aber, wie in jedem Schauspiel auch hier Antagonisten: neidische Lehrer, die in der Schule gegen mich hetzten, wobei mir das die Schüler hinterher immer brühwarm erzählten und paragrafenbesessene Schulpfleger, die krampfhaft nach Gesetzen suchten, die unsere abendlichen Auftritte als illegal erklärt hätten. Aber erstens waren sie in der Minderheit, zweitens gelang es ihnen nie, mir etwas zu verbieten und drittens habe ich sie, im Gegensatz zu allen schönen Erlebnissen, bereits aus meinem Gedächtnis ausgeblendet und verzichte darauf, sie in diesem Bericht zu verewigen.

Auch mit den Feuerthalern arrangierten wir uns im Laufe der Jahre. Anfangs gab‘s noch pubertäre Hänseleien auf den Schulplätzen, denn die Feuerthaler Tambouren blieben immer Tambouren und gehörten dem Tambourenverein Schaffhausen an. So nahmen sie teil an Wettstreits und Tambourentreffen. Wir taten das nicht. So höhnten die Feuerthaler: «Habt Ihr schon mal an einem Tambourentreffen teilgenommen?» «Nein? Noch nie?» «Ist auch besser so, Ihr würdet auf dem letzten Platz landen.» «Ihr könnt ja nicht mal einen richtigen Fünferruf!» Nun, meine Kids, auch nicht auf den Mund gefallen, erwiderten in aller Ruhe: «Wir kommen sofort an Euere Tambourentreffen, vorausgesetzt, wir werden engagiert und bezahlt.» Das war ja nun doch der Gipfel des Hochmuts für die Tambouren des grösseren Dorfes der Gemeinde, und sie gingen mit ungläubigem Kopfschütteln ihre Wege.

Aber genau das passierte eines Tages. Die Veranstalter eines zweitägigen Treffens der Jungtambouren holten uns für eine Show am Abend nach Uster. Sie wollten damit ihren Mitgliedern zeigen, wie man auch mit anderen Stilmitteln als den traditionellen trommeln kann. Aber etwas demütigend für das Nachbardorf musste es dann doch gewesen sein, als wir im Reisecar ankamen, unsere Show gaben, auf Kosten des Veranstalters im Restaurant tafelten und anschliessend wieder mit einer Gage im Sack abreisten, während sie, im Massenlager einquartier, vor Ort übernachteten. Wir kamen ganz gut an, wenn man bedenkt, dass wir uns da in der Höhle des Löwen befanden. Einzig der Schaffhauser Instruktor vermochte seine Emotionen nicht ganz im Griff zu halten und rief «Buhhh!» in den Applaus hinein. Dafür revanchierten sich dann meine Spieler, indem sie vor dem Abreisen die Feuerthaler höflich und scheinbar interessiert fragten, ob sie der Jury ihre Fünferrufe schon vorgespielt hätten.

Aber dann kam langsam die Zeit, wo wir uns versöhnten. Im Grund genommen hatten wir es auch gar nicht mehr nötig, uns hier irgendwie aufzuspielen. Anderseits anerkannten sie inzwischen unseren Erfolg. Und als wir dann eines Tages in der untersten Halle unserer Garage eine Diskothek steigen liessen, und sie ohne Vorbehalte samt Freundinnen dazu einluden, und sie trotz Skepsis alle anrückten, schafften wir einiges an Vorurteilen aus dem Weg. Dieses Rezept sollte sie in späteren Jahren dann auch wieder bewähren, wenn wir als Rockgruppe «Black Angels» in Langwiesen Partys feierten und immer just die Schweizer Rockband dazu einluden, die uns bisher am meisten bekämpft hatte.

Der einzige Konkurrenzpunkt zwischen den Feuerthaler und der Langwieser Trommlern lag noch bei der Hilariaufführung der Schulen für die Erwachsenen am Donnerstagabend in der Turnhalle. Welche der beiden Trommlergruppen dürfte da jeweils auftreten? Am nächsten Hilari stand darüber nichts im Programm und wir überraschten die Bevölkerung mit einem gemeinsamen Auftritt, den wir bis zum Öffnen des Vorhangs geheim gehalten hatten.

Wir finanzierten uns voll aus den Gagen. Die Kinder bezahlten keinen Mitgliederbeitrag. Zerbrachen Schlegel, gab‘s neue. Allerdings hätte ich es nie zugelassen, dass sie auf etwas anderem als auf den Trommelfellen gespielt hätten. Und selbst dort wurde nur gespielt, wenn es offiziell war - keine Dudeleien und Probierereien vor den Auftritten, wie das bei solchen Gruppen üblich war. Traten wir hinter einem Vorhang auf eine Bühne, hörte kein Mensch auch nur einen leisen Schlag.

Und Absenzen? Dieses Wort kannte ich nicht, ausser es war einer krank. Im Gegenteil, es gab sogar Eltern, die meinten, ihre Kinder nur damit strafen zu können, indem sie ihnen die Teilnahme an den Proben verboten. Kam das vor, liess ich die Garde allein weiterüben, setzte mich ins Auto und holte das Kind zu Hause ab. Das war keine Strafe für das betreffende Kind, das war eine Strafe für uns alle und ein Unsinn obendrein und das machte ich solchen Eltern dann klar.

Bezahlen mussten die Trommler auch nichts, wenn wir einmal im Jahr gemeinsam eine Woche in die Ferien reisten. Meistens mieteten wir irgendwo im Sommer eine Skihütte, etwa in Flums, nahmen zwei Mütter als Köchinnen mit und genossen Ferien mit Wandern, Geländespielen, Schwimmen im nahen Hallenbad oder Glacéschlecken in einem Bergrestaurant. Als Jungwachtführer hatte ich genügend Lager durchgeführt, um zu wissen, wie die Laune einer solchen Gesellschaft hochgehalten werden konnte.

