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Ich habe das Christkind gefunden

Eine Weihnachtsgeschichte von Harry Greis

D

er Urgroßvater hielt an, um zu verschnaufen. «Ach Gott», dachte er, «die Stufen dieser Treppe bin ich schon leichter hinaufgestiegen.» Auch das Kind an seiner Hand war froh über die Pause, denn für das Vierjährige waren die Stufen hoch, und es gab an dieser Treppe, die da zum Mönchsberg hinaufführte, fürwahr viele, viele Stufen. Sie blickten auf die winterliche Stadt zu ihren Füssen. Gleich unter ihnen schlummerte die Universität, wohlbehütet von der Kollegienkirche mit ihren skurrilen, haubenlosen Barocktürmen. Östlicherseits, vom gotischen Minarett der Franziskaner leicht verdeckt, regierte der Dom, und nahe den schroffen Felsen behaupteten sich Kuppel und Zwiebel von St. Peter. Über allem thronte die Festung, die einstige Zufluchtsstätte für die Fürsterzbischöfe.

In den engen, verwinkelten Gassen mit den malerischen Torbogen und Passagen herrschte emsiges Treiben. Überall bewegten sich Menschen, die meisten hektisch, denn es war Heiliger Abend, und alle mussten noch dies und jenes besorgen. Nur die Sandler trieb keine Eile. Sie palaverten an den Straßenecken scheinbar gleichgültig und ohne sich am Betrieb zu beteiligen, aber sobald jemand in ihre Nähe geriet, machten sie sich an den heran, überhöflich grüßend und untertänig bettelnd, denn die bevorstehende Christnacht sollte lang und kalt werden, und da musste doch - nur zum Aufwärmen selbstverständlich - für einen Schnaps oder auch für zwei vorgesorgt werden. Viele Leute indessen genossen die warmen Stuben zu Hause und rüsteten die Christbäume, so auch die Mutter und der Vater des kleinen Mädchens. Der Urgroßvater, zum Fest vom Altersheim geholt, hatte hingegen die Aufgabe, mit dem Kind ein wenig durch die winterliche Stadt zu spazieren, bis alles bereit war. Ihm oblag noch ein anderer, wichtiger Auftrag:

«Opa, wooo ist jetzt nun das Chriiiistkind?»

Der Urgroßvater musste mit dem Mädchen nämlich das Christkind suchen. Darum hatte es gebettelt, und er hatte es ihm versprochen, und so setzten sich die Zwei wieder in Bewegung, den Rest der Stufen auf den Berg zu bewältigen.

«Ja, ja, das Christkind, es ist schwierig, das Christkind zu finden», seufzte der Urgroßvater, «ich musste es schon so oft in meinem Leben suchen - ist gar nicht leicht, gar nicht leicht, aber immer wollen die Kinder das Christkind suchen.»

Das Mädchen zottelte erwartungsvoll neben dem Urgroßvater her. Sie hatten jetzt das Plateau erreicht, und der Weg führte leicht geschwungen durch ein mit Kristall und Eis überzuckertes Hölzchen. Die schmiedeeisernen Laternen brannten bereits, obwohl es noch ordentlich hell war. Aber an diesem Tag sollte es bald eindunkeln. Der Urgroßvater zeigt hinüber an den Horizont im Nordwesten, wo eine klein erscheinende, doppeltürmige Kirche als heller Fleck gerade noch siIllustrastion von Harry Greischtbar im Dunst lag.

«Dort», sagte er, habe ich mit deinem Großvater, als er noch klein war, das Christkind gesucht. Dort hinaus ziehen immer ganze Scharen von Menschen. Es gibt dort ein Bild vom Jesuskind und seiner Mutter. Beide tragen Kronen, die sie vor mehr als zweihundert Jahren erhielten. Damals komponierte ein junger Musikus aus der Stadt eine Krönungsmesse, die heute noch ganz berühmt ist.

«Und, habt ihr das Christkind gefunden?»

