Alles ist Windhauch

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Alles ist Windhauch

Eine Weihnachtsgeschichte von Harry Greis

Marcel war sauer. Seit einer geschlagenen halben Stunde versuchte er nun, sein Auto zu parkieren. Es schien völlig aussichtslos, eine Lücke in den Reihen zu finden, und gab es dann doch mal irgendwo ein Loch, besetzte es in Sekundenschnelle ein anderer. Zum letzten Mal vor Weihnachten blieben die Läden länger offen, und viele Leute wollten den Abendverkauf noch nutzen. So auch Marcel, denn bisher hatte er noch so gut wie nichts unter den Christbaum gekauft. Genervt kurvte er in der Stadt umher und ärgerte sich über alle anderen. Nicht nur die Autofahrer, die wie er die Straßen verstopften und die Parkplätze beschlagnahmten, erregten seinen Missmut, auch die Velofahrer, die Bußfahrer und die Fußgänger, die mit Einkaufstaschen, Paketen oder Christbäumen unter dem Arm ständig vor seiner Motorhaube kreuzten. Dabei sollte Marcel noch eine ganze Liste von Geschenken einkaufen, und er wusste nicht, ob er alles bekommen würde, was die Kinder auf den Wunschzettel geschrieben hatten.

«Wäre ich doch über Mittag gegangen», dachte er und verpasste dabei wieder um eine Wagenlänge eine der heiß begehrten Parknischen. Aber über Mittag war er, wie immer an diesem Wochentag, beim Englischkurs gewesen, den eine ganze Gruppe von Erwerbstätigen gleichzeitig mit einem Mittagessen in sich hineingestopft hatte. Und morgen? Da war das Fitnesscenter an der Reihe, und das ließ er nie aus. Ja, und am Abend stand dann das Firmenessen in der Agenda. Überhaupt, die Firma lag ihm im Moment auf dem Magen. Einerseits gab es für den Jahresabschluss noch eine ganze Menge zu tun, andererseits wusste der Prokurist schon jetzt nur allzugut: Das gesteckte Ziel würde nicht erreicht werden.

Während er abwechselnd Gas gab und aufs Bremspedal trat, wie ein Sperber nach allen Seiten spähte und immer ungeduldiger wurde, dachte er mit einem beklemmenden Gefühl in der Bauchgegend an den morgigen Abend: Der Chef würde bei der Tischrede nicht nur lobende Worte finden, das wusste er, und dabei hatte er sich soviel Mühe gegeben. Mehr als notwendig hatte er Arbeiten mit nach Hause genommen oder war im Büro geblieben und hatte bis spät in die Nacht hinein gebucht. Die eigene Familie hatte bereits begonnen, sich darüber zu beklagen. Marcel kratzte sich in den Haaren und drehte das Radio leiser. Irgend so ein deutscher Fußballklub versuchte sich da mit «Leise rieselt der Schnee».

«Ach, die Familie, der habe ich doch noch vor Weihnachten einen Skitag versprochen .... Samstag? ... geht nicht, da bin ich mit dem Vorstand des Videoklubs verabredet. Wir müssen dringend die elektronische Schneideanlage auf den neusten Stand bringen, da darf ich wirklich nicht fehlen ... Vielleicht am Sonntag? ... Da! Blöder Latschi! Nimmt einem einfach den Parkplatz vor der Nase weg!»

Marcel drehte gereizt das Radio ganz aus und gab wieder Gas.

«Ach, dieser idiotische Weihnachtsrummel hängt mir langsam aber sicher zum Hals raus! Was brauche ich da rumzurasen und einen Haufen Geld auszugeben, wo sich doch bald jeder seinen Quatsch selber kaufen kann. Sogar die Gofen haben heutzutage Sackgeld zur Genüge und wissen kaum mehr, was sie sich wünschen sollen.» Eine alte Frau überquerte die Straße, und Marcel musste ausweichen.

