Das Krippenspiel der dritten Seck

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Das Krippenspiel der dritten Seck

Eine Weihnachtsgeschichte von Harry Greis

Oh Gott, warum ist alles, was wir über dich sagen sollen, so kompliziert?» Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich mich im Sessel zurück. Ich hatte laut gesprochen. Dabei sass ich ganz allein am Schreibtisch in meiner Zelle. Außerdem lag die Nacht über dem Dorf und es galt Stillschweigen im Kloster. Aber mein Seufzen war nicht unbegründet. Seit Tagen hatte ich mich nur mit dem einen Gedanken beschäftigt: «Wie bringe ich die Sache mit Weihnachten an die jungen Leute?» Nichts wollte mir einfallen. Inzwischen bewegte sich der Zeiger meiner Schreibtischuhr bereits auf halb zwölf zu, und am andern Morgen sollte ich die letzte Schulstunde vor Weihnachten mit den Schülern der dritten Sek aus dem Dorf halten. Mit den Kleinen kann man wenigstens Krippenspiele aufführen: Maria und Josef auf Herbergssuche, die Geburt mit den Engeln und den Hirten, schließlich die heiligen drei Könige, die dem Stern folgen. Aber fangen sie mal an, Erwachsen zu werden, bringen sie dafür nur noch ein müdes Lächeln auf:

«Kindergeschichten, schön, aber kitschig.»

«Und dann die Weihnachtslieder!»

«Was wollt Ihr denn singen?»

«Tokyo Hotel.»

«Tote Hosen.»

«Recht und gut. Nur, wo bleibt der Bezug zu Weihnachten?»

Die hatten mir doch erst kürzlich frei und offen erklärt, mit all dem Zeug könnten sie nichts anfangen: Das glaubt ja doch keiner mehr. Wozu versuchen Sie, uns die Bibel näher zu bringen? Die lesen wir todsicher später nie.

Ich war erschrocken, hatte mir aber nichts anmerken lassen. Wir hatten dann diskutiert.

Mit Begriffen wie «abendländische Kultur», «Christentum, das es immer noch gebe» und so weiter hatte ich es versucht. Nun ja, wenigstens für Weihnachten sollte ich doch etwas anbieten können, das hängen bliebe. Ich beugte mich über meinen Schreibtisch und rückte die Lampe zurecht. Das hatte ich schon mehrmals gemacht an diesem Abend und ich tat es gewöhnlich dann, wenn ich endlich zur Sache kommen wollte - aber ich kam nicht zur Sache.

«Bringen Sie etwas, das uns heute interessiert», hatten sie gefordert, «nicht Geschichten, die zwei- und dreitausend Jahre zurückliegen.»

«Und was interessiert euch heute?»

«Drogenprobleme.»

«Aids.»

«Klimaveränderung.»

«Krieg, Krieg.»

«Ja, es ist immer noch Krieg und kein Friede auf Erden!»

Ich blätterte in meinen Vorlagen. Da fand sich doch so Schönes: Bilder aus der Kunst, Geschichten um die heilige Familie, Zeichnungen, Lieder, Gedichte, Verse. Und dann sogar ein Video: «Das Leben Jesu von der Geburt an ...», eine gigantische Hollywoodverfilmung. Zugegeben, irgendwie war der Streifen abgegriffen und klischeehaft: der junge Orientale Jesus mit blauen Augen und blonden Locken, die unnatürlichen, verklärten Blicke der Menschen, die da zur Krippe eilten, die wie Gebete gesprochenen Worte derer, die schon immer vom Kommen des Heilands gewusst hatten. Auch die Angst, seinen Posten als König zu verlieren, in einem Land, das ohnehin von der römischen Weltmacht besetzt war, nahm ich Herodes nicht ab. Nein, damit musste ich denen nicht mehr kommen. Ich kratzte in den Haaren: Es muss doch etwas geben, das überzeugt. Etwas, das jeder Zeitströmung standhält. Etwas, das theologisch fundiert ist, das beweist ... – etwas, das theologisch ...? Klar, ich werde das denen theologisch darlegen. Und damit stand die Idee, und sie sollte nur noch untermauert werden von den ewigen Werten der alten Kirchenväter. Gregor, Hieronymus, Augustinus ... das waren die Namen, die ich jetzt brauchte, vielleicht noch Hippolyt oder Psydodionysius, den sie den Areopagiten genannt hatten.

