Nur ein Kind

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Nur ein Kind

Eine Weihnachtsgeschichte von Harry Greis

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ie standen lange vor der Krippe, Hand in Hand, wie in den ersten, verliebten Tagen. Schon damals waren sie zu ihr hinaus gewandert, zu dieser Krippe, da draußen im freien Feld bei der alten Kapelle nahe am Waldrand, weit weg von den Dörfern und fern der Stadt. In einer Mauernische unter dem Vordach, durch ein schmiedeeisernes Gitter von Tieren und unbefugten Menschenhänden geschützt, aber für alle sichtbar die vorbeikamen, hatten sich die biblischen Figuren jeweils zur Weihnachtszeit in Szene gesetzt. Sie waren nur aus Gips, in Ölfarbe und Goldbronze gefasst - nicht wertvoll, nicht von einem großen Künstler geschaffen. Ein einfacher Dorfschullehrer hatte sie einst geformt und mit seinen Schülern bemalt. Aber diese Heilige Familie strahlte wenn auch etwas Naives, so doch Liebes, Seliges, Heimeliges aus. Vor der Krippe kniete ein Hirtenknabe und spielte auf einer Blockflöte. Ein Schaf leckte an seinem Wams. Dahinter sass Maria, glücklich und mütterlich, während sich der heilige Josef etwas abseits auf seinen Stock stützte, wohlwollend dem Buben zuhörte und dabei fürsorgend auf das Kind schaute, das in der Krippe lag. Immer brannten Kerzen bei dieser Krippe. Die Kinder mochten sie, drängten ihre Eltern, ihre Großeltern, mit ihnen hinauszuwandern. Aber auch andere Leute kamen. Früher mehr als heute. Damals hielten auch etwa Skiwanderer an, wenn sie auf ihren Brettern vorbeizogen. Aber die Skiruten hatten sich verlagert, zu den Loipen und den Liften.

Die Beiden sind ihr treu geblieben, kamen alle Jahre am Heiligen Abend. Und immer standen sie lange schweigend da, Hand in Hand, so auch diesmal. Sie hatten sich immer ein Kind gewünscht, sehnlichst und innig. «Nur ein Kind,» hatten sie gesagt, «nur ein Kind - wie ist das unser Wunsch.» Und sie betrachteten lange das Christkind in der Krippe. Der Wunsch ging nie in Erfüllung. Dafür hatten ihnen die Jahre Spuren ins Gesicht gezeichnet. Unter den Pelzmützen quollen weiße Locken hervor. Sie hatten längst aufgehört, darüber zu reden, wenn sie zur Krippe kamen. Sie hielten sich nur noch an der Hand. In ihrem Alter war es nicht mehr notwendig, alles auszusprechen, was man dachte und fühlte. Der andere spürte es auch so. Es sollte nie sein - nie ein Kind.

«Wir müssen heimkehren. Bis zur Busstation ist es weit, und im Altersheim legen sie Wert auf Pünktlichkeit», sagte der Mann und sie nickte.

«Meinst Du, wir werden nächstes Jahr nochmals rauskommen?» flüsterte sie leise.

«Wir müssen nur ganz fest daran glauben.»

Sie zündeten eine Kerze an wie alle Jahre.

 Da dröhnten Motoren, dumpf zuerst, dann schrill und immer näher. Und plötzlich löste sich aus einer hochgewirbelten Schneewolke ein ganzer Schwarm schwerer Motorräder, rollte in breiter Linie, die Scheinwerfer eingeschaltet, auf das Paar zu, hielt im Halbkreis. Zum Dröhnen mischten sich Knattern und Krachen. Weißer Nebel quoll aus den vibrierenden Auspuffrohren. Es waren vielleicht neun oder zehn dieser gewaltigen Maschinen mit viel blinkendem Nickel und kunstvollen Malereien auf den Benzintanks und an den Verschalungen - Motorräder, wie man sie im Sommer oft mit jungen Leuten über die Landstraßen donnern sah. Die Scheinwerfer blendeten, obwohl es noch Tag war. Die alten Leute hielten sich fest an der Hand, wie nie zuvor im Leben. Und dann erkannten sie hinter den Scheinwerfern auch die Jungs, die auf den Motorrädern saßen, breitbeinig die eisenbeschlagenen Stiefel in den Schnee hackten und sie - so schien es den alten Leuten jedenfalls - grimmig musterten. Es roch nach einem exotisch fremden Parfüm, aber auch nach Abgas, Öl und Leder. Die Stiefel, die Jeans, die Jacken und die Handschuhe, alles war aus schwarzem Leder - die einen Jeans mit Kordeln auf den Flanken eng geschnürt, die andern mit Fransen verziert, die Jacken mit Reißverschlüssen, Nieten und eigenartigen Emblemen aus verchromtem Stahl besetzt. Unter den Helmen schauten lange Mähnen hervor. Die alten Leute glaubten, ihre letzte Stunde sei gekommen. Sie konnten kaum noch atmen vor Angst.