«Nächstes Jahr nehme ich das Auto und fahre irgendwohin, wo es keine Weihnachten gibt, dann habe ich meine Ruhe .... Da ist einer frei!»

Zwar sieht Marcel die eingeschalteten Rückfahrlampen des Wagens, der gerade dabei ist, korrekt in die Parklücke zu rollen, aber das ist ihm jetzt völlig egal. Er tritt aufs Gas und bremst. Es quietscht. Er landet auf dem Parkfeld - ziemlich quer zwar, aber dafür zuerst. Und genau da kracht es auch schon.

Leichenblass steigt Marcel aus und betrachtet den verbeulten, vorderen Kotflügel. Der Schaden verhält sich in Grenzen, aber er genügt, um den strapazierten Mann vollends auf die Palme zu bringen. Er reißt die Wagentür des anderen Autos auf und schreit die Fahrerin an, die ganz verdattert dasitzt und nicht weiß, was sie jetzt machen soll:

«Sie sind doch eine selten dumme Kuh! Schauen Sie mal, was Sie angerichtet haben! Lernt Ihr Weiber denn nie richtig Auto fahren?»

«Ich habe Sie nicht gesehen, und überhaupt: Ich war zuerst!»

«Was zuerst? Ich war zuerst drin, das dürfte doch wohl klar sein. Da, sehen Sie: Wo steht mein Karren und wo Ihr blöder Göpel?»

Ein Passant am Trottoirrand mischt sich ein: «Die Frau war zuerst, ich hab’s gesehen.»

«Ach kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist.»

Von beiden Seiten hupen Autos. Leute bleiben stehen und schütteln den Kopf. Marcel steigt in seinen Wagen und sieht, wie die Frau wegfährt und sich in den fließenden Verkehr einordnet. Es reicht ihm gerade noch, ihre Nummer zu notieren. Jetzt kocht er vor Wut. Da spürt er plötzlich das unangenehme Ziehen in der Herzgegend, das ihm in letzter Zeit schon ein paar Mal aufgefallen ist. Er greift an die Brust. Aber er will sich jetzt wirklich nicht mit solchen Lappalien befassen. Er vergisst die Weihnachtsgeschenke, die er eigentlich einkaufen will und derentwegen er den Parkplatz erobert hat. Es geht ihm jetzt einzig und allein darum, zu seinem vermeintlichen Recht zu kommen. Er will zur Polizei gehen und die Frau anzeigen, die nach seiner Meinung eindeutig Fahrerflucht begangen hat.

Schwer atmend zwängt er sich nun selber als Fußgänger durch den Straßenverkehr und nimmt dann die Abkürzung durch den Garten des ehemaligen Klosters, wie das so üblich ist, und wie es auch an diesem Abend besonders viele Leute tun. Kaum hat er den mittelalterlichen Kreuzgang erreicht, meldet sich erneut das Stechen in der Herzgegend, und er spürt eine Schwäche, die ihn ganz bleiern macht. Mit letzter Kraft schleppt er sich zur offenen Seite des Kreuzgangs und setzt sich zwischen die Arkaden, um zu verschnaufen. Schweiß tritt auf seine Stirne. Vor seinen Augen beginnt sich alles im Kreis zu drehen, dann wird es dunkel. Eine Zeit lang bleibt er weg.

 

*

 

Als Marcel wieder zu sich kam, schien ihm, als hätte sich etwas nachhaltig verändert. Das Erste, was er bemerkte, war Stille. Kein Laut mehr drang von der Stadt und dem turbulenten Verkehr des Abendverkaufs an sein Ohr. Die Stimmen der Leute, die eben noch geschäftig schwatzend und Maroni essend durch den Kreuzgang gedrängt hatten, das Johlen dieser Handvoll Buben, die ihn beim Betreten des Kräutergartens beinahe über den Haufen gerannt hatten - all das war jetzt wie weggeblasen. Überhaupt fehlten die Menschen. Das Einzige, was Marcel sah, war der spärlich beleuchtete lange Flügel des Kreuzgangs und außerhalb der Arkaden das fahle Licht des Mondes, das den verschneiten Innenhof bläulich einfärbte. Schnee? Eigenartig. Marcel fror gar nicht, obwohl er, wie es ihm schien, nun schon eine ganze Weile auf dem Mäuerchen sass.

