Kein Stern ging auf am Himmel

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Kein Stern ging auf am Himmel

Eine Weihnachtsgeschichte von Harry Greis


Geht diese Straße lang. Nach der Kuppe führt sie durch ein kurzes Waldstück - in zwanzig Minuten seid ihr im Dorf. Ich muss weiter, bin in Eile, wünsche schöne Weihnachten.» Der Autofahrer kurbelte das Fenster hoch.

«Frohe Weihnachten», rief ihm das jugendliche Paar nach, «und vielen Dank fürs Mitnehmen.»

Patrick und Yolanda standen noch einen Moment an der einsamen Abzweigung und schauten dem kleiner werdenden Auto nach. Bis hierher hatten sie Glück gehabt. Immer konnten sie bei jemandem aufsitzen. Das letzte Wegstück nun führte durch eine abgelegene Gegend. Die Hauptstraße zum Dorf lag auf der andern Seite. Kein Haus weit und breit. Über den Feldern, Wiesen und Bäumen lag eine zarte Schneedecke. Der Himmel verbarg sich hinter sanften Schleiern. Es war am Nachmittag des Heiligen Abend, und es sollte früh eindunkeln. Eng umschlungen machten sich Patrick und Yolanda auf den Weg.

«Wenn uns dein Vater nicht will, was dann?», sagte das Mädchen, nachdem sie bereits eine Strecke zurückgelegt hatten. Sie fror. War auch kein Wunder: die leichten Stiefelchen gaben nicht besonders warm und der schluttige Rock, der ihr um die Beine flatterte, schon gar nicht. Wohl trug sie einen Mantel, aber der war aus billigem Polyamid und hatte außerdem schon bessere Tage gesehen.

«Er wird uns aufnehmen», beruhigte Patrick und drückte seine Freundin näher an sich heran, «er kann doch seinen Sohn nicht einfach auf der Straße stehen lassen.»

Auch das, was der Junge auf sich trug, war nicht für eine längere Expedition in den Winter geschaffen. Zwar gaben die Bluejeans wärmer als Yolandas Rock, aber sie waren eng und an manchen Stellen fast durchgewetzt. Die Lederjacke hatte wenigstens einen Reißverschluss bis ganz nach oben, aber die ausgelatschten Turnschuhe passten ganz und gar nicht auf diese überfrorene Landstraße.

«Illustrastion von Harry GreisDein Vater hat sich bis heute nicht groß um dich gekümmert. Hat er dich irgendwann besucht?»

«Früher schon. Da war ich allerdings erst fünf. Als meine Mutter auf Nimmer wiedersehen verduftete und sie mich in das Heim steckten, kam er manchmal vorbei. Einmal holte er mich sogar in die Ferien.»

Das mit den Ferien hatte aber bald aufgehört, und Besuche von daheim bekam Patrick immer seltener, bis sie eines Tages ganz ausblieben. Jetzt war er achtzehn. Ein Jahr älter als Yolanda. Kennengelernt hatten sie sich in einem Unterschlupf für jugendliche Obdachlose. Seither lebten sie zusammen, so gut das ging, denn eine Wohnung, die sie bezahlen konnten, hatten sie bis heute nicht gefunden. Die paar Franken, die sie bei gelegentlichen Aushilfsjobs verdienten, reichten schon jetzt zu nichts und Yolanda würde in kurzer Zeit nicht einmal mehr mitverdienen können. Wortlos trotteten die beiden weiter. Ihr Atem dampfte. Patrick drängte, obwohl Yolanda schnell ermüdete. Aber er wollte unbedingt vor Einbrechen der Dunkelheit im Dorf sein.

«Die Leute im Dorf werden uns nicht mögen», brach das Mädchen nach einer Weile die Stille, «hier auf dem Land gelten doch andere Regeln als in der Großstadt.»

«Ach mach dir keine Sorgen. Schließlich bin ich hier geboren.»

«Aber ich bin Albanerin, nicht alle Leute hierzulande mögen Ausländer.»