«He Opa, kannst du uns sagen, wo’s zur Waldackerhütte geht?» schrie einer, vermutlich der Boss der Gang, durch das Dröhnen der laufenden Motoren.

«Wohin?»

«Zur Waldackerhütte! Muss da irgendwo in der Nähe sein!»

Der alte Mann fasste Mut. Er ging näher zu den Motorrädern heran, seine Frau versuchte ängstlich, ihn zurückzuhalten. So laut es seine dünne Stimme zuließ, rief er: «Ja, es ist nicht weit von hier! Fahrt da nach links, dann alles geradeaus durch den Wald bis zu einer Gabelung, dort sofort nach rechts. So kommt Ihr direkt hin!»

«O. k.!»

Es war offenbar doch kein Angriff auf ihr Leben.

«Ich weiß nicht, ob das geht! Es hat Schnee, die Straße wird nicht offen sein!»

«Ach mach dir keine Sorgen Opa! Wir kommen mit unseren Rossen durch - sind alles Heißblüter, ha, ha, ha! Wollen heute, an Weihnachten, ein wenig feiern dort! Willst ein Bier? Komm, kannst ein Bier haben!» Dabei hielt der Boss dem verdutzten Mann eine Flasche entgegen.

«Nein danke, ist mir zu kalt!»

«Auch recht. Los, wir fahren!»

«Was ist denn das da!» krähte eine Stimme, die viel höher klang als die andern. Sie musste einem Mädchen gehören. Der alte Mann konnte es aber nicht erkennen, die Ledermonturen ließen keine Unterscheidung zu.

«Eine Krippe!» brüllte einer, «nichts weiter! Hat’s jetzt an allen Ecken und Enden!»

«Na klar, hab’s nur nicht richtig gesehen! Kann auch nicht kapieren, was die daran so geil finden! Dreht sich ja alles nur um ein Kind!»

Die Motoren heulten höher. Die Maschinen wendeten, die Stiefel hoben sich hoch, Schnee wirbelte auf. Mit Adler- und Totenkopfemblemen auf dem Rücken präsentierten die schwarzen Lederjacken für Sekunden noch ihre grimmigste Seite. Aber der weiße Nebel aus den verchromten Rohren ließ den ganzen Aufzug schnell und wie einen Spuk verschwinden.

Die alten Leute standen eine Zeit lang wie angewurzelt da, auch als die Stille sich längst wieder über die Landschaft gelegt hatte. Noch immer spürten sie den Schrecken in den Knochen. Nun aber ließen sie die Krippe allein und stampften mit entschlossenen Schritten dem Waldrand zu. Sie wollten wenigstens vor dem Eindunkeln bei der Bushaltestelle sein. Der Winterwald, verzaubert wie im Märchen, nahm sie auf. Hochnebel verhüllte den Himmel. Lange sagten sie kein Wort. Auch der Wald schwieg. Nur die Stiefel knirschten im Schnee, manchmal schlugen die Metallspitzen der Wanderstöcke auf einen Stein, ab und zu fiel platschend eine Handvoll Sulz von den Ästen.

«Ich dachte, sie wollten uns etwas tun», sagte die alte Frau endlich. Die Begegnung mit den Motorrädern hatte ihre Gedanken die ganze Zeit im Bann gehalten.

«Sie sind harmloser, als sie aussehen.»

«Was stand hinten auf ihren Jacken?»

«Ich hab es nicht richtig lesen können - etwas mit ‘Angels’ oder so.»