Aber die Stille regte ihn innerlich auf. Trotzdem machte er keine Anstalten, ihr zu entfliehen und wieder in die belebte Stadt hinauszueilen. Die Sache mit dem Zusammenstoß hatte er völlig vergessen. Zunächst hielt sich ein ganz feines Pfeifen auf einer gleichbleibenden Tonhöhe hartnäckig im Ohr, wie er es schon gehört hatte, wenn beim Fernsehen das Programm plötzlich ausgefallen war. Es war unangenehm und veränderte sich lange Zeit nicht. Dann aber ebbte es doch allmählich ab, und mit einem Mal entdeckte Marcel, dass die Stille gar nicht lautlos war. Mit sanftem Hauch bewegte der Wind die blätterlosen Bäume und Sträucher im Hof des Kreuzgangs. Irgendwo, so schien ihm, gurrte eine Taube, und eine ferne Glocke beierte, vom Schnee gedämpft, in die Nacht.

Illustrastion von Harry GreisNun aber holte ihn ein neues Geräusch aus dem Staunen. Gleichmäßig, schwerfällig und mit viel Widerhall näherten sich Schritte. Marcel versuchte etwas zu entdecken, aber es dauerte lange, bis er die Gestalt sah, die sich aus der Dunkelheit löste. Sie kam langsam heran und trug ein schwarzes Kleid, das in unzähligen kleinen Falten bis zu den Knöcheln reichte. Marcel erkannte im schwachen Licht eine Kutte. Es war ein Mönch. Die Hände in den weiten Ärmeln verborgen, die Kapuze über den Kopf gezogen, schritt er durch den Kreuzgang. Seinen Blick warf er nur wenige Meter vor sich auf den Sandstein. Von dem Mann, der in der Arkade sass, nahm er keine Notiz. Der Mönch meditierte.

Marcel staunte mit offenem Mund. Obwohl die Erscheinung eigentlich ganz gut in diese Kulisse passte, kam sie ihm ungewohnt vor. Die letzten Mönche hatten das Kloster doch vor bald fünfhundert Jahren verlassen. Soviel wusste er noch aus dem Geschichtsunterricht. Der Mönch kehrte beim Seiteneingang zur Münsterkirche um und kam wieder näher. Marcel nahm sich vor, ihn diesmal anzusprechen. Zwar wusste er nicht so recht, warum er das tun und noch weniger, was er fragen wollte.

«Kalt draußen .... Äh ... ein wenig am Beten?» stammelte er, als ihn der schwarze Mönch kreuzte.

Der Mann Gottes drehte sich nur ganz wenig zu Marcel und hielt stumm zwei Finger über die Lippen. Das Zeichen des Schweigens.

«Blödian», knurrte Marcel und war jetzt entschlossen, sich ihm in den Weg zu stellen, sobald er erneut zurückkäme.

Es verstrich aber eine geraume Weile, bis es soweit war: «Für wen arbeiten Sie?»

Der Mönch stand nun doch still und flüsterte leise: «Für Gott.»

«Das kann ich mir denken. Aber ich meine, wo kommen Sie her, was tun Sie hier? Oder hat sich da irgendein Geschäftsmann am Ende einen Werbegag für den Weihnachtsverkauf ausgedacht?»

«Alles Windhauch.»

«Ja, es windet, wir sind da auch praktisch im Freien.»

«Nicht das meine ich.» Der Mönch sprach jetzt merklich lauter, aber ohne jede Hetze: «Alles da draußen, die Leute, die von Kaufmann zu Kaufmann eilen, die ungezählten Kerzen, die nicht ausgehen, auch wenn man sie ausblasen will, die Kutschen, die sich ohne Pferde bewegen, der eigenartige Schnitt der Gewänder - alles ist Windhauch, alles ist Luftgespinst - alles ist vergänglich - nur das Ewige hat Bestand.»