«Nein, du machst dir umsonst Sorgen. Halt lieber Schritt. Wir verlangsamen.»

Der Autofahrer hatte recht. Nach der Kuppe und dem kurzen Waldstück lag das Dorf zu ihren Füssen. Patrick atmete schwer. Seit so vielen Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Ein paar kurze Bilder von Kindheitserinnerungen tauchten auf: das kleine Häuschen im Hinterdorf, die Kiesgrube mit den Rollwagen - ob’s die noch gibt? - das eine Jahr im Kindergarten und dann die Trennung der Eltern. Sie schritten zügig auf das verschneite Dorf zu. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Hier war der Gemeindepräsident noch Herr im Dorf und der Pfarrer ein weiser und gelehrter Mann. Hier pflegte man noch den Gruß über den Gartenhaag, und Konflikte wurden meist nach Feierabend in den Wirtsstuben auf direktem Weg bereinigt. Das Dorf zeigte sich auffallend sauber. Vor jeder Haustüre war für Weihnachten gekehrt worden. Auf dem Dorfplatz ragte ein gewaltiger Christbaum zum Himmel, besetzt mit Dutzenden von elektrischen Kerzen. Einmal schlug ein Hund an, und da und dort hörten die beiden eine Kuh im Stall muhen. Nur Leute gab’s keine auf den Gassen. Die saßen wohl in ihren Stuben und bereiteten sich auf den Heiligen Abend vor. Das kleine Häuschen im Hinterdorf sah noch genau gleich aus, wie es Patrick in Erinnerung hatte. Nur auf dem Briefkasten stand ein fremder Name. Trotzdem drückte der Junge auf die Klingel.

«Nein, der wohnt nicht mehr hier - schon lange nicht mehr, sagte die Frau, als sie die Türe einen Spalt geöffnet hatte. Er ist jetzt auf der andern Seite des Dorfes, hat sich ein neues Haus gebaut.»

Die Frau beeilte sich, die Türe wieder von innen zu verriegeln, denn das junge Paar und vor allem der Bursche mit der schäbigen Lederjacke und den schulterlangen Haaren war ihr nicht geheuer. Man liest und hört ja so viel ... . Patricks Vater hatte sich tatsächlich ein stattliches Haus errichten lassen, mit ausgedehntem Garten und geschweiftem Zufahrtsweg.

«Mensch, wenn ich da leben könnte», ging es dem Jungen eine Sekunde lang durch den Kopf. Aber nur eine Sekunde. Er sagte es auch nicht laut, um ja keine Hoffnungen bei seiner Freundin zu wecken. In Wirklichkeit zweifelte er genau wie sie, ob ihn sein Vater mit Freude empfangen würde. Er glaubte auch nicht, hier für längere Zeit bleiben zu dürfen. Nur ein paar Tage wollten sie weilen und vor allem heute Abend wieder einmal richtig Weihnachten feiern - wie früher. Nicht einfach irgendwo in einem Wartsaal oder in einer Obdachlosenkneipe, sondern daheim in der guten Stube, mit einem Christbaum und vielen brennenden Kerzen. Eine gepflegte Dame kam an die Türe. Sie hielt die beiden wohl für Hausierer oder Bettler, denn sie öffnete nur den kleinen Fensterflügel und machte:

«Ja?»

«Was wollt ihr von ihm?» knurrte sie misstrauisch, als der Bursche nach dem Hausherrn fragte.

«Er ist mein Vater.»

Der Dame verschlug es einen Moment lang die Sprache.

«Ach ..., dann bist du wohl dieser Patrick ...? Mal sehen, ob er da ist.»

«Dieser Patrick», zischte der Junge, «das klingt ja vielversprechend.» Und er ärgerte sich, weil sie weiterhin vor der Türe warten mussten. Patricks Vater war ein großer, gut gekleideter Herr in den mittleren Jahren mit leicht ergrauten Schläfen. Einen Moment sahen sich Vater und Sohn wortlos an, dann schritt der Vater auf Patrick zu und reichte ihm die Hand:

«Welche Überraschung. Mit dir habe ich natürlich nicht gerechnet. Was führt euch hierher?»