Ich erhob mich, - stolz über diese Eingebung, - nahm meine Pelerine und den Schlüsselbund, sowie eine Taschenlampe und trat in den Gang hinaus, Richtung Bibliothek. Hippolyt, Augustinus, eventuell auch Thomas von Aquin. Müsste es dann noch etwas vereinfachen. Die würden staunen am nächsten Morgen. So wallte ich durch die unendlich langen Klausurgänge. Nur an den Ecken glimmten Nachtleuchten. Auch durch die Supraporten der Mitbrüder drang kein Licht. Die schliefen also schon alle. Erst vor dem Eingang zur Bibliothek drehte ich einen Schalter. Dann öffnete ich die Türe mit dem kolossalen Schloss und es fiel etwas Helle in den Raum. Mir schien, als begrüßte mich schweigend die Schar der Bücher. Was für ein Potenzial an Wissen ruhte in den Regalen! Unsere ganze abendländische Kultur war hier versammelt, und selbst der Raum hatte Geschichte erlebt. Da die Medaillons der Päpste und Kaiser. Ihnen hatten die französischen Revolutionssoldaten die Nasen abgeschlagen. Da die erste Ausgabe von Zwinglis Bibel, gedruckt noch zu seiner Zeit, kurz, nachdem er von hier nach Zürich gezogen war. Und von weit unten im Keller glaubte ich die magische Kraft der Manuskripte und Inkunabeln zu spüren, Zeugen aus tausend Klosterjahren.

Die Bücherregale mit den «Theologicas» standen nördlich, nahe der Türe. Es war kalt, ich zog die Kapuze über. Dann ließ ich den Lichtkegel meiner Taschenlampe über die Buchreihen gleiten, bis ich auf Augustinus stieß, auf seine gesamten Werke, alle in weißem Schweinsleder gebunden, staubig und geduldig, wie seit Hunderten von Jahren. Ich zog eines heraus, schlug es auf: «Confessiones». Nein, seine «Bekenntnisse» schienen mir nicht geeignet. Doch da, vielleicht die «Sermones». In einer Sammlung von Predigten müsste es doch wohl solche über Weihnachten geben. Ich blätterte, fand ein Inhaltsverzeichnis ... da, «De gratia incarnationis», «über die Gnade der Menschwerdung», das schien passend. Ich schleppte das Buch zu einem Tischchen in der Fensternische, knipste ein Lämpchen an, setzte mich und begann zu lesen:

«Wach auf, du Mensch! Gott ist für dich Mensch geworden.»

Sehr schön, wirklich schön gesagt, und da:

«Auf ewig wärest du tot, wäre Gott nicht in der Zeit geboren worden ...»

Wäre Gott nicht in der Zeit geboren worden? Da hatten wir es auch schon wieder, und ich hörte es bereits in den Ohren: «Was interessiert uns, was vor zweitausend Jahren passiert ist?»

Ich spürte Müdigkeit in den Augen, las trotzdem weiter: «Nie wärst du frei geworden vom Joch des Fleisches, von der Sünde. Dem ewigen Unglück wärest du anheimgefallen, wäre dieses Werk der Barmherzigkeit nicht geschehen.»

Wie um alles in der Welt sollte ich das in die Sprache der Jungen übersetzen? Ich vermochte die Augen kaum mehr offen zu halten. «Du wärest verschmachtet, wäre er nicht zu Hilfe gekommen, du wärest zugrunde gegangen, wäre er nicht gekommen ... wach auf du Mensch ... wach auf ...» Ich schlief über den «Sermones» von Augustinus ein.

Schritte schreckten mich auf.

«Was sucht Ihr denn hier?»