«Ich verstehe, Sie sind Mönch, es gehört ja wohl zu Ihrem Job, so zu reden. Wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, in welcher Mission Sie hier sind, woher Sie kommen?»

«Man nennt mich Bruder Frowin. Hier im Kloster zu Allerheiligen habe ich im Jahre des Herrn 1175 meine Gelübde auf die Regel des heiligen Benedikt abgelegt.»

Marcel grinste ungläubig. Entweder machte da einer das Kalb mit ihm oder er war im Begriff, den Verstand zu verlieren:

«Aha, dann wären Sie - warten Sie mal - dann wären Sie so etwa 850 Jahre alt. Gratuliere!»

Marcel fand es nun doch recht peinlich. Er schaute betroffen zur Seite. Dabei streifte sein Blick den Durchgang zum Hof mit der Schillerglocke. Sie war weg! Ja selbst der Sockel fehlte! War er am Ende womöglich doch selber nicht ganz bei Trost? Unsicher fühlte er sich jetzt auf jeden Fall. Er starrte dem Mönch nur wortlos in die dunklen Augen. Der aber hielt seinem Blick stand und schwieg eine ganze Weile, ehe er weiterfuhr:

«Wie ich sagte, alles ist Windhauch.»

«Seit Ihrer Zeit sind Jahrhunderte vergangen. Sie können heute Ihre Maßstäbe nicht mehr anwenden. Wir leben in einer modernen Zeit, nicht mehr im dunklen Mittelalter.»

«Ich weiß.»

«Inzwischen haben Revolutionen stattgefunden, die Reformation, die Aufklärung, die Proklamation der Menschenrechte.»

«Ich weiß.»

«Wir haben Hightechnik, sind weltweit vernetzt, haben jede Menge Information sofort griffbereit. Heute zählt, was Geld bringt. Da muss was gehen. Jeder kann’s zu etwas bringen, wenn er nur genug leistet. Und wenn man schon Geld verdient, dann will und darf man das auch ausgeben.... Wir tun’s ja nicht nur für uns. Sehen Sie gerade jetzt in der Weihnachtszeit, da kaufen alle ein, um andere zu beschenken.»

«Windhauch.»

«Jetzt hören Sie mal gut zu. In Ihrer Zeit haben ein paar Privilegierte alles gehabt, und die armen Schlucker mussten ihnen den Zehnten abliefern. Das war wohl auch so ein Windhauch.»

«Ihr richtet euren Zehnten an den Erfolg, an die Karriere.»

«Davon haben wir wenigstens etwas.»

«Und richtet euch zugrunde ...»

«... keine Zeit war so gesund wie unsere. Wir haben die Seuchen besiegt, die Lebenserwartung steigt.»

«Ich gebe zu, wir hatten die Pest und viele andere Übel. Aber der Herzinfarkt ist eine Erscheinung eurer sogenannten modernen Zeit.»

«Was versteht denn schon ein Mönch, und dazu einer aus dem Mittelalter, von den Anforderungen des modernen Lebens, von materiellen Werten und von wirtschaft­lichen Praktiken?»

«Auch ich war nicht immer Mönch.»

Bruder Frowin hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, aber Marcel blieb dicht an seiner Seite. Der sonderbare Mönch aus dem Mittelalter interessierte ihn. So schritten sie zunächst wortlos durch zwei Flügel des Kreuzganges. Im Innenhof hatte es zu schneien begonnen.