«Leider ist etwas dazwischengekommen. Wir waren gerade angelangt, als uns eine ehemalige Kollegin von der Volksschule, an der ich damals unterrichtete, nacheilte und uns bat, ihr zu helfen. Es waren damals nämlich viele Menschen, ja ganze Familien mit Kindern aus Ungarn herübergeflüchtet, denn sie waren von den Russen unterdrückt worden und hatten einen Aufstand gemacht, der blutig niedergeschlagen wurde. So kamen sie auch zu uns, ohne ein Dach über dem Kopf und ohne Geld, und die Lehrerin flehte uns an, doch mitzuwirken, den Kindern dieser Familien, denen man in aller Eile eine Wohnung eingerichtet hatte, wenigstens am Heiligen Abend zu einem Christbaum zu verhelfen, damit auch sie Weihnachten feiern könnten, wie es sich für Kinder doch so gehörte. Die Lehrerin arbeitete dort draußen in einer kleinen Schule und hatte ihre Klasse zusammengetrommelt, und so halfen wir denn mit, kauften Christbäume und stellten sie auf, bastelten im Schulzimmer Strohsterne und Christbaumschmuck aus Goldpapier, während die Mütter Gebäck zu kleinen Geschenklein zusammenpackten. Kaum waren wir fertig, standen auch schon die Flüchtlingsfamilien da, und die Kerzen strahlten in den Kinderaugen. Ich werde nie vergessen, wie sich diese Kinder gefreut haben.»

«Und das Christkind?»

«Nun, die Suche nach ihm hatten wir ja abgebrochen, und nachher war es dann zu spät.»

Der Weg neigte sich. Durch die Bäume lugte eine mittelalterliche Mauer mit gezackter Brustwehr und einem massiven, rechteckigen Turm. Das Bürgerwehr sah aus diesem Winkel aus wie ein Königsschloss. Einen Moment lang stapften die beiden stumm nebeneinander durch den Schnee, der Urgroßvater nachdenklich, das Kind aufmerksam. «Vielleicht», dachte es, «wohnt das Christkind in diesem Schloss».

Aber sie kamen nicht soweit. Dort, wo der Weg ganz nahe an den jäh abfallenden Felsen vorbeiführte, tappelte ihnen verloren ein kleiner Junge entgegen, eine wollene Zipfelmütze schief auf dem Kopf, das eine Hosenbein im Stiefelchen und das andere außerhalb, und guckte die beiden mit großen Augen und offenem Mund ängstlich an. Und außerhalb des Geländers, nur einen Schritt vom Abgrund entfernt, stand eine Frau und blickte in die Tiefe. Noch hielt sie sich mit den Händen am Balken fest. Der Urgroßvater trat vorsichtig ans Geländer, die Frau rührte sich nicht. Ihr Blick war starr, traurig, tot. Der Urgroßvater musterte den Jungen und dann die Frau und wieder den Jungen und erkannte in den Gesichtszügen des Kindes die Mutter.

«Angela», sagte er und bemerkte ein leichtes Zittern am Körper der Frau. Sie hatte ihren Namen gehört und auch die Stimme erkannt, aber sie drehte sich nicht um. Sie war einst eine seiner Schülerinnen gewesen. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren. Das musste wohl mehr als zwanzig Jahre her sein.

«Angela», machte er nochmals und ging näher an sie heran, «ich freue mich, Sie wiederzusehen. Kennen Sie mich denn nicht mehr?»

«Lassen Sie mich bitte in Ruhe.»

«Es geht Ihnen schlecht, nicht wahr?»

Schweigen.

«Schauen Sie nicht da hinunter. Machen Sie keine Dummheiten. Kommen Sie hinter das Geländer zurück. Schauen Sie lieber ihren Jungen an.»

«Wie soll ich ihn anschauen, wenn ich ihn nicht ernähren kann?»

«Sie sind ohne Arbeit?»

«Ja.»

«Seit länger oder ganz frisch?»

«Sie haben mir im August schon gekündigt. Sie haben die Firma verkauft.»

«Und da war kein Platz mehr für Sie?»

