Die Spritzfahrt

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Eine Jugenderzählung aus den 60ern, geschrieben für den Schweizer Ministrantenkalender 1970. Etwas nostalgisch, aber immer noch spannend.



Die Spritzfahrt

Fast eine Seeräubergeschichte von Harry Greis

 

«Hast du ihn?»

«Natürlich, da schau her.» Daniel hält Andre triumphierend den blanken Schlüssel unter die Nase.

«Wie hast du das fertig gebracht?» «Das ist doch kein Problem.» Daniel grinst über das sonnengebräunte Gesicht. «Ich kenne die Gewohnheiten meines Vaters. Solche Dinge hat er im­mer in der linken Schreibtischschublade.»

«Wird er nicht merken, dass der Schlüssel fehlt?»

«Was denkst du? Vor acht Uhr kommt er heute nicht nach Hause. Und bis dahin sind wir längst zurück.»

Andre wirft einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr: «Das sind aber nur noch zwei Stunden. Da müssen wir schon vorwärts machen. Wo ist dein Bruder?»

«Yvo wartet beim Boot am See unten.»

«Gut.»

Die beiden Freunde setzten sich in Trab. Daniel hält das eroberte Gut krampfhaft in der Faust, um es ja nicht zu verlieren.

«Mir ist eigentlich nicht so ganz geheuer», schnauft Andre. «Kannst du das Boot überhaupt richtig steuern?»

«Ich bin doch kein Kind mehr. Mit vierzehnjähriger Lebenserfahrung wird man eine solche Nusschale wohl flott kriegen.»

Yvo hockt auf dem schmalen Holzsteg und schwenkt die Füsse nachdenklich im warmen Wasser. Wie die beiden polternd über die Bretter stürmen, schaut er auf: «So, endlich. Das dauerte ja eine halbe Ewigkeit», knurrt er. «Weiss Mama etwas?»

«Glaubst du, ich habe es an die grosse Schelle gehängt? Die würde uns wohl kaum den Segen dazu geben», antwortet Daniel, springt leicht federnd ins Boot und löst mit dem Schlüssel die verriegelte Kette.

Yvo setzt sich an seinen Lieblingsplatz, vorn auf dem Vordeck und kreuzt die Beine übereinander.

Nur Andre zögert noch:«Ich weiss nicht recht. Einmal habe ich Vaters Velo geklaut, um eine Rundfahrt zu machen. Das hat einiges abgesetzt nachher. Aber so ein Motorboot einfach für eine Spritztour zu nehmen, würde ich mir nie erlauben. Und zudem ist dies alles andere als eine Nussschale, wie du es vorhin benannt hast. Das ist schon ein anständiges Schiff.»

«So sei doch kein Feigling und steig endlich ein», ärgert sich Daniel, der schon den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hat. «Oder willst du etwa dableiben?»

«Nein, natürlich nicht.»

«Also dann komm und stoss das Boot vom Steg weg.»

Der Motor springt an, und die Buben stechen in See. Prächtig schön ist dieser Sommerabend. Die Sonne steht schon tief und versilbert die schwach gekräuselte Wasserfläche. Yvo hat sich auf den Bauch gelegt, den Kopf auf die Arme gestützt und blinzelt vergnügt unter seinem hellen, langen Haarschopf hervor in das herrliche Farbenspiel, während sein älterer Bruder stolz wie ein Kapitän hinter der Windschutzscheibe steht und Vaters Motorboot leicht über den See steuert. Andre kauert hinten im Heck und versucht, mit der offenen Hand das spritzende Wasser aufzufangen.
Der milde Wind, das lustige Tanzen der Wellen und das befreiende Gefühl, viel Platz für sich allein in Anspruch nehmen zu dürfen, lässt die Buben völlig vergessen, dass sie etwas tun, wovon Vater niemals wissen dürfte.