«Wir wollten nur ...»

«Ach, steht nicht da draußen, kommt rein, legt euch ab ... Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal sahen.»

«Ja, lange.»

«Kommt in die Stube.»

Als Yolanda ihren Mantel abgelegt hatte, konnte man es deutlich sehen. Der Vater zog die Augenbrauen hoch, als er sich hinsetzte: «Ist das Kind von dir?»

«Ja.»

«Bist du da sicher?»

«Wir leben seit einem Jahr zusammen und sind uns treu, wenn es das ist, was du meinst.»

Einen Moment lang schwebte Spannung und beklemmende Stille im Raum. Der Vater freute sich tatsächlich nicht besonders über den überraschenden Besuch, aber er wollte das jetzt auf keinen Fall zeigen. Schon gar nicht sollte es gleich zu Beginn zum Streit kommen.

«Möchtet ihr etwas trinken?», lenkte er schließlich ab, wartete aber gar nicht auf eine Antwort, ging zum Büfett, holte eine Flasche und drei Gläser.

«Tja, wie geht’s dir, was tust du die ganze Zeit?»

«Oh, es ist o. k. Ich habe einen guten Job, und wir leben recht.»

Patrick log. Hier lag Zündstoff. Gerade deshalb war es ja damals, als er das Heim verlassen konnte und eine Lehre antreten sollte, zwischen den beiden zum großen Streit gekommen. Er sei allein für seine Zukunft verantwortlich, hatte er damals großspurig erklärt, er brauche die Unterstützung des Vaters nicht. Die Frau von vorhin hatte sich bis jetzt nicht blicken lassen. Nun streckte sie den Kopf in die Stube und bat den Vater, ohne die Jungen eines Blickes zu würdigen, ihr bei einem Problem in der Küche zu helfen.

«Sie muss seine neue Lebensgefährtin sein», dachte Patrick, als der Vater hinausging,«vielleicht hat er sie auch geheiratet.»

«Die wollen doch nicht etwa dableiben», sagte die Frau, die tatsächlich mit Patricks Vater verheiratet war, zu ihrem Mann in der Küche.

«Bis jetzt fragten sie nicht darnach. Aber ich nehme an, sie beabsichtigen das schon.»

«Das geht auf keinen Fall», protestierte die Frau und rührte in einer Pfanne, obwohl es da gar nichts zu rühren gab. «Du weißt, in zwei Stunden kommen die Gäste. Du willst doch nicht etwa diesen verlausten Kerl als deinen Sohn vorstellen?»

«Er ist es aber.»

«Und das Ding, das er da mitschleppt? Sieh dir einmal deren Gesicht an, aufgedunsen, wässrige Augen. Der sieht man ja die Fixerin von hundert Metern an.»

«Ich weiß nicht, ob sie Drogen nimmt, ich weiß nur, dass sie ein Kind erwartet.»

Die Frau hörte ruckartig auf, in der Pfanne zu rühren: «Gott im Himmel. Wie willst du das den Leuten erklären. Sie bekommt ein uneheliches Kind, und er bringt’s zu nichts. Bitte sorge für einen Heiligen Abend, wie er sich für ein gutes Haus gehört.»

«Du hättest anrufen sollen», rügte der Vater, als er wieder in die Stube zurückkam. Er war im Zwiespalt. Einerseits wollte er selber das junge Paar für die Weihnachtsfeier nicht hier haben, anderseits tat ihm besonders das Mädchen leid.

«Ich hatte kein Münz, als wir aufbrachen.»

In Tat und Wahrheit hatte Patrick gar nicht anrufen wollen, weil er genau gewusst hatte, dann wäre aus seinem Besuch unter irgendeinem Vorwand überhaupt nichts geworden. Jetzt gab sich der Junge aber einen inneren Stoß, um endlich sein Anliegen vorzubringen, nur just in dem Moment kam ihm der Vater zuvor: «Ihr müsst langsam austrinken. Bald kommen die Leute. Das Haus ist heute Abend voller Gäste. Ich hätte euch gerne eingeladen, aber wir haben nicht genug eingekauft.»