Die «Royal Stewart Show Drum & Claironband» stand auf ihrem Medium Coeli und nichts hätte sie zu stoppen vermocht, hätte sich nicht aus ihr selbst heraus etwas ganz Neues entwickelt, das aber gleichzeitig zu ihrem Niedergang führte: Ich hatte von Anfang an am Grundsatz festgehalten: Alle Spieler müssten Schüler der Volksschule sein, also Primar- oder Oberstufeschüler. Ab neun durften sie mitmachen, kamen sie zur Schule heraus, mussten sie aufhören. Das garantierte mir immer eine reine Schülerband, was für den Erfolg sehr wichtig war. Anderseits galt es jedes Jahr Abschied zu nehmen von den Besten und ich war gezwungen, wieder unten anzufangen. Das gehört zur Arbeit mit der Jugend.

Aber ich hatte eines Tages die Vision, eine zweite Band mit jungen Erwachsene aufzubauen, die eine rockigere Art von Drumshow hinlegen könnte, als Ergänzung zur Schülerband. Das begann ich mit einem abtretenden Jahrgang dann zu realisieren, ohne vorerst eine Ahnung zu haben, was dabei herauskommen sollte. Mit Walter Leu, Urs Bührer und Erwin Reber setzt ich den Anfang. Wir stellten zunächst aus unseren Marsch- und Tenortrommeln so etwas wie ein Schlagzeug zusammen, verwendeten auch Bongos und Congas, und legten los. Anstelle dieser zusammengewürfelten Trommeln stand dann eines Tages ein richtiges Schlagzeug da, während Walter sich daran machte, Bassgitarre spielen zu lernen und ich ein transportables Keyboard kaufte.

Wir nannten das Unternehmen Quod Libet» und es mauserte sich schon nach kurzer Zeit eher zu einer Rockband als zu einer Drumband, und obwohl wir noch absolut fürchterlichen Krach produzierten, machten wir bereits Auftritte. Als Harry Sprenger von der Konzertagentur «Free & Virgin Agency», welche auch die gerade aufstrebenden «Krokus» managte, «Quod Libet» entdeckte und zu «Black Angel» ummodelte und wir mit einem aus England angeheuerten Sänger namens Clive Murray die erste Langspielplatte einspielten, stellte sich fast über Nacht ein schweizweiter und später internationaler Erfolg ein, der meine ganzen Kräfte forderte und ich musste diesem hoffnungsvollen Unternehmen alles, leider auch die Trommlergarde, opfern. Ich tat das schweren Herzens, aber «Black Angels» bekam fortan meine ganze Energie. «Black Angels», das ist wieder eine andere Geschichte, aber hier sind die Berührungspunkte. «Black Angels» ist tatsächlich direkt aus der Trommlergarde hervorgegangen, und diese musste nun über die Klinge springen.

Nachfolger als Leiter waren keine in Sicht. Wer dazu fähig gewesen wäre, gehörte ja zu «Black Angels» und war damit ebenso engagiert, wie ich. Ausserdem sagten die Kinder spontan und unmissverständlich, ohne mich wollten sie auch nicht mehr weitermachen. Ja, und so kam der Tag mit dem Abschiedskonzert im «Schaffhauserhof» für die «Royal Stewart Show Drum & Claironband», die in Langwiesen und weit über Langwiesen hinaus Dorf- und Musikgeschichte geschrieben hatte.

 

Nachtrag

Heute, gut dreissig Jahre später, gibt es in Langwiesen wieder eine Trommlergarde - sie heisst tatsächlich immer noch, oder wieder wie ursprünglich «Trommlergarde». Zwei Ehemalige, ein Mädchen, das damals noch zu den Kleinsten, aber gleichzeitig auch zu den besten gehört hatte, und ihr Nachbar haben sie neu aufgezogen und ihre eigenen Söhne spielen dort mit. Sie klopfen die Ordonnanzmärsche eins bis sechs und gehen an den Hilari und an die Schaffhauser Fasnacht. Die prachtvollen Trommeln sind teilweise sogar noch vorhanden, sie verwenden aber auch Baslerkübel. Wo die schmucken Schottenuniformen hingekommen sind, weiss niemand mehr.

Für mich ist diese grossartige Ära meines Lebens aber längst abgeschlossen. Mit dem Eintauchen in die Welt des Rock ‚n‘ Roll hatte ich die Trommelschlägel für immer beiseitegelegt und fortan nur noch mit Tasteninstrumenten musiziert – nicht weniger intensiv, notabene. Da würden auch keine Streiks und Proteste mehr etwas ausrichten. Heute machen fast alle Blasmusiken, Tambourenvereine und Clairongarden Shows und Marschformationen. Heute gibt es sogar im traditionellen Basel eine Drumband von Weltformat, die grössere und perfektere Shows hinlegt, als wir es je vermochten, weil wir immer nur eine reine Schülerband waren. Die Feuerthaler Tambouren spielen heute am Hilari zusammen mit Schlagzeug und Rockgitarre und sagen, das gäbe es so noch nirgends. Ich finde das gut: Sie machen das, wofür ich früher einmal mein ganzes Herzblut hergab. Klar es hat halt noch ein paar Jährchen gedauert, bis sie auch so weit waren.

Ja, und dann hole ich mir gerne die alten Fotoalben hervor und träume von damals

➥ Siehe auch die spezielle Seite mit dem Fotoalbum der Trommlergarde

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