«Engel?»

«Ja, in englischer Sprache - aber ganz sicher nicht ‘Weihnachtsengel’.»

«Wenn sie nur nicht zurückkommen.»

«Iwo, die wollen jetzt in dieser Hütte Weihnachten feiern. Auf ihre Art halt. Schleppten ja ganze Kisten Bier mit.»

«Es sind Frauen dabei.»

«Warum nicht? Heute sind sie ja alle emanzipiert.»

«Aber wie die über das Christkind geredet hat.»

«Sind halt junge Leute.»

«Wir haben uns immer ein Kind gewünscht, und die redet so verächtlich.»

«Sie meinte das Kind in der Krippe. Das haben schon in biblischer Zeit nicht alle verstanden.»

Weiter unten, dort wo die Waldstraße ins Dunkel mündete, lösten sich zwei Gestalten aus dem Hintergrund. Der Größenunterschied verriet es schon von Weitem: ein Erwachsener und ein Kind. Die große Person führte das Kind an der Hand. Es schien, als zerrte sie es, höbe sie die Hand zur Drohung, als wehrte sich das Kind, als trocknete es Tränen mit dem anderen, noch freien Arm. Es war eine Frau, die das Kind neben sich herzog. Als sie die alten Leute sah, wechselte sie ihre Gebärden, streichelte über den kleinen Kopf mit der roten Zipfelmütze, unter der zwei freche Zöpfchen hervorlugten, und redete lieb, aber in dem läppischen Ton, in dem manchmal Erwachsene mit Kindern redeten:

«Weißt du mein kleines Schnuckiputzi, das Christkindchen wartet nicht gerne auf unartige Kinderlein, die zu spät kommen.»

Aber das nützte nun auch nicht mehr viel. Als sie nämlich die alten Leute kreuzten, weinte das Kind noch immer, und dicke Tränen kullerten über seine glühenden Backen.

«Gibt’s Schwierigkeiten?» fragte der alte Mann, mehr aus Mitleid mit dem Kind, als aus Neugierde, denn er hatte sofort gemerkt: Die Frau spielte ihnen etwas vor.

«Das geht Sie nichts an. Müssen uns eben beeilen - wollen Weihnachten feiern.»

«Aber gerade freuen tut es sich nicht darauf.»

«Das wird schon werden - war nicht brav, ja, geradezu frech, ach was soll’s - ist ja nur ein Kind - komm jetzt!»

Die alten Leute blickten dem ungleichen Paar betroffen nach. Das Mädchen tat ihnen leid. Traurige Kinderaugen passten nicht zum Heiligen Abend.

Endlich hatten sie den Wald hinter sich. Aber noch wartete ein weiter Weg bis zu den ersten Häusern der Stadt. Nur ein einzelnes Gehöft lag tief verschneit nahe am Waldrand. Über diesem Bauernhof ruhte allerdings nicht der Friede, der dem hereinbrechenden Abend vor dem Weihnachtsfest eigentlich gebührte. Da gab’s Wirbel und Aufregung. Die Bäuerin hetzte umher wie ein aufgescheuchtes Huhn, rief in jede Richtung. Kinder im Schulalter rannten nach allen Seiten durch den Tiefschnee, krähten, die Hände zum Trichter vor den Mund geformt:

«Emanuela, Emanuela! E-ma-nu-eeee-laaaaa!»

«Glaubst’, die suchen das Kind von vorhin», sagte die alte Frau. Schon eilte die Bäuerin herbei: «Sie haben nicht zufällig ein kleines Mädchen gesehen? Vier Jahre alt?»

«Mit Zöpfen und einer roten Zipfelmütze?»

«Ja, das ist es. Die Kinder spielten im Schnee. Plötzlich war es weg.»

«Wir sahen es vor etwa einer Viertelstunde ... »

«... eine Frau führte es an der Hand. Da oben auf dem Weg zur Krippe bei der Kapelle.»

«Um Gottes willen! Was für eine Frau?»

«Das wissen wir freilich nicht. Aber das Kind weinte, und uns schien das sonderbar am Heiligen Abend.»

«Sie ging auch nicht besonders sanft mit ihm um.»

«Wir müssen ihnen nach.» 