Neben mir standen drei meiner Sekundarschüler.

«Carl, Walter, Hans-Urs? Wie seid Ihr hereingekommen?»

«Ganz einfach: durch die Türe.»

«Schon! Bloß, ich meine: unten, bei der Pforte, mitten in der Nacht?»

«Es ist nicht mitten in der Nacht. Es ist Morgen und die Schule hat begonnen.»

«Wir haben Sie vermisst, sind da, Sie abzuholen.»

«Moment mal, - alles in Ruhe.» Ich blinzelte verwirrt nach oben: Wo auf der Welt gibt es Schüler, die ihren Lehrer zu Hause abholen, wenn er den Unterricht verpasst? Ich konsultierte meine Uhr: kurz nach halb acht. Nun schämte ich mich, hatte ich doch tatsächlich die ganze Nacht in der Bibliothek verbracht und am Morgen buchstäblich verschlafen. Dabei wollte ich eine gute Schulstunde halten.

«Jetzt bin ich nicht vorbereitet. Wie Ihr seht, lese ich bei Augustinus gerade etwas über Weihnachten.»
Illustrastion von Harry Greis «Wer ist Augustinus?»

«Einer der bedeutendsten Kirchenväter, er lebte ums Jahr 400 und...... ach ja, ich seh’s euren Augen an, ihr braucht gar nichts zu sagen ... schon gut ... ich lasse die Stunde ausfallen, ihr dürft wieder nach Hause gehen.»

«Wir wollen nicht nach Hause gehen, wir wollen die Schulstunde halten und Sie müssen unbedingt dabei sein.»

«Was soll ich denn erzählen?»

«Nichts, gar nichts. Wir haben alles vorbereitet.»

«Sie müssen nur mitkommen, sonst nichts.»

Ungläubig erhob ich mich, allerdings auch umständlich, dachte, mein Rücken breche entzwei. Eine ganze Nacht auf einem Stuhl sitzend, den Kopf auf Augustins Sermones: nicht gerade das Bequemste. Die Jungs zogen mir voran, die Treppe hinunter, durch den Gang des Gymnasiums, zur Externenpforte hinaus auf den Klosterplatz. Fast blendete die Schneedecke, obwohl es noch dunkel war und nirgends ein Licht brannte. Über dem Dorf schwebte eine geisterhafte Stille. Keine Autos, keine Menschen. Das schien mir sonderbar. Aber ein neuer Blick auf die Uhr bestätigte es nochmals: Es war bald acht. So folgte ich kopfschüttelnd den Jugendlichen, die soeben in die Eisenbahnstraße einbogen. Als ich mich umdrehte, sah ich keine Fußspuren im Schnee. Doch blieb nicht Zeit zum Nachdenken, die Burschen begannen zu rennen und ich keuchte hinterher.

«So wartet doch, ich hab nicht mehr die Lunge eines Fünfzehnjährigen!»

So erreichten wir das Furrenschulhaus. Eigenartig, auch hier brannte kein Licht, alle Fenster tiefschwarz. Im Hof vor dem Haupteingang blieben wir stehen. Hier erhellten ein paar Kerzen das Geschehen. Ich grüßte, aber keiner der jungen Leute gab mir Antwort – mehr noch, sie schienen mich überhaupt nicht zu beachten. Nur meine drei Begleiter blieben mit zur Seite:

«Wir haben ein Krippenspiel vorbereitet.»

«Ein Krippenspiel? Ihr?»

«Ja, aber Sie dürfen die Schauspieler nicht stören, setzen Sie sich.»

Ich tat es entgeistert. Was ging hier vor? Ein Krippenspiel? Die in diesem Alter? War es ihnen ernst oder wollten sie mich auf den Arm nehmen? Skepsis war angesagt. Sie hatten den Schulplatz mit den Arkaden etwas umgestaltet, die Abfallcontainer um das Gebäude herumgekarrt und sichtbar hingestellt. Daneben sah ich Fässer aus Blech, Öl- und Benzinfässer eben, schmierig und dreckig, als kämen sie direkt von der Schutthalde. Als sich meine Augen eingewöhnt hatten, glaubte ich, einen schäbigen Hinterhof vor mir zu haben. Unwahrscheinlich echt wirkte alles, sogar Öllachen schimmerten am Boden. Außerdem roch es genauso ölig, mufflig, verwahrlost, ja geradezu bedrohlich und gefährlich, wie es aussah. Dann betraten Ruth und Paul die Szene.