Die Kinder wurden blass.

«Wo können wir schlafen? Draußen ist Winter.»

«Geht zum Wirt im ‘Sternen’, der vermietet ein paar Zimmer. Sagt ihm, er soll die Rechnung mir schicken. Kommt dann morgen ... nein morgen, geht das nicht, da schlafen wir aus ... kommt übermorgen zum Frühstück, dann werden wir Zeit haben, uns mehr zu unterhalten.»

Patrick verstand. Hier wollte man sie nicht. Das mit dem Einkaufen war eine plumpe Ausrede und die Einladung zum Frühstück übermorgen die mieseste Peinlichkeit, die Vater passieren konnte. Der Junge war entschlossen, im «Sternen» zu übernachten, denn in dieser Nacht noch wegzugehen getraute er sich mit der schwangeren Freundin nicht. Aber morgen wollte er zurück in die Großstadt, wo sie keine Bleibe hatten, zurück auf die Gasse. Ohne das Glas leer zu trinken, standen die jungen Leute auf und gingen in die Nacht hinaus, wo es mittlerweile heftig schneite. Patrick nahm Yolanda in die Arme und drückte sie fest an sich. Er wusste, den geschwungenen Weg zu Vaters Haus würde er nie wieder hinaufgehen. Im«Sternen» saßen nur spärlich Gäste. Der Wirt trocknete Gläser hinter der Theke und schaute kaum auf, als das junge Paar zu ihm herankam.

«Hm. Meine Zimmer sind praktisch alle belegt», brummte er und dachte an seine blütenweiße Bettwäsche, die wohl Schaden erlitten hätte, wenn die Jungen damit in Berührung gekommen wären. «Ihr seid verheiratet?» Er musterte die beiden jetzt genauer.

«Wir sind verlobt.»

«Verlobt? Verlobt ist nicht verheiratet. Ich kann euch kein Doppelzimmer geben, und die Einzelzimmer sind alle belegt.»

«Aber hören sie mal, das ist doch ein alter Zopf.»

«Was heißt alter Zopf? Bei uns herrschen Sitte und Moral, wir sind doch kein Bordell.»

Der Wirt stellte das Glas ins Regal und nahm ein weiteres in die Hand.

«Nein, ich habe für euch kein Zimmer. Stellt euch vor, was die Leute im Dorf sagen würden. Die täten mich glatt der Kuppelei bezichtigen.» Er sagte das betont laut. Die Gäste im Lokal merkten auf:

«Seid ihr etwa Drögeler aus der Stadt?»

«Kommen die jetzt zu uns aufs Land hinaus? Darauf haben wir gerade noch gewartet.»

Yolanda, die sich schon vorher bei Patricks Vater nicht getraut hatte, auch nur ein Wort zu sagen, blickte hilflos zu ihrem Freund auf. Eine Träne kullerte über ihre Wangen. Patrick dagegen schaute geschlagen drein. Er sah nicht den gläserwaschenden Wirt und auch nicht die sich jetzt zuprostenden Spötter. Er sah nur sich und sein Mädchen irgendwo in einem Schopf die Nacht verbringen und dabei gewaltig frieren. Er sagte nicht, wer er sei, sagte nicht, sein Vater würde die Übernachtung bezahlen, sie gingen hinaus.

«Geht doch zum Pfarrer», lallte ein Gast hinter ihnen her, «der hat sicher ein warmes Herz für ein nettes Gammlerpärchen.»

Obwohl der Vorschlag des Gastes als Beleidigung gedacht war, taten Patrick und Yolanda jetzt genau das. Sie schritten hinauf zur Kirche, durchquerten den Friedhof. Yolanda schluchzte, wischte sich aber tapfer die Tränen aus den Augen, als Patrick beim Pfarrhaus läutete.

«Du bist doch der Patrick? Mann, bist du groß geworden», sagte der Pfarrer, als er die beiden ins Sprechzimmer führte. Der Junge fasste Hoffnung. Wenigstens einer in diesem Kaff, der ihn wiedererkannte. Im Sprechzimmer hörte sich der Pfarrer ihr Problem an.

