Am Ende des TunnelsSmallheader Kurzgeschichten

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Das Leben ist wie ein Kreis - niemand weiss genau, wo es anfängt, und wo es endet - niemand weiss genau, was vorher war und was nachher sein wird. Aber wir alle haben eine Ahnung, die tief in uns drin ist und die uns begleitet, durch alle unsere Tage.

 

Am Ende des Tunnels

Eine Kurzgeschichte von Harry Greis

 

Nun stand er da, ganz allein und hörte in weiter Ferne die andern. Nur Fetzen, nichts Konkretes. Auch keine Rufe, oder riefen sie nach ihm? Suchten sie ihn bereits? Nein, nichts deutete darauf hin. Sie hatten ihn offensichtlich noch gar nicht vermisst. Die Lampe war ausgegangen und es war stockdunkel. Nicht dunkel, wie die Nacht, das hätte er ertragen, er hatte die Nacht geliebt, er war seiner Lebtag ein ausgesprochener Nachtmensch gewesen. Aber in der wirklichen Nacht war immer noch irgendwo ein Licht und er konnte sich orten. Aber jetzt war es nur schwarz, rabenschwarz. Jetzt war er blind. Warum nur hatte er sich von der Gruppe entfernen müssen, Neugierde? Eigenbrötlerei? Dieses Wort hatte er in der näheren Vergangenheit schon ein paar Mal gehört. So ein Unsinn. Er hatte seinen Weg noch immer gefunden und immer hatte er seinen Willen durchgesetzt, gegen alle. Das musste er auch. Er musste immer für alle denken, musste sie führen, war für sie verantwortlich, als Betriebsleiter, als Vereinspräsident, als Politiker in der Gemeinde, als Familienoberhaupt. Es war doch gut, wenn ich sie führte. Ohne mich wären sie nichts gewesen, sie hatten mich doch gebraucht, alle. Und jetzt, wo ich sie brauche - wo sind sie?

Die Stimmen waren fast verstummt, nur ab und zu drang noch ein Laut durch die Stille, meistens in höherer Frequenz, von Frauen oder Kindern - wiederholend und sich dann im Labyrinth verflüchtigend. Er setzte vorsichtig Fuss vor Fuss in die Richtung der Stimmen und streckte die Hände aus, um sich vorzutasten. Tasten? Wo solle ich tasten, da ist nichts, da ist nur Leere. Einzig sein Stock gab ihm Halt. Mit ihm und auf ihn gestützt schlurfte er ins Schwarze. Warum nur war das Licht ausgegangen? Verdammt noch mal, warum nur?

Da verfängt sich sein Stock in einem Spalt am Boden oder an einem Stein oder an einem anderen Gegenstand, wie soll er das genau wissen, es ist ja dunkel, stockdunkel. Hat ihn bis dahin die Angst beherrscht, so kommt jetzt Stress auf. Stress - diese Furcht, diese Ahnung, es nicht zu erreichen, nichts mehr zu erreichen, vielleicht zu sterben? Er bückt sich, um nach dem Stock zu suchen. Nichts, Leere. Er beginnt zu rufen, hört ein schauerliches Echo, hörte seine eigene Stimme zurückkommen, nicht aber die Stimmen der andern. Ich muss meinen Stock wieder haben. Er sinkt auf die Knie, robbt im Kreis, um nach ihm zu tasten. So hat mein Leben einmal begonnen, auf den Knien krabbelnd, jetzt krabble ich wieder, jetzt, allein am Ende meines Lebens – und keine Mamma kommt und hebt mich auf. Wie ein Film geht es an ihm vorbei, sein ganzes langes Leben in kurzen Bildern, in wenigen Sekunden nur, wie ein Zeitraster, wie die so gehassten Musikfilme der Jungen, die sie Videoclips nennen. Sein ganzes Leben, in ein paar Bildern, in wenigen Sekunden.

Und das richtige Leben? War es das schon? War das alles gewesen? Er fand seinen Stock nicht wieder, es war schwarz, die wirkliche Nacht, die Stimmen der andern vollends verflüchtigt und seine eigene, dünne, zittrige kam nach Sekunden wieder allein zu ihm zurück. Er war allein. Es roch nach Sand und Schlamm und Moder.

Da spürte er an seiner Wange eine sanfte Kühlung. Nur ein Windhauch. Ein Windhauch, was ist das schon? Aber der Windhauch bedeutete für ihn die ganze Hoffnung, an die er sich klammern konnte. Er kroch auf den Windhauch zu und der wurde stärker und stärker. Und dann - wie lange er gekrochen war, konnte er nicht sagen - sah er Licht, weit vorne am Stollen. War es das Licht der Sonne, oder war es wieder der Anfang – damals, als er auf diese Welt gekommen war? Oder war es dieses Licht am Ende des Tunnels, von dem immer wieder Menschen berichtet hatten, die schon gegangen und wieder zurückgekehrt waren und an das er nie geglaubt hatte? Er wusste es nicht. Aber er wusste eines: Er war glücklich.

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