Die Bäuerin war ganz verzweifelt: «Was soll ich nur tun? Mein Mann und der Knecht sind noch in der Stadt, ich bin allein mit den Kindern, hab nicht mal ein Auto da.»

 «Sie sollten die Polizei rufen.»

 Die Kinder stürmten heran: «Was ist Mami?»

 «Wissen wir jetzt, wo Emanuela ist?»

 «Ich denke, Sie sollten die Polizei ...»

 «...Sie meinen ...»

«... wir hatten das Gefühl, das Kind ging nicht freiwillig mit der Frau ...»

 «... es wird doch nicht etwa ... ja ich muss die Polizei rufen.»

Ein etwa Vierzehnjähriger, der älteste der Schar, drängte sich vor: «Bis die Polizei da ist, sind die über alle Berge.»

«Ich werde ihnen nachgehen», sagte der alte Mann.

«Nein, das ist zu gefährlich,» seine Frau hielt ihn fest, «du bist nicht mehr schnell und stark genug, du bist fünfundsiebzig.»

«Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren, ich versuche es wenigsten. Rufen Sie die Polizei. Meine Frau bleibt bei Ihnen.»

«Ich komme mit!», bestimmte der Vierzehnjährige, «hole nur schnell die große Laterne.» 

Die Bäuerin rannte ins Haus, um zu telefonieren. Immer wieder schlug sie die Hände zusammen und seufzte: «Unser Kleinstes mit einer Fremden da draußen im Wald - es kann sich ja nicht wehren - es ist doch nur ein Kind.»

Der alte Mann gab sein Bestes, vermochte aber nicht zu laufen, wie er wollte. Dazu führte der Weg auch noch bergauf. Er keuchte. Der Junge hingegen trabte leicht neben ihm her.

«Hier haben wir sie gesehen, allerdings vor einiger Zeit. Die dürften inzwischen schon weit sein», sagte der alte Mann, als sie zu der entsprechenden Stelle gelangten.

«Emanuela kann ja auch nicht so rasch gehen», erklärte der Vierzehnjährige mit kluger Mine. «Wenn die Frau zum Beispiel an der Kapelle vorbei und dann auf der andern Seite zu Dorf hinunter will, könnten wir sie vielleicht doch einholen.»

«Ja, wenn sie das tut.»

«Schauen Sie, da sind ihre Spuren. Große und kleine, nahe beieinander.»

«Das stimmt, und da ... und da ... haben sie angehalten, sind sie stehen geblieben. Wir könnten Glück haben. Siehst du, da schon wieder ... Von hier an gibt’s nur noch eine Spur, sie wird das Kind getragen haben ... Jetzt musste es wieder selber gehen.»

«Sie kennen sich aus im Spurenlesen.»

«Hab ja auch mal Karl May gelesen.»

Hinter der Kapelle hörten die Spuren auf. Das heißt, die Fußspuren. Dafür folgten die Abdrücke von Autopneus. Sie führten zur Straße in der Richtung, die der Vierzehnjährige vermutet hatte.

«Jetzt haben wir’s. Aus und fertig! Ich erinnere mich, da parkte ein Auto.»

«Welche Marke?»

«Ach, was weiß ich alter Mann. Ein kleiner Wagen, rot - mehr ist mir nicht geblieben.»

«Verdammte ...»

Dem Vierzehnjährigen blieb der Fluch im Hals stecken, denn just in diesem Moment hörten die beiden das dumpfe Dröhnen, das der alte Mann schon kannte. Weit von oben knatterten die Motorräder heran. Nicht alle zehn, aber doch eine ganze Schwadron.

«Rocker!» schrie der Junge. «Nichts wie weg! In die Kapelle!»

Der alte Mann aber rannte, so schnell er überhaupt vermochte, zur Straße. Der Vierzehnjährige hielt ihn für wahnsinnig. Schon waren die Motorräder da. Sie stoppten, der Alte trat vor sie hin.

«Aber Opa, noch immer da bei deiner Krippe?» rief ihm der Boss zu. «Danke für den Hinweis, haben die Hütte gefunden. Müssen nur nochmals runter! Haben zu wenig Food gepostet!»

«Habt Ihr eine Frau mit einem Kind gesehen?»

«Nein! Was ist mit der?»