Schon erscheinen die bunten Riegelhäuser am Ufer wie kleine Spielklötze und die Spaziergänger am Quai sind zu kleinen Pünktchen geworden.

Da dreht sich Yvo um, zeigt mit der Hand nach Norden und ruft: «Die Insel, die Insel. Bitte, Daniel, fahr zur Insel hinaus!»

Andre wirft dem Steuermann einen zustimmenden Blick zu und dieser wendet das Boot nach rechts. Ja, die kleine Insel liegt wirklich schon greifbar nahe und in dieser warmen Beleuchtung strahlt sie jetzt eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Buben aus. Zwar sind die beiden Brüder schon ein paarmal mit Vater hier gelandet. Aber im selbstgesteuerten Boot allein hinzufahren, hat seine ganz besonderen Reize. Die Bäume werden immer grösser und das Schiff saust schnurgerade auf die kleine Bucht zu, in der Daniel anlegen will.

«Geh doch endlich vom Gas weg, sonst stranden wir noch!» schreit Andre von hinten und kann gar nicht verstehen, dass der Steuermann keine Anstalten macht, das Tempo zu drosseln.

Tatsächlich hat Daniel vergessen, dass ein Boot keine Bremsen hat. Aber jetzt greift er doch an den Hebel, um ihn zurückzustossen. Aber er funktioniert nicht.

«Es klemmt, ich kann nicht anhalten!»

«Mach keinen Blödsinn!» Andre stürzt nach vorn und drückt mit seiner ganzen Kraft auf das Metall. Da gibt es nach, aber das Schiff rast im selben Tempo auf das Ufer zu.

«Abgerissen! Das Kabel ist entzwei! Stell den Motor ab!» Andre tut wie verrückt.

«Reiss den Kahn herum!» kräht Yvo von vorne.

Daniel verliert den Kopf. Noch vermag er den Schlüssel herauszuziehen, dann greift er ins Steuerrad, aber es ist zu spät. Ein fürchterliches Krachen zerreisst die Stille. Zwei Dutzend Möven schiessen kreischend von den Bäumen in die Höhe. Yvo wird vom Bug geschleudert und Andre fliegt ebenfalls ins Wasser. Nur Daniel hält immer noch krampfhaft das Rad fest. Er ist
leichenblass. Das Schiff steht still und ragt auf einer Seite hoch übers Wasser, das hier nur noch brusttief ist.

«Verdammt, wir sind auf einen Fels gefahren!»

«Jetzt haben wir die Sauce!»

«So ein Mist!»

Andre hat sich vom ersten Schrecken erholt und schwimmt um das Boot herum: «Genau so musste es kommen», jammert er und schluckt dabei Wasser. «Da ist ein grosser Felsblock. Das Schiff sieht scheusslich aus.»

Daniel beugt sich über die Bordwand: «Herrjeh! Diese Beulen. Und ein Loch ist auch drin. Damit kommen wir nicht mehr weiter.»

Andre hat Stand gefasst und drückt mit der Schulter an den Schiffskörper: «Wir müssen es ans Ufer stossen, sonst sauft es uns noch ab.»

Daniel lacht schmerzvoll und ohnmächtig auf: «Das ist doch kein Paddelboot. Das sitzt hier fest. Du siehst ja selbst, dass wir es nicht vom Fleck bringen können. Wo ist übrigens Yvo?»

«Da!» ruft der Kleine vom Ufer her. Er hat sein gestreiftes Leibchen abgezogen und windet es aus.

«Bist du verletzt?»

«Nein, aber ich habe eine gehörige Portion Wasser erwischt!»

Wie zerschmettert steigt der Kapitän aus seinem gestrandeten Wrack und watet zum Ufer. «Nein, das schaffen wir nie. Gehen wir einmal an Land.»