«Aha, das Krippenspiel, dachte ich, Maria und Josef auf der Herbergssuche.»

Aber Maria und Josef suchten keine Herberge und auch keinen Stall. Sie kamen als Asylanten, eben erst hierher geflüchtet, die Strapazen im Gesicht noch ablesbar, dazu aus Angst über die grüne Grenze eingeschleust, illegal.

«Solche Leute sind unerwünscht, werden bei uns eingesperrt oder abgeschoben.» Das hatte ihnen bereits jemand klargemacht. So nisteten sie sich in dem Hof ein, hinter den Benzinfässern, zum Schutz vor Wind und Kälte – und vor den Menschen. Und dann gebar die Frau ein Kind. Einen Jungen, und weil er schrie, erwachten rundum die Anwohner. Überall flogen Fenster auf.

«Was ist denn da unten los!»

«Scheinen Vagabunden zu sein!»

«Landstreicher!»

«Clochards!»

«Sicher wieder Asylanten, holt die Polizei!»

«Ruhe, oder ich lasse den Hund raus!»

Das Kind beruhigte sich bei der Mutter, und die Fenster gingen wieder zu. Ein fürwahr eigenartiges Krippenspiel.

Eine andere Szene hub an, sich zu bewegen: Durch einen Torbogen strömten Menschen ein. Stumm und lautlos füllten sie den Hof, und mir schien, die Häuser rückten immer weiter weg, so als wollten sie mit diesen Menschen nichts zu tun haben. Aber in Tat und Wahrheit wichen sie nur, weil immer mehr Menschen ankamen. Hatte ich zunächst noch gedacht, es müsste sich um alles Schüler und Schülerinnen des Schulhauses handeln, die jetzt mitspielten, so verwarf ich diesen Ge danken schnell, denn es mochten Tausende, Zehntausende sein, die nun dastanden und die Frau und das Kind anschauten. Es waren keine vornehmen Leute. Ich erkannte Drogenabhängige, Prostituierte, Obdachlose, Aidskranke, Analphabeten, Rocker, Asylanten, Arbeitslose, Menschen vom Rand der Gesellschaft, und immer noch füllte sich der Innenhof und alle betrachteten stumm das Kind, über dem plötzlich ein Licht aufging, das sich langsam zum Himmel erhob.

«Erstaunlich, was heutige Bühnentechnik vermag. Vermutlich ein Licht aus einer Laserkanone», flüsterte ich, auf die Seite gewendet, aber meine drei Begleiter waren verschwunden.

Und dann entstand ein Brummeln und Summen unter diesen Menschen und sie hoben zu einem Lied an, das weder nach Bach noch nach Mozart klang, sondern eher fürchterlich falsch tönte, fast so vielstimmig, wie Menschen da waren, aber mit einer Innigkeit, wie ich sie noch nie gehört hatte, ein Lied ohne Text und ohne Melodie, und alle sangen, und die Töne schraubten sich immer höher und höher, und dann schauten alle diese Menschen hinauf zum Himmel, wo der Stern stehen geblieben war und in der Strahlkraft eines Supertroupers leuchtete. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Wann und wo hatten die ein solches Spiel einstudiert? Alles wirkte so echt, so ergreifend, so ganz anders. Ja, wie war das möglich, in einer so wirklichkeitsnahen Kulisse ... oder war es am Ende gar keine Kulisse, waren es gar keine Schauspieler? War es nicht genau so, wie es war, einfach irgendwo draußen in irgendeiner Stadt, hier und heute? Und die Drogensüchtigen waren Drogensüchtige, die Dirnen waren Dirnen und die Obdachlosen hatten tatsächlich nirgends ein Zuhause? Die Kälte zwang mich, den Mantelkragen hochzustellen. Längst war ich aufgestanden. Da hörte der eigenartige Gesang mit einem Schlag auf, und es war wieder still wie am Anfang.