«Sie hat das Kind entführt!»

«Das gibt’s doch nicht! So eine Sauerei!»

«Sie ist mit einem Auto von hier aus abgehauen! Da runter!»

«Kennt Ihr den Wagen?»

«Ein kleiner, roter!»

«Hast du Angst auf dem Motorrad Opa?»

«Bin früher auch etwa mit einem mitgefahren!»

«Und du Kleiner?»

«Nein!»

«Los sitzt auf, die holen wir ein! Aber schnell!»

Der alte Mann war froh, konnte das seine Frau nicht sehen. Sie hätte sich zu Tode geängstigt. Mit fünfundsiebzig Jahren hinten auf dem Motorrad eines Rockers ... Aber es ging jetzt um etwas ganz anderes, es ging um ein Kind. Und nur das Kind war wichtig. So hielt er sich an der Lederjacke des Burschen fest und sprach sich innerlich Mut zu. Auch dem Vierzehnjährigen klopfte das Herz. Sie trugen zudem beide keinen Helm, was nicht nur verboten, sondern auch gefährlich war. Auf der schneebedeckten Naturstraße schlitterten die Räder manchmal, vor allem in den Kurven. Unten auf der trockenen Landstraße hingegen ging die Fahrt im Höllentempo los. Fünf schwere Harley-Davidsons - der Junge hatte das inzwischen mit nicht wenig Stolz entdeckt, donnerten über den Asphalt. Die Nacht fiel ein.

«Da, da ist das Auto!» schrie der alte Mann, obwohl sein Vordermann keinen Ton davon hören konnte. Da er aber gleichzeitig mit der Hand in der Luft herumfuchtelte und auf den kleinen roten Wagen deutete, kapierte der Boss. Er gab ein Zeichen, fuhr vor das Auto, die anderen Maschinen daneben, einer hinten her, langsam bremsten sie es ab, drängten es an den Straßenrand, bis es stillstand. Der Vierzehnjährige sprang vom Beifahrersitz. Hinten im Fond des Wagens sass sein Schwesterchen. Sie hatten es geschafft.

 

Inzwischen war die Polizei eingetroffen, mit mehreren Streifenwagen - fast gleichzeitig auch der Bauer und der Knecht. Keiner glaubte, dass der alte Mann und der Vierzehnjährige das Kind finden könnten. Über den Äther wechselten Funksprüche. Der Konvoi fuhr durch den Wald, die Straße hinauf zur Kapelle. Dort gab der Einsatzleiter seinen Plan bekannt. Die Streifenwagen sollten in alle Richtungen ausschwärmen. Niemand konnte sich erklären, wer diese Frau war, warum sie das Kind mitnahm, wohin sie gegangen war und was sie mit ihm vorhatte. Ein Rätsel auch die vielen Radspuren im Schnee.

Noch standen die Polizisten im Licht ihrer Streifenwagen, als ein tiefes Brummen anhob, das schnell zum Dröhnen anschwoll. Die Motorräder rollten geradewegs mitten in die Runde. Die Polizisten sprangen zur Seite, wollten darauf eingreifen. Der Bauer verstand erst gar nichts, sah dann aber durch das Gegenlicht der Scheinwerfer vorne auf dem Benzintank des Bosses die rote Zipfelmütze und die beiden Zöpfchen.

Da sprang auch schon der Junge vom Sozius: «Vater, wir haben Emanuela rausgehauen. Unsere Freunde haben das Auto regelrecht geentert. Läck - das war vielleicht eine tolle Sache. Das da sind richtige Harley-Davidsons!»

 «Was für ein Auto? Welche Freunde? Vor allem, wer war die Frau?» fragte der Vater, während er sein Töchterchen auf die Arme nahm und an sich drückte.

 «Die Magd, die wir im Frühling entlassen haben, weil sie geklaut hatte», antwortete der Vierzehnjährige. «Sie hat geweint. Sie sagte, jedes Jahr wäre sie bei Kindern gewesen an Weihnachten, und jetzt sei sie ganz allein, und da wollte sie sich für die Weihnachtsfeier ein Kind holen.»

«Sie ist geistig etwas zurückgeblieben», sagte der Bauer zum Einsatzleiter.

 «Wo ist sie jetzt?», fragte dieser.