Die Sonne steht schon bedenklich tief am Abendhimmel und wirft nur noch ein paar ganz verstohlene Strahlen durch das verwilderte Geäst auf die drei Buben. Diese haben ein kleines Feuerchen angemacht, die Kleider nahe daran über Steine zum Trocknen gelegt und hocken nun in ihren Badehosen fröstelnd an der Wärme.

«Wer schwimmt jetzt rüber?», macht Yvon plötzlich.

«Nein, und nochmals nein.» Daniel schüttelt seine Mähne. «Und selbst wenn ich hier übernachten müsste, aber drei Kilometer weit schwimme ich nicht. Schon gar nicht ohne Begleitboot.»

«Ich habe allerdings auch keine Lust dazu», bestärkt Andre.

Yvo ist ärgerlich, weil die andern seinem Vorschlag keine Beachtung schenken. «Ich bin zwar zwei Jahre jünger als ihr. Wenn keiner von euch den Mut dazu hat, gehe ich selber. Irgendjemand muss doch Hilfe holen, sonst können wir ewig Robinson spielen hier.» Er steht auf und tut so, als wolle er zum See gehen.

«Untersteh dich, das ist Wahnsinn!» trompetet sein Bruder. «Du kannst das Festland nie erreichen. Ausserdem ist es bald dunkel.»

«Wir werden das Feuer grösser machen, damit man es in der Nacht erkennen kann», schlägt Andre vor.

«Ha. Das werden wohl alle Leute sofort sehen. Da hat doch schon mancher sein Lagerfeuerchen veranstaltet», spottet Yvo.

«Aber Vater wird uns suchen ...»

«Und ausgerechnet hier vermuten. Nein, nein, das haut nicht.»

«Wenn du noch lange dazwischen- redest, werde ich dich bessere Manieren lehren.» Daniel brennen langsam die Sicherungen durch.

Andre erhebt sich vom Boden: «Nicht streiten jetzt. Das wäre unklug. Lasst uns lieber vernünftige Gedanken fassen.» Er tastet nach den Kleidern: «Die sind noch drecknass. So können wir sie nicht anziehen.»

«Schieb den Stein näher ans Feuer. Aber pass auf, dass die Hosen nicht anbrennen.»

«Ich hab eine Idee», platzt Yvo heraus. «Das wird wieder so etwas Verrücktes sein», spritzt Daniel.

«Im Schiff ist doch eine kleine Plane. So ein Wachstuch. Damit können wir Notsignale geben.»

«Jetzt ist die Schnapsidee aber perfekt. Du liest zuviele Indianerbücher. Wer kann das schon entziffern?»

Daniel ist halb krank vor Ärger. Immer nur solchen Blödsinn. Dabei ist die Lage so ernst. Ihn quält vor allem der kaputte Kahn, der da draussen an diesem verflixten Felsblock hängt. Mit einem Seil haben ihn die Buben ans Ufer gefes­selt, damit er nicht weggespült werden kann. Was wird wohl Vater dazu sagen? Daniel wagt nicht weiterzudenken.

Andre reisst ihn aus den Gedanken:«Doch, Yvo hat gar nicht so unrecht. Wenn es dunkel ist, können wir SOS morsen. Wir schwenken das Tuch einfach vor dem Feuer auf und ab. Das muss doch mit der Zeit jemandem auffallen.»

«Also meinetwegen», brummt Daniel.

Längst ist die Nacht über die Insel hereingebrochen. Vom Festland her strahlen winzig kleine Lichtpunkte. Die Luft ist kühl geworden und die Buben haben ihre Kleider wieder angezogen, obwohl die Hosen noch ganz feucht sind. Unermüdlich schwenken Yvo und Andre das Wachstuch vor dem Feuer auf und ab und hoffen felsenfest, dass endlich irgendwo ein Schiff ausfahren wird, um sie zu holen.