Sie nickte und wischte sich Tränen aus den Augen. Dann lehnte sie sich doch wenigstens mit dem Rücken ans Geländer.

«Jetzt ist alles aus. Ich habe so lange gesucht und keine neue Stelle gefunden. Es sind einfach keine Stellen frei, und wenn es eine gibt, kommen zwanzig und wollen sie. Jetzt stehe ich auf der Straße. Das hat doch alles keinen Sinn.»

Der Urgroßvater war betroffen. Er ging ganz nahe an die Frau heran und berührte vorsichtig ihren Arm. Sie ließ es geschehen.

«Tun Sie’s nicht», sagte er und schaute mit ihr zusammen zur Pferdeschwemme, die weit unter ihnen neben dem Festspielhaus im Winterschlaf lag. Gleich daneben kamen wie Spielzeuge Autos aus dem Tunnel oder fuhren in ihn hinein, und die Menschen hasteten noch immer. Sie wussten nichts von dem Kampf, den da oben eine junge Mutter mit sich führte.

Er fasste den Buben am Arm und schob ihn ganz nahe zu seiner Mutter hin. «Was soll aus ihm werden? Er braucht doch seine Mami. Soll er einmal sagen, ich habe keine Mama, sie hat mich ganz allein gelassen, draußen in einer kalten Winternacht, damals an jenem Heiligen Abend.»

Sie schluchzte.

«Was sind sie von Beruf?»

«Habe in einem Büro gearbeitet.»

«Und wenn ich Ihnen hülfe.»

«Wer kann mir schon helfen?»

«Sagen sie das nicht Angela, ich kenne viele einflussreiche Leute und auch eine ganze Reihe Unternehmer. Mir fallen sogar ein, zwei Namen ein, die ich für sie angehen könnte.»

«Ich hab’s ja auch versucht.»

«Ich versuchte es für sie nochmals, wenn sie mir dafür versprechen, hinter dieses Geländer zu kommen und mit ihrem Jungen nach Hause zu gehen. Bitte warten sie dort, bis ich Ihnen Bescheid gebe. - Aber warten sie bitte wirklich. Eine gewisse Zeit brauche ich trotz allem. Ich ziehe sofort los, um es für Sie zu versuchen.»

Es gelang dem Urgroßvater tatsächlich, die junge Frau zu beruhigen. Sie stieg mit seiner Hilfe über das Geländer zurück auf den Weg, nahm ihren Buben bei der Hand und trat mit ihm den Heimweg an, mit hängendem Kopf und schlaffen Schultern zwar, aber doch mit einem kleinen Funken neuer Hoffnung. Der Urgroßvater hatte noch Adresse und Telefonnummer notiert und kehrte um. Das kleine Mädchen verstand nicht, was da soeben geschehen war und warum der Urgroßvater so plötzlich und zielbewusst wieder auf die Stadt zusteuerte.

«Wir werden die Suche nach dem Christkind kurz unterbrechen. Wir werden dafür jemand anderen aufsuchen, einen Mann, mit dem ich unbedingt sprechen muss», sagte er entschuldigend und schwieg ein Weilchen, ehe er fortfuhr:

«Genau so war es damals, als dein Vater noch klein war. Da waren wir auch unterwegs, um das Christkind zu suchen. Er konnte überhaupt nicht verstehen, warum ich mich plötzlich um den jungen Punk mit den grünen Haaren kümmerte, den wir betrunken bei den Katakomben von St. Peter gefunden hatten.»

Das Mädchen wusste nicht, was ein Punk war, noch was eine Katakombe sein sollte, es hörte den Urgroßvater einfach weitererzählen:

«Ich habe ihn gekannt und auch seine Eltern. Sie waren eine ganz normale Familie. Dann, eines Tages hat er die Haare grün und rot gefärbt, seine Kleider zerrissen, Sicherheitsnadeln durch die Ohren gestoßen und solch dummes Zeug gemacht. Es ist damals gerade diese Mode unter den Jugendlichen aufgekommen. Sie haben gesagt, sie hätten keine Zukunft und sie hätten auch null Bock auf irgend etwas. Er hat auch mit der Polizei zu tun gehabt, und als ihn der Vater aus dem Haus geworfen hat, ist er mit anderen Punks in anderen Städten herumgezogen, hat von Betteln und Klauen gelebt und hat irgendwo in Passagen, Parks und Toiletten geschlafen. - Pass auf, mein Kleines, da liegt Glatteis.»