Panik erfasste die Menschen und sie drängten alle zum Durchgang auf die Straße. Und wie sich der Hinterhof leerte, so rückten auch die beängstigenden Hausfassaden wieder näher. Zurück blieben nur die Flüchtlinge mit ihrem neugeborenen Kind. Dafür stürmten nun Uniformierte mit Hunden in den Hinterhof. Ob sie Verbrecher suchten, fragte ein Anwohner. Nein, es handle sich um illegal eingereiste Asylanten. Sie hätten gegen das Asylrecht verstoßen. Dazu sollten sie einen Säugling dabei haben, hätten also gegen das Gesundheitsgesetz verstoßen, und da sie sich in einem Innenhof eines Gebäudes aufhielten, das ja schließlich jemandem gehöre, hätten sie gegen das Eigentumsrecht verstoßen und Hausfriedensbruch begangen. Mit grellen Scheinwerfern leuchteten die Uniformierten alle Wände und Winkel ab, auch die Benzinfässer. Aber die Benzinfässer, so hässlich sie ausschauten, warfen Schatten auf die Frau und den Mann und das Kind. Und die Hunde witterten zwar eine Spur, verloren sie aber im Gestank dieser Kloake. Lange Zeit geschah nichts, ich hörte nur die Autos wegfahren.

Aber dann traten andere Leute durch das Tor. Es waren Gaukler, Clowns, Künstler, Zauberer, Zigeuner. Die Zigeunerinnen schlugen mit Kastagnetten und Tamburinen einen fröhlichen Rhythmus und alle begannen zu tanzen. Wieder schwebte eine so eigenwillige, ungewohnte Musik in der Luft, eine Musik nur aus Rhythmus. Und der Rhythmus pochte immer schneller und schneller, wie bei einem Trommelwirbel und doch anders und plötzlich brach er ab und mit ihm der Tanz. Es bildete sich ein Halbkreis, und aus dem Halbkreis traten drei Menschen, Carl, Walter und Hans-Urs. Sie kauerten nieder und zeichneten mit Kreide einen Kreis auf den Asphalt. Ich erkannte Sternbilder, Planeten, den Tierkreis.

«Wir sind Astrologen», sagten sie feierlich, «wir haben die Sternkonstellationen studiert und Jupiter am Medium Coeli gesehen. Wir sind von weither gekommen und haben uns erkundigt, ob hier irgendwo ein besonderes Ereignis bevorstehe.»

«Es muss sich um etwas handeln, das die Welt verändert.»

«Es muss etwas sein, das Kriege stoppt und Hunger stillt.»

«Wir haben nach den Mächtigsten im Lande gefragt, aber niemand konnte sagen, wer der Mächtigste sei.»

«Aber dann sind wir auf die Macht selber gestoßen. Und die Macht heißt Geld, denn allein das Geld ist es, das die Welt regiert. Alle Menschen, ob Politiker in demokratischen Staaten oder Diktatoren in totalitären Systemen, alle Menschen sind letztlich nur Werkzeuge des Geldes. Darum sind Millionen süchtig nach Geld, und darum geschieht alles Leid auf der Erde wegen des Geldes. Geld und Macht.»

«Das war nicht immer so. Anfänglich hat das Geld tatsächlich für alle gesorgt, und die Menschen hatten zu essen. So sah es zunächst aus, als ob das Geld nur Gutes tun könnte und alle Menschen waren voll Hoffnung und Zuversicht und begannen das Geld über alles zu lieben und zu verehren. Das war der Anfang vom Verderben. Je mehr sich das Geld nun im Zentrum aller Dinge sah, je mehr es merkte, wie unentbehrlich aber umso begehrlicher es war, umso mehr spürte es in sich den Drang, mächtiger und noch mächtiger zu werden, und so vergaß es seine ursprüngliche Bestimmung und berauschte sich am Gedanken, das absolut Mächtigste zu sein, das es auf der Welt gibt – und es sagte: Ich bin mächtiger als Gott – ja, ich bin Gott.»