«Ich habe großes Verständnis für Euch», nickte er schließlich, «aber zum Übernachten ist hier leider kein Platz. Eine Aushilfe ist über Weihnachten bei mir. Somit ist kein Bett mehr frei. Außerdem finde ich es nicht so günstig, weil ...»

«... wir nicht verheiratet sind. Die Leute könnten denken ...»

«... nun, ganz so wollte ich das nicht sagen. Ich bin eben auch sehr beschäftigt heute, muss mehrere Pfarreien besorgen und hätte kaum Zeit für Euch. Ein Pfarrer ist nun mal von Berufs wegen Weihnachten stark engagiert.»

Patrick begann, nervös mit den Fingern auf der Tischplatte zu spielen. Er sah die Situation immer auswegloser.

Der Pfarrer stand auf und ging zur Türe: «Wisst ihr was, ich sage jetzt, man soll euch etwas zu Essen richten, ich sehe doch, wie ihr ausgehungert seid. In der Zwischenzeit rufe ich ein paar Leute an und frage, ob jemand zwei Betten für euch hat. Ja?»

Das Essen tat gut, endlich etwas Warmes in die leeren Mägen. Bis jetzt hatten die beiden gar nicht ans Nahrungsaufnehmen gedacht. Eigentlich wollten sie nichts Anderes, als wieder einmal echte Weihnachten feiern, aber nun blieb allein die Sorge, überhaupt irgendwo einen Unterschlupf zu finden. Wären sie doch nur in der Stadt geblieben. Da gab es warme Bahnhofwartsäle, unterirdische Einkaufsstraßen, Jugendhäuser und dergleichen.

Nach etwa einer Viertelstunde kam der Pfarrer zurück: «Es sieht nicht so gut aus, wie ich dachte.» Er fuhr mit der Hand verlegen übers schneeweiße Haar: «Die Leute wollen überall im trauten Familienkreis Weihnachten feiern und dabei allein sein, andere haben Gäste im Haus.»

Patrick schaute an die kahle Sprechzimmerwand. Sein Blick streifte das Kruzifix. «Der war auch obdachlos», dachte er für einen kurzen Moment, obwohl er nicht besonders gläubig war.

«Nun, es gibt da eine Lösung. Der Gemeindepräsident würde seine Garage zur Verfügung stellen. Das Auto nimmt er heraus. Die Garage ist etwas geheizt, und wie er sagt, hat er da ein paar alte Matratzen aufgestapelt, weil er gerade neue kaufte und die Sperrgutabfuhr erst nach den Festtagen vorbeifährt. Er wohnt gleich dort drüben gegenüber der Kirche. Und jetzt müsst ihr mich entschuldigen. Esst ruhig weiter, aber ich muss weg.»

Der Gemeindepräsident rollte eben sein Auto aus der Garage, als das Paar zu ihm hinüberstapfte. Yolanda fühlte Schmerzen im Bauch. Kamen sie von der Aufregung, der Enttäuschung oder vom Essen? Jedenfalls war sie froh, jetzt wenigstens in der Wärme bleiben zu dürfen.

«Ihr seid fremd hier?»

«Das ist mein Bürgerort.» Patrick hoffte, der Mann würde nicht weiter forschen, denn er schämte sich seines Vaters, der hier gewiss ein angesehener Mann war.