Der Urgroßvater hielt das Mädchen fester an der Hand und sich selber an dem Eisengeländer, das hier, wo der Weg steil nach unten führte, entlang einer Mauer angebracht worden war.

«Als es dann gegen Weihnachten ging, trieb es ihn nach Hause. Er war ja noch ein halbes Kind. Mehrmals wagte er sich bis an die Haustüre seiner Eltern, aber er hatte nicht den Mut zu läuten. So zog er mit den Sandlern in der Stadt herum. Am Heiligen Abend schließlich übermannte ihn das Heimweh, er betrank sich, und so fanden wir ihn am Eingang zu den alten Gräbern hinten in der Felswand bei St. Peter.»

«Ist er gestorben?»

«Zum Glück nicht. Zuerst nahm ich ihn mit zu uns nach Hause.» Der Urgroßvater lachte: «Omi hatte gar keine Freude, als ich den zerlumpten, stinkenden und rülpsenden Kerl mitbrachte, aber dann hatte sie doch Mitleid mit ihm, fütterte ihn und ließ ihm ein Bad einlaufen, während ich zu seinen Eltern fuhr und mit ihnen zwei ganze Stunden lang redete, - was heißt, redete? - Wir stritten richtiggehend, bis sie endlich einwilligten und er nach Hause kommen und mit ihnen Weihnachten feiern durfte.»

Mittlerweile waren der Urgroßvater und das Kind unten in der Stadt angelangt. Durch die enge Getreidegasse wälzte sich eine Menschenmasse. Die beiden bemühten sich, zwischen den Leuten durchzukommen. Auf der Staatsbrücke blies ein eisiger Wind. Am Makartplatz betraten sie ein Haus. Obwohl der Urgroßvater ein bekannter und angesehener Mann war, musste er noch drei weitere Adressen ansteuern, bis er mit seinem Anliegen überhaupt Gehör fand. Offene Stellen für Bürokräfte waren zu der Zeit rar, und am Heiligen Abend hatten die Geschäftsinhaber erst recht kaum Zeit für ein Anstellungsgespräch. Aber es musste an diesem Tag noch geschehen, bevor die Frau erneut in Gefahr geraten konnte.

Doch dann hatte der Urgroßvater Erfolg. Er habe zwar nicht direkt eine Stelle offen, sagte der Geschäftsmann, ein ehemaliger Schüler von ihm. Erst im Frühling werde eine frei, aber er könnte ja trotzdem die neue Kraft schon einmal einstellen, um sie einzuarbeiten. Zwar wolle er dann noch Näheres wissen und die Frau solle den Antrittsbesuch nach den Festtagen schon noch nachholen, da aber er, der ehemalige Lehrer, bestätige, dass sie eine gute Schülerin gewesen sei und auch immer anständig, und da er durchaus Vertrauen in ihn habe, verspreche er ihr diesen Job heute schon, und er dürfe ihr ruhig anrufen und ihr das sagen, damit sie mit ihrem Jungen wenigstens in Ruhe Weihnachten feiern könne, und da sei ein Telefon, er solle das gerade von hier aus erledigen.

Als der Urgroßvater mit dem Mädchen auf die Straße trat, war es dunkel geworden. Das Treiben in den Gassen hatte nachgelassen, die Menschen waren nach Hause gegangen, Weihnachten zu feiern. Leise und sanft hatte es zu schneien begonnen. Die Kinderbeine war müde. So hob der Urgroßvater das Mädchen auf seine Achseln, hielt es an den Stiefelchen fest und trabte zurück in die Altstadt. Er hätte vor Glück ein Lied pfeifen können. Aber es plagte ihn auch das schlechte Gewissen. Einmal mehr hatte er sein Versprechen einem Kind gegenüber, mit ihm das Christkind zu suchen und es auch zu finden, nicht eingelöst.