«Das Geld beherrschte jetzt alles. Es beherrschte selbst diejenigen, die meinten, sie seien seine Besitzer. Aber nicht sie besaßen das Geld, sondern das Geld besaß sie. Denn diese kamen und gingen, wurden geboren und mussten sterben – sie alle waren austauschbar – während das Geld immer Geld blieb.»

«Staaten, Staatsverbände, was hieß das schon? Das Geld wollte auch da regieren, ganz allein und souverän, und so sorgte es mehr und mehr für eine Abhängigkeit aller bis dahin unabhängigen Staaten voneinander.»

«Doch Staaten waren für das Geld bereits zu eng. So bediente sich das Geld dann der Wirtschaft, möglichst ganzer globaler Konzerne. Diese wuchsen und wurden immer größer und fraßen die Kleinen nach und nach auf, bis sie selber von noch größeren und noch weltweiteren Konzernen aufgefressen wurden oder ganz vom Erdboden verschwanden. So regierte das Geld einfach unter den Landesgrenzen hindurch.»

Die Sterndeuter hielten inne und nach einer Pause erklärte Hans-Urs: «Und so sind wir zum Geld und zur Macht gegangen und haben gefragt, was dieses strahlende Licht am Himmel bedeuten soll.»

«Das Geld hat die Wissenschaftler und die Theologen und die Philosophen und die gescheitesten Leute aus dem Land zusammengerufen, und diese haben in alten Büchern und Schriften nachgelesen und geschaut, ob etwas über einen solchen Stern zu finden wäre und ob es am Ende gar etwas gäbe, was der Macht gefährlich werden könnte. Dabei ist man auf Schriftstellen gestoßen, die von einem Kind reden, das in diesen Tagen in Everywhere auf die Welt kommen soll und das fähig wäre, die Welt zu verändern und dem Geld seine Macht zu nehmen. Das Geld würde dann wieder zu einem reinen Zahlungsmittel und somit könnten die Menschen damit wieder Gutes tun und würden aufhören, selber auch nach Macht zu lechzen und sich gegenseitig umzubringen und auszugrenzen. Das neugeborene Kind verbreite eine Lehre, die nur von Liebe und nochmals Liebe getragen sei.»

«Das Geld erschrak bei dem Gedanken, die Macht abgeben zu müssen und beschloss, sofort zu handeln. Es blies sich selber auf wie ein Luftballon – mit Geld, das gar kein Geld war, das gar nicht existierte, das nur so den Anschein machte, als wäre es Geld. Und diese Methode verbreitere das Geld mit einem Schneeballeffekt rund um den Globus und das ging so lange gut, bis der erste Luftballon platzte. Dann krachten die Börsen und versetzten die ganze Welt in Angst und Schrecken. Die Sparer befürchteten, ihre Scherflein und die Unternehmer, ihre Reserven zu verlieren. Niemand wusste, ob die Nahrungspreise steigen würden und die Zinsen auch, bis nur noch dort Geld läge, wo ohnehin schon alles liegt. Und dann begann das Geld, einen Betrieb nach dem andern zu schließen, worauf immer mehr Leute auf der Straße standen. Und damit ja alle von Anfang an auch sehen konnten, wie ernst es das Geld meinte, fing es mit den Betrieben an, an die zuletzt jemand gedacht hatte, mit den Banken nämlich - und es ließ ein Finanzinstitut nach dem andern auf der ganzen Welt einfach im Nichts verschwinden.»