Wieder allein, sanken die Jungen erschöpft auf die Matratzen. Das also sollte ihr Heiliger Abend werden. Patrick legte Yolanda hin und deckte sie mit einer Wolldecke zu, denn sie fühlte sich plötzlich ganz elend und spürte ein starkes Ziehen im Bauch. Der Bursche ging allein wieder hinaus und drehte sich eine Zigarette. Die erste seit Stunden, denn bis jetzt hatte er dazu gar keine Lust verspürt. Er ging ein paar Schritte durch die schneebedeckte, menschenleere Straße. Es hatte aufgehört zu schneien. Ja, der Himmel hatte sich sogar aufgeklärt, und ein ganzes Heer von Sternen leuchtete über dem friedlichen Dorf. Überall sah der Junge Lichter, und hinter manchen Fenstern flackerten Weihnachtskerzen. Alle feierten sie jetzt Weihnachten. Hie und da hörte er auch Singen und Kinderstimmen. Patrick bummelte gewiss eine Viertelstunde so durch das Dorf, dann kehrte er um. Die sternklare Nacht brachte jetzt auch größere Kälte. Yolanda schlief, als er zurückkam. Er setzte sich neben sie auf die Matratze und stützte den Kopf in die Hände. Er dachte an die großzügig ausstaffierte Stube des Vaters mit dem prachtvollen Christbaum, der bis zur Decke reichte; dachte wieder an den Wirt und die Gäste im «Sternen» und das Abendessen beim Pfarrer. Sein Kopf sank auf die Knie, und so schlummerte auch er ein. Die beiden erwachten erst wieder, als die Kirchenglocken mächtig zu läuten begannen. Draußen auf der Straße gab es nun plötzlich Betrieb. Von überall her kamen die Leute zur Christmette. Glücklich ob dem Fest der Freude und der Geschenke, die sie bekommen hatten, wohlgesättigt alle vom Weihnachtsbraten. Die Orgel brauste gewaltig, und als das «Halleluja» des Kirchenchores ausklang, schlug der Aushilfspater ein großes, in Leder gebundenes Buch auf, und die ganze Gemeinde lauschte den Worten, die er langsam und würdevoll vorlas:

«In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Da ging jeder in seine Vaterstadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit der Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.»

Alle hörten in Andacht die feierliche Geschichte, die sie im Grunde genommen seit Kindstagen auswendig kannten. Der Wirt vom «Sternen» schüttelte den Kopf und dachte, was für Blödiane die Wirte damals doch gewesen seien. Hätte einer den Josef und die Maria aufgenommen, er wäre in die Geschichte des Christentums eingegangen, und die Kirche hätte ihn mit Bestimmtheit zum Heiligen gemacht.

Patrick ging nervös in der Garage auf und ab. Yolanda hatte heftige Krämpfe bekommen und krümmte sich beängstigend vor Schmerzen. Was sollte er bloß tun? Er hatte doch keinen blassen Dunst, wie so was geht. Das Mädchen begann zu keuchen und zu stöhnen, und Patrick rannte, so schnell er konnte hinüber zur Kirche. In der hintersten Bank sprach er leise eine Bäuerin an, die ihm vertrauenswürdig genug erschien. Sie kam sofort mit, vergaß aber nicht, ihrer Banknachbarin die Neuigkeit noch schnell ins Ohr zu flüstern. Sie kamen genau im richtigen Moment, und die Bäuerin hatte tatsächlich Erfahrung, um dem Kind auf die Welt zu verhelfen. Es war ein Bub, und er schrie mächtig, nachdem die Frau mit Patricks Sackmesser die Nabelschnur durchschnitten hatte. Die Dorfsensation war publik, bevor die Christmette zu Ende ging. Die Leute drängten alle herüber zur Garage des Gemeindepräsidenten, dem die Sache äußerst peinlich war. Alle standen sie vor der offenen Garagentüre und gafften.

Kein Stern ging auf am Himmel, und kein Engel erschienen den Hirten auf dem Felde. Es gab da auch gar keine Hirten. Die paar Schafe von privaten Züchtern standen alle in den Ställen. Es gab nur einen Ambulanzwagen, der mit Blaulicht durch die winterliche Nacht davonbrauste. Es gab eine Menge Leute, die sich eilig auf den Heimweg machten, um eine Sensation und um Gesprächsstoff reicher. Und es gab einen achtzehnjährigen, arbeitslosen Jungen, der jetzt Vater geworden war, und der allein zurückblieb und erschöpft auf die Matratze sank. In der Garage des Gemeindepräsidenten, in seinem Heimatdorf.

 

Harry Greis

 

 

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