«Weißt du was», sagte er, zur kleinen Reiterin emporschauend, «wir gehen doch schnell zu den Franziskanern hinüber, gewiss haben sie die Krippe für die Christmette schon aufgebaut, und dann darfst du wenigstens das Christkind in der Krippe schauen. Dann aber husch husch nach Hause, Papi und Mami werden sonst ungeduldig.»

Das Mädchen war einverstanden, denn nach dem unerwartet langen Spaziergang, den sonderbaren Ereignissen und dem, was der Urgroßvater da alles erzählt hatte, war ihm die Lust, noch lange nach dem Christkind zu suchen, - mindestens für dieses Jahr, - vergangen.

«Weißt du», tröstete der Urgroßvater, «auch ich wollte immer das Christkind sehen, als ich so klein war wie du, aber wir haben es halt auch damals nie gefunden.»

Bei den Franziskanern brannten Kerzen im hohen gotischen Chor. Sie waren die einzigen Menschen in diesem stillen Kirchenraum. Der Urgroßvater trug das Mädchen geradezu andächtig und feierlich zur Krippe hin. Es jauchzte auf, als es das Jesuskind im Stroh liegen sah, daneben Maria und Josef stehend, der Ochse und der Esel und die Hirten mit den Schafen auf dem Feld und oben der Engel mit der Freudenbotschaft. Der Urgroßvater hob das Kind von seinen Schultern und stellte es ganz nahe an diese Szene weihnachtlichen Geschehens heran. Während es mit leuchtenden Augen bei der Krippe verharrte, setzte er sich in eine Kirchenbank und schloss die Augen. Er war müde. Als er die Augen für einen kurzen Moment wieder öffnete und zur Krippe hinüberschaute, glaubte er unvermittelt, sich an das Gesicht des Jesuskindes zu erinnern. Irgendwie schienen ihm die Gesichtszüge ganz vertraut.

«Ach was», dachte er, «Kinder sehen immer alle gleich aus.»

Doch nein, dieses Gesicht war ihm in seinem Leben irgendwann und irgendwo schon einmal begegnet, es war wie eingebrannt in seinem Gedächtnis. Lange sann er nach. Und als er wieder die Augen schloss, sah er eine Begegnung aus seiner eigenen Kindheit: Er erinnerte sich, wie er als etwa Fünf- oder Sechsjähriger zur Weihnachtszeit mit seinem Zipfeljoggel im Arm, - einer gestrickten und mit Stroh ausgestopften Puppe, wie sie kleine Buben damals hatten - auf der Straße Menschen sah, zusammengetrieben wie eine Vieherde, begleitet von Männern in Uniformen und mit Gewehren. Diese Menschen hatten große, gelbe Sterne an ihre Mäntel geheftet und trugen Koffern in den Händen, und ihre Gesichter waren traurig.

Und er erinnerte sich an das kleine Mädchen mit den Zöpfen, das in Wollstrümpfen und einem roten Mäntelchen am Rande der Gruppe mitgeführt wurde. Es hatte weit aufgerissene Augen, und die Angst vor irgend etwas Ungewissem stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und dann begegneten sich ihre Blicke, und er, der kleine Junge, bemerkte, dass hier etwas Entsetzliches vorging, und er bekam Mitleid, eilte auf die Straße hinaus und drückte dem fremden Mädchen seinen doch so geliebten Zipfeljoggel in die Hand. Er erinnerte sich, wie er sofort unsanft weggerissen und angeschrien wurde, ob er eigentlich verrückt geworden sei, wie es einen Aufruhr unten den Zuschauern gab, während sich die Menschen mit den Koffern und dem Mädchen entfernten, wie er nicht im Geringsten verstand, warum er jetzt, wo er etwas Gutes getan hatte, gescholten wurde, und er erinnerte sich, wie man ihn und seinen Vater nur deshalb bald wieder laufen ließ, weil der Vater einen Polizisten gut kannte.