«So baute das Geld seine Macht aus und wurde absolut unentbehrlich. Jetzt mussten ihm wirklich alle bedingungslos huldigen. Und so entbrannte ein gewaltiger Kampf zwischen dem Kind, das eine ganz einfache Lehre nur von der Liebe verbreitete und dem Geld, das die Macht hatte. Und es scheint fast so, als bliebe die Macht an der Macht und ginge die Lehre des Kindes verloren, verloren, weil niemand mehr auf sie hört, weil es ja nur die Lehre eines Kindes ist und weil eine Lehre, die nur sagt, man solle sich gegenseitig gernhaben, eine viel zu simple Botschaft ist, viel zu einfältig um sie zu befolgen. Auch wenn sich seit zweitausend Jahren eine immense Schar von Menschen nach dem Namen dieses Kindes benennt, auch wenn ungezählte von ihnen versucht haben, diese einfache Lehre nachzuahmen, selbst unter Einsatz ihres Lebens, so hat sie doch immer wieder versagt, weil die Gier nach der Macht und dem Geld stärker war, und so verhallt sie auch jetzt wieder unerfüllt zwischen den Benzinfässern.»

«Aber nicht genug: Das Geld will noch mehr: So hat es eines Tages angefangen, aus der Geburt des Kindes Profit zu schlagen, und der Erfolg gibt ihm recht. Dabei hat für viele die Begegnung mit diesem Kind gerade solange Bedeutung, wie die elektrischen Kerzen in den Straßen und Schaufenstern der Läden brennen, und sobald sie verlöschen, verlöscht auch wieder die Botschaft.»

Inzwischen hatte ich mich auf einen Kanister gesetzt. Meine Gedanken kreisten. Die Astrologen schritten nun hin zu dem Kind zwischen den elenden Fässern. Sie knieten nieder und sagten:

«Wir haben kein Gold, keinen Weihrauch und keine Myrrhe. Wir haben nur Blut und Tränen, Schweiß und Mühsal. Das bringen wir mit, denn auch in zweitausend Jahren ist es uns nicht gelungen, deine Botschaft für alle verständlich zu machen, denn zum einen hören viele nicht hin, zum andern ist die Botschaft oft verpackt in ein viel zu kostbares Papier, und wer wagt es, zu öffnen.»

Allmählich leerte sich der Platz. Die Astrologen schritten als Erste hinaus, mit ihnen die Frau und der Mann mit dem Kind, und schließlich alle anderen. Das Spiel schien beendet zu sein und sie gingen offensichtlich zurück in ihre Klassen. Sie hatten auch die Lampen ausgeschaltet und der Innenhof wirkte jetzt noch trostloser. So blieb ich ganz allein eine Zeit lang sitzen. Ich fühlte mich zerrissen und geschlagen. Wozu soll das alles noch für einen Sinn haben, wenn die Zukunft so düster aussieht?

Wie ich umständlich aufstehen und gehen wollte, schaute ich zufällig nach oben. Der leuchtende Stern war noch immer da. Dieses Licht, das zu Beginn des Spieles aufgegangen war und über allem schwebte, war noch immer da, unerschütterlich und unmissverständlich.

*

Ich fror. Ein Schaudern durchfuhr mich. In der Bibliothek war es tatsächlich kalt. So wachte ich auf. Vor mir auf dem Tischchen lag noch immer Augustinus, und zwischen den Fingern meiner aufliegenden Hand sah ich die Worte:

«Wach auf du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein. Ja Gott ist Mensch geworden für dich.»

Ich schaute auf die Uhr: kurz vor Mitternacht. Ich hatte also gar nicht so lange geschlafen. Aber ich hatte verstanden. Ich schlug die «Sermones» zu:

«Ja, ja, mein lieber Augustinus, was du da sagst, ist meisterhaft gesagt. Nur die Verpackung ... du weißt, ich muss morgen zu jungen Leuten reden, junge Leute so zwischen dreizehn und sechzehn, Menschen im dritten Jahrtausend – Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben. Ich denke, du bist mir nicht böse ...»

So eilte ich zurück in meine Zelle. Die Nacht würde kurz werden, bald würde es halb sechs schlagen und die Mönche würden zur Mette gehen. Aber dann, um halb acht, würde ich pünktlich im Furren-Schulhaus sein. Ein Skript bräuchte ich diesmal nicht.

 Harry Greis

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