Daniel hingegen sitzt zusammengekauert am Boden, die Arme um die Beine geschlungen, die Stirn auf die Knie gestützt und fiebert: «Der Vater ... er muss ja längst bemerkt haben, dass wir nicht daheim sind. Ob er schon gesehen hat, dass sein Boot weg ist? Was werde ich ihm sagen, wenn er uns findet, oder wenn uns jemand nach Hause bringt — etwa gar die Polizei?»

Schläge wären für Daniel das Wenigste. Die würde er mit Fassung entgegennehmen. Die hat er verdient, das weiss er. Aber da ist doch mehr: Er hat den Vater hintergangen, er hat seinen Schreibtisch durchwühlt, den Schlüssel und das Boot genommen und es jetzt zertrümmert. Und dabei hat er noch die andern beiden mit hineinge­zogen. Er hat Vaters Vertrauen missbraucht — und das wurmt ihn am meisten.

«Still!» ruft Yvo. «Ist da nicht ein Boot?» Andre lässt die Plane fallen.

«Ja, jetzt hör ich es auch. Irgendwo ist ein Motorschiff.»

Die Buben lauschen angespannt in die Dunkelheit hinaus.

«Es wird immer lauter. Das nähert sich der Insel!» jubelt Yvo.

Daniel erhebt sich mühsam: «Komisch. Wir haben bis jetzt nichts gesehen im See draussen. Und warum kommt es von der andern Seite?»

«Seid ruhig! — jetzt ist es verstummt», stellt Andre fest. «Es muss angelegt haben.»

«Das ist Vater.» Daniel ist voller Hoff­nung. «Bleibt da, ich werde ihm entgegengehen und ihn herführen.»

Der Bub macht zwei drei Sprünge, und das Gebüsch hat ihn verschlungen. Mit gemischten Gefühlen tastet er sich dem Ufer entlang.

«Warum ist das Boot nicht auf unser Feuer zugefahren? Ob es wirklich Vater ist? Ja, — es muss einfach Vater sein.»

Oft zwingen ihn überhängende Äste auf die Knie, und er muss unten durchkriechen. Verfaulte Baumstrünke versperren den Durchgang und zweimal muss er durchs Wasser waten, bis er endlich vor einem Boot steht, das am seichten Ufer festliegt. Aber mit dem besten Willen kann er keinen Menschen erblicken.

Sekundenlang starrt Daniel auf das kleine Schiff und glaubt zu träumen: «Das ist doch unmöglich. Warum ist niemand da? Ob sie durchs Buschwerk gegangen sind? Da wäre es doch viel leichter gewesen, die Insel zu umfahren. Das Feuer kann man von hier nicht sehen.»

Instinktiv drückt sich der Bub durch das Unterholz. Da hört er Stimmen. Ungeachtet der Kratzer an den Waden und der Hiebe, die ihm federnde Ästchen ins Gesicht peitschen, arbeitet er sich hastig weiter. Da — da ist ein Licht. Daniel hat das Gestrüpp durchdrungen und tritt in eine kleine Waldlichtung.

Dort drüben hantieren drei Männer mit einer Taschenlampe am Boden.

«Vater, Vater!» schreit der Bub und eilt auf die Stelle zu.

Er sieht, wie die Männer erschrocken hochschiessen. Da strahlt ihm eine grelle Lampe ins Ge­sicht. «Halt, was willst du da?» fährt ihn eine schneidende Stimme an.

«Wir sind mit unserem Boot gestran­det.» Daniel ist stehen geblieben. Das Licht blendet ihn so stark, dass er nichts mehr sehen kann.

«Wer?»

«Mein Bruder, mein Freund und ich. Wir sind dort vorne festgefahren.» Er zeigt in die Richtung.

Die Taschenlampe kommt näher. Jetzt kann der Bub die schwachen Züge eines Gesichtes erkennen. Eine recht gespenstische Visage, bei diesem Licht.