«Ich war ein Sohn aus edlem Hause und sehr begabt. Ich darf wirklich sagen, alles, was ich in die Hände nahm, brachte Erfolg. Das hatte schon in meiner Kindheit begonnen. Kein anderer Knabe lief schneller als ich, keiner sang so hell und rein, und keiner wagte es, sich mit mir anzulegen, denn alle respektierten meine Muskelkraft. Als Jünglinge maßen wir uns dann in Wettkämpfen. Ein Freund und ich rangen stets um den Sieg. Beim Schwimmen, beim Reiten, beim Bogenschießen. Später stürzten wir uns mit Eifer ins Studium der Wissenschaften. Er schrieb glänzende Verse, die ich als brillanter Rhetoriker vortrug. Im Fechten vermochte uns niemand das Wasser zu reichen. Nicht zuletzt dank unserer familiären Herkunft übten wir bereits damals starken Einfluss auf viele Menschen aus. Man sagte uns beiden eine große Zukunft voraus.

Aber dann verliebten wir uns in dasselbe Mädchen. Das Spiel der Kinder und der sportliche Wettstreit der Jugend wandelten sich nun zur ernsthaften Rivalität. Ihr Lächeln, ihre Zuneigung galt immer mehr ihm. Das weckte meinen Neid. Aus dem Neid wurde Abneigung und aus der Abneigung Hass. Ich grübelte nächtelang, wie ich ihn zu übertrumpfen vermöchte. Eines Tages provozierte ich ihn in feiner Gesellschaft, und er ließ sich zu einer Unflätigkeit hinreißen, die genügte, um ihn zu einer Fehde herauszufordern. Wir kämpften verbissen, glühend vor Leidenschaft und tödlicher Verachtung, bis ich ihn mit dem Schwert in die Brust traf und er wenige Stunden später starb.

Das Mädchen wollte nun von mir erst recht nichts mehr wissen und verschwand aus meinem Gesichtskreis. Ich selber erkrankte, fieberte und hustete. Alle meine Kräfte verließen mich, und ich machte mir ernsthafte Gedanken, wie ich meinem verlorenen Freund in den Tod folgen könnte. Da gebot mir der Arzt unbedingte Ruhe, und ich reiste hierher in dieses Kloster, wo ich mich im Gästehaus einrichtete. Ich verbrachte lange Monate in dieser Stille und Abgeschiedenheit. Am Anfang erschien mir alles fast unerträglich. Ich verkraftete die befohlene Ruhe und Stille nicht. Ich durfte nicht mehr reiten, nicht mehr auf die Jagd gehen, schon gar nicht fechten - nur da sein und lesen. Und wie ich mich durchrang, es zu ertragen, kamen Ruhe und Klarheit in meinen Alltag, ich drosselte das Tempo, in dem ich lebte und erkannte: Es gab noch andere Werte in meinem Leben. Anderes, als nur das Streben nach Geld, nach Ruhm und Erfolg. Ich lernte eine neue Dimension kennen: die Stille.»

Marcel brachte kein Wort über die Lippen, obwohl der Mönch jetzt wieder eine ganze Zeit lang schwieg. Stille! Der kann gut reden. Das ist hier und heute schlicht nicht machbar.

«Sehen Sie, der Mensch kann nicht wie ein Mühlrad ständig in Bewegung, ständig tätig sein. Er muss ausspannen, ruhen, hinhören und aufnehmen können, mehr noch, er muss loslassen, loslassen von all dem, an das er sich so krampfhaft klammert - dann erst findet er zu sich selbst.»

Zum ersten Mal in diesem Gespräch zog Frowin die Hand aus dem weiten Ärmel seiner Mönchskutte und hielt sie mahnend in die Höhe, so wie er das in seinen jungen Jahren als Redner getan haben mochte:

«Gerade der Advent ist eine solche Zeit - Geschenke machen, Freude machen - ja, das alles ist gut und schön, aber machen Sie sich doch selbst ein Geschenk: Lassen Sie einmal alles stehen und liegen, gehen Sie weg aus dem ganzen Betrieb und werden Sie still - und ob Sie’s nun wollen oder nicht, Advent ist auch in Ihrer geschäftigen und gehetzten Epoche noch immer die Vorbereitungszeit auf Weihnachten, das Warten auf die Ankunft des Christuskindes.»