 «Weitergefahren», gab der Boss zur Antwort. «Wir ließen sie laufen, sie heulte wie ein Gof und sagte, es tue ihr leid. Wir konnten sie doch nicht verhaften. Oder?»

 «Stimmt natürlich, ja doch, schon ein Auto auf offener Straße zum Anhalten zwingen, ist nicht legal.»

 «Und der Mann und der Junge da ohne Helm!» rief ein anderer Polizist.

 «Ach so ist das, da hilft man euch ein entführtes Kind zu retten, und ...»

 «... schon gut. Ich habe jedenfalls niemanden beim Fahren ohne Helm gesehen», sagte der Einsatzleiter, und er sagte es ganz klar und bestimmt: «Wir suchen ein Kind, keine Verkehrssünder. Niemand hat jemand ohne Helm fahren sehen. Oder?»

 Stille.

 «O. k. Gut habt Ihr die Frau nicht festgenommen, das hätte Probleme gegeben. Aber kennt Ihr ihre Adresse?»

 «Die Autonummer. Da.»

 Der Einsatzleiter streckte den Zettel einem der Polizisten hin: Gebt sie per Funk durch. Erklärt denen in der Zentrale aber die Umstände. Sollen schonend vorgehen.

Nun kletterte auch der alte Mann vom Motorrad herunter. Seine Beine waren steif geworden. Er vermochte kaum noch zu stehen. Aber sein Gesicht glühte vor Freude. Er konnte es kaum erwarten, seine Frau wiederzusehen. So oft waren sie zusammen an Weihnachten hierhergewandert. So viele Jahre hatten sie sich ein Kind gewünscht - heute fanden sie eines, wenn auch nicht das eigene.

Anerkennend klopfte er dem Boss auf die Schultern: «Danke, danke vielmals, ohne euch hätten wir das nicht geschafft. Ihr seid doch richtige Weihnachtsengel.»

Der Boss reichte dem alten Mann die Hand. Aber nicht so, wie das üblich ist, mit der Handfläche in die Handfläche - er fasste ihn vielmehr am Handgelenk. Der alte Mann verstand sofort und tat das Gleiche. Es war ein spezieller Gruß, wie er unter den Motorradklubs so üblich war. Er wurde nur denen gewährt, die man akzeptiert hatte.

Da näherte sich ein Auto, hielt an, das Fenster ging runter: «Was ist denn da los. Ein Unfall?»

Das Mädchen unter den Motorradfahrern stand zufällig daneben, beugte sich zum Fenster:«Ein Kind ist entführt worden.»

«Und jetzt?»

«Es ist wieder da.»

«Was ist los?» machte jemand auf dem Beifahrersitz.

«Ach nichts Wichtiges. Nur ein Kind», sagte der Autofahrer und fuhr weiter.

Das Mädchen ärgerte sich. Am liebsten hätte es einen Stein genommen und dem Wagen nachgeschleudert. Denn genau in diesem Moment war ihm etwas aufgegangen. Es schaute auf Emanuela, die auf den Armen ihres Vaters eingeschlummert war und schaute zur Krippe, wo das Jesuskind im Licht der fast abgebrannten Kerzen lag.

Die Polizisten, der Bauer samt Knecht und Sohn und auch der alte Mann setzten sich in die Autos und fuhren zum Bauernhof hinunter. Der Motorradklub ratterte in Richtung Waldhütte. Eine Maschine blieb zurück. Eine junge Frau in schwerer Ledermontur blieb am Gitter angelehnt, betrachtete lange die Krippe. Dann warf sie ein Geldstück in den Schlitz einer Kasse und zündete eine Kerze an - nicht ohne sich vorher umzuschauen, ob sie ja niemand beobachtete.

Sie glaubte zu sehen, wie ihr das Kind in der Krippe zulächelte. Sie wusste zwar, das war unmöglich, aber sie glaubte trotzdem daran. Dann zog sie das Visier ihres Helms herunter, stülpte die dicken Handschuhe über, schwang sich auf die Harley-Davidson und brauste ihren Kollegen nach. Zurück blieb nur die Krippe und in ihrer Mitte, im Schein einer frischen Kerze - ein lächelndes Kind.

Harry Greis

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