«So, so, gestrandet seid ihr. Und den Rest deiner Story verkaufst du per Meter, was?» höhnt die schneidende Stimme. «Das hast du wohl bei Karl May oder Stevenson gelesen? Auf einer Insel gestrandet, mitten in der Schweiz. Hahaha.» Da wird die Stimme wieder messerscharf: «Herumspionieren tut ihr. Stimmts?»

Daniel ist kreideblass geworden. Wie ein Stich geht es ihm durch den Magen. Der Gedanke ist grausam. Das sind nicht Retter — nein, Verbrecher!

Blitzartig springt der Bub zur Seite. Aber er kommt nicht weit. Noch immer vom Licht geblendet, prallt er heftig gegen eine Tanne. Halb betäubt sinkt er zu Boden. Da wird er gepackt, hochgerissen und schon hat er wieder die Lampe vor dem Kopf. Diesmal ist sie so nahe, dass er die Augen schliessen muss. Seine Arme fühlt er von kräftigen Pratzen eingeklemmt — wie in einem Schraubstock. Fast von Sinnen hört er eine tiefe Stimme knurren:

«Hab doch gleich gedacht, dass der Lümmel uns nachspioniert. Und da sollen noch mehrere von dieser Preislage herumlungern. Los, zeig uns, wo die andern sind!»       

«Nein – Aua!»

Die Ohrfeige sitzt

«Und wenn du jetzt schreist, oder nochmals' abhauen willst, bekommst du eine zweite, o. k.»

 

Andre bricht einen dicken Prügel entzwei und wirft ihn ins Feuer: «Die haben jetzt lange», er schaut auf die Uhr, «Yvo, geh ihnen entgegen. Vielleicht stimmt etwas nicht.»

«Meinst du, sie werden den Weg allein nicht finden?»

«Keine Ahnung. Aber das dauert nun schon bald ein halbes Jahr. Ich bleibe derweil beim Feuer.»

«Wenn sie aber von einer andern Seite kommen sollten, pfeifst du durch die Finger.»

«In Ordnung.»

Yvo tastet sich in der gleichen Richtung, wie vorher sein Bruder, durch das Holz. Er ist unwillig. Warum brauchen die so viel Zeit, um die Insel zu durchqueren? Da aber hört er hinter sich einen schrillen Pfiff und gleich darauf einen Schrei. Schlagartig hastet er zurück. Schon hat er wieder das Feuer vor sich und will in ein Freudengeheul ausbrechen, wie er sieht, dass Andre mit einem Fremden kämpft, und sich zu befreien sucht. Wenig daneben hält ein zweiter Mann Daniel fest umklammert. Yvo stockt das Blut in den Adern. Wenige Augenblicke noch starrt er in das schreckliche Treiben. Er sieht, wie sich Andre erschöpft ergeben muss, und vernimmt eine Stimme, die sagt: «Da muss doch noch einer herum sein.»

Dann weiss er nicht mehr, was er tut. In panischer Angst stürmt er wieder in den Wald zurück.

«Weg, weg von hier!» trommelt sein Gehirn. Er spürt keine Dornen, und auch nicht die Brennesseln, die er mit nackten Füssen durcheilt. Sein einziges Ziel ist Flucht. Möglichst weit weg will er kommen, und in seinen Wahnvorstellungen sieht er hinter jedem Baum dunkle Gestalten, die mit grossen Händen nach ihm greifen.

Da stoppt er. Hat da nicht jemand gehustet? Ganz nahe vernimmt er jetzt das Glucksen der Wellen am Ufer. Vorsichtig schiebt er die Zweige auseinander und erblickt vor sich das fremde Boot. Auf der Bordwand hockt — er erschaudert von neuem — eine lange schwarze Gestalt. Yvo glaubt sich bereits in Feindeshand. Aber soweit er in der Dunkelheit erkennen kann, kehrt ihm der andere den Rücken zu.