Marcel hatte keine Antwort darauf. Er blieb stehen und blickte dem Mönch lange, lange Zeit geradewegs ins Gesicht und in die Augen, die wohltuende Ruhe verströmten.

 

*

 

Da wachte er auf. Er lag in blütenweißen Kissen in einem hell erleuchteten Raum, und rund herum blinkten komplizierte Apparaturen mit Metern, Schläuchen und Sauerstoffflaschen. Marcel erschrak. Blitzartig kam die Wirklichkeit zurück: Spital! Aber, noch ehe er sich aufzurichten vermochte, um zu fragen, was mit ihm passiert sei, beugte sich über ihn der Arzt im weißen Kittel, das Stethoskop am Hals baumelnd. Dieses Gesicht mit den dunklen Augen erkannte Marcel sofort. Ja, es waren die Züge des seltsamen schwarzen Mönchs, mit dem er eben noch durch den Traum gewandelt war. Mit derselben, leisen und beruhigenden, bereits vertrauten Stimme sagte der Arzt:

«Sie haben Glück gehabt. Sie haben ein starkes Herz. Aber als man Sie zu uns in die Intensivstation brachte, befürchteten wir das Schlimmste.»

Marcel schoss hoch: «Mein Auto, es steht noch auf dem Parkplatz an der ...»

«... keine Sorge, das haben wir zusammen mit der Polizei bereits in Ordnung gebracht.»

«Ah die Polizei - da ist noch ... warten Sie, in meinem Mantel steckt ein Zettel mit der Autonummer von der Frau. Man muss sie anzeigen!»

Der Arzt drückte Marcel behutsam ins Kissen zurück: «Vergessen Sie es. Wer im Weihnachtsverkauf um Parkplätze streitet, riskiert schon mal eine Beule.»

«Woher wissen Sie...?»

«... die Frau hat sich selber bei der Polizei gemeldet, nachdem sie endlich irgendwo das Auto hinstellen konnte. Sie hat natürlich erklärt, Sie hätten ihr den Parkplatz weggeschnappt.»

«So eine verd....»

«Nein, nein. Das ist eben genau das, was wir jetzt nicht brauchen können. Für Sie gibt es etwas viel viel Wichtigeres: Ruhe, Entspannung, Stille. Hingegen werden wir Ihre Familie benachrichtigen. Ihre Frau weilte einige Stunden hier an Ihrer Seite. Wir haben sie heimgeschickt, als Sie wieder gleichmäßiger atmeten.»

Marcel blieb einen Moment wie betäubt liegen. Dann flüsterte er schon merklich ruhiger: «Ich muss noch soviel erledigen für Weihnachten, Geschenke ...»

«Ruhig.»

«Und der Geschäftsabschluss ...»

«Der geht auch ohne Sie - vergessen Sie alles.»

«Und Weihnachten? Bin ich an Weihnachten bei meiner Familie?»

«Es könnte möglich sein, aber nur, wenn Sie selber mithelfen. Lernen Sie ruhig zu sein - genießen Sie die Stille.»

Der Arzt verließ das Zimmer. Marcel drehte den Kopf. Durch eine Glaswand sah er inmitten von Tannenzweigen eine violette Kerze brennen. Der Mann erinnerte sich an die Zeit seiner Kindheit. Damals hatten sie im Advent auch immer Kerzen angezündet. Jeden Sonntag eine mehr - und dann war Weihnachten immer ein großes Ereignis.

Lange schaute er ins kleine Flämmchen, bis es sich zu einem einzigen, strahlend hellen Punkt verdichtete. Wach diesmal, aber in Gedanken versunken, sah er darin wieder das Gesicht Frowins, und er erinnerte sich an das Zwiegespräch mit dem Mönch im Allerheiligen-Kreuzgang. Und plötzlich spürte er es ganz fein und lautlos - beinahe wie ein Windhauch - es war Advent.

Harry Greis

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