«Ja ja», der Urgroßvater nickte und schaute zum Christkind in der Krippe hinüber, «Auch damals war Heiliger Abend, und ich selber war mit meinem Vater auf der Suche nach dem Christkind, als diese armen Menschen unseren Weg kreuzten.»

Und jetzt sah er es ganz deutlich: Das Christkind in der Kippe glich jenem traurigen Judenmädchen, dem er den Zipfeljoggel geschenkt hatte, aufs Haar. Er schloss wieder die Augen, und sonderbar, jetzt sah er den grünhaarigen Punk, den er damals in der Katakombe aufgelesen hatte, und auch der wies dieselben Gesichtszüge auf. Doch, doch, es stimmte: Auch dieser verwahrloste Junge hatte dieselben Augen, dieselbe Nase, denselben Mund und dieselben Ohren, wie das Christkind, schmutzig zwar und durch die Sicherheitsnadeln und die Pickel zwischen dem sprießenden Bartflaum entstellt, auch älter und größer, aber unverkennbar. Und der Urgroßvater erinnerte sich wieder an die Flüchtlingskinder aus Ungarn und, tatsächlich, er konnte jetzt solange auf das Christereignis schauen, wie er wollte, auch diese Kinder hatten alle genau so ausgeschaut, wie das Kind in der Krippe. Er schüttelte den Kopf, um sich zu vergewissern, ob er auch tatsächlich wach sei.

Illustrastion von Harry Greis

Da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Es waren gar nicht die Kinder, die dem Christkind in der Krippe glichen. Nein, das Christkind vielmehr veränderte jedes Mal sein Aussehen, - immer, wenn er an eines der Kinder dachte. Ja, genau, jetzt sah es aus, wie der Junge von Angela, den er eben gerade davor bewahrt hatte, ganz allein auf der Welt zurückzubleiben und der jetzt mit seiner Mutter gewiss im Begriff war, Weihnachten zu feiern. Und vor den Augen des Urgroßvaters lief so etwas wie ein Lebensfilm ab, und er sah lauter Kinder, die in seinem Leben irgendeine Rolle gespielt hatten. Zuerst die Schüler, deren Lehrer er gewesen, mit denen er sich gefreut und an denen er sich auch geärgert hatte und die er alle beim Namen genannt hatte. Dann die endlose Schar von unbekannten Kindern, denen er auf seinen Reisen durch die Welt begegnet war, weiße, schwarze, braune, gelbe, blonde, rothaarige und dunkelhaarige, Buben und Mädchen, große und kleine, und so oft er aufschaute, hatte das Christkind in der Krippe die unverkennbar gleichen Gesichtszüge angenommen, und jetzt, wo er es bemerkte, lächelte es sogar in seinem armseligen Lager aus Stroh. Und ganz zuletzt erkannte er gar sein Urenkelkind in ihm, und das Mädchen lächelte ihn ebenfalls an.

«Komm», sagte er glücklich, «komm mein Kind, wir gehen nach Hause. Ich habe das Christkind gefunden.»

Das Mädchen lächelte noch immer, als es der Urgroßvater auf seine Schultern hob und jetzt tatsächlich ein Lied pfeifend durch die weihnachtlich beleuchteten Straßen trug. Andere Menschen, die ebenfalls noch unterwegs waren, blieben stehen und drehten sich nach dem fröhlichen Gespann um und lächelten ebenfalls. Und als eine Frau wissen wollte, ob etwa das Christkind schon vorbeigekommen sei, da sagte er, ohne auch nur einen Moment zu zögern:

«Ja.»

Und fast beschämt fügte er ganz leise hinzu:

«Mein ganzes Leben habe ich nach dem Christkind gesucht und ich hätte es längst finden können, wenn ich auch nur ein einziges Mal hingeschaut hätte.»

Harry Greis