Leise zieht sich der Bub ins Buschwerk zurück. Dann flieht er wieder. Diesmal in eine andere Richtung. Jetzt fühlt er sich noch leidenschaftlicher verfolgt als vorhin. Er hat die Orientierung verloren. Irgendwo muss er ja wieder ans Ufer kommen. In dieser verzehrenden Angst blitzt in ihm wieder die verrückte Idee auf, ins Wasser zu springen und ans Festland zu schwimmen. Er will diese schreckliche Insel verlassen. Hier kann er nicht bleiben. Aber er denkt keinen Sekundenbruchteil daran, dass dies für ihn das letzte Abenteuer seines jungen Lebens wäre.

Schon hört er wieder die Wellen an die Böschung schlagen. Tief hangen hier die Äste ins Wasser. Verzweifelt und im Glauben, jeden Moment von hinten angefallen zu werden, sucht er nach einer Lücke zum See. Da, schon steht er im Wasser — er zögert. Dabei fällt sein Blick auf ein dunkles Etwas, das unter einer Staude liegt. Es hat die Form von einem Schiff.

«Das ist ja eine Gondel.» Fast hätte er es laut gesagt.

Das Knacken eines Astes schreckt Yvo hoch. Mit allen seinen Kräften stemmt er sich an das Wrack und dreht es um. Dann zieht er es ins Wasser. Ein Ruder ist keines da.

«Was jetzt? So komm ich nicht weit. Die Sitzbank! Auf die kann ich verzichten.»

Er reisst das Brett hoch, das bedenklich leicht nachgibt, schiebt das Schifflein vom Ufer und springt hinein. Aber wie er auch rudert und stösst und macht, das Ding will nicht vom Ufer weg. Langsam dreht sich die Gondel im Kreis. Der Bub kniet hin und versucht es wie die Indianer zu tun: Einmal links, einmal rechts taucht er das Brett ins Wasser. So bewegt er sich endlich langsam und unsicher in einem wackligen Zickzackkurs von der Insel weg. Bald aber erlahmt ihm die Kraft und schnaufend hält er inne. Schon liegt die Insel viele Meter dunkel und bedrohlich hinter ihm. Aber er fühlt sich enorm erleichtert, und die durcheinanderschiessenden Gedanken beginnen sich langsam wieder zu ordnen:
«Flucht? Ich fliehe, um mich zu retten! Aber ich bin gemein. Was geschieht jetzt mit Daniel und Andre? Ich habe sie schmählich im Stich gelassen ... Nein, zurück geh ich nicht mehr. Ich lasse mich nicht einfach fangen und verprügeln. Ich will heim, zu Vater und Mutter ... ja, ich werde Vater zu Hilfe holen. Genau das tue ich. Dann bin ich auch kein Feigling mehr. Ich muss die andern beiden retten.»

Wieder taucht er das glitschige Brett ins Wasser. Wie Tinte scheint das sonst so klare Nass. Yvo wagt kaum, zur Insel zurückzuschauen. Er fixiert nur die winzigen Lichter in der Ferne, und sie kommen ihm wie Glückssterne vor.

Er muss eine ganze Weile so gerudert haben, denn 'er ist schon weit im See draussen. Da schnellt er plötzlich hoch: «Jeh! Um Gottes Willen! Das Boot rinnt. Ich knie im Wasser.»

Tatsächlich ist die morsche Gondel längst nicht mehr seetüchtig. Darum wird sie auch jemand auf der Insel zurückgelassen haben. Fast von Sinnen schlägt Yvo mit dem Brett auf das eingedrungene Wasser, bis es über die Bordwand spritzt. Aber hilflos muss er erkennen, dass er das Boot niemals leer schöpfen kann.

«Wenn jetzt das Zeug untergeht, bin ich im See. Da würde ich ja ertrinken. Ich muss durchkommen, eh es zu spät ist. Ich muss einfach. Zurück kann ich nicht. Das ist mindestens so weit, wie bis zum Dorf. Also vorwärts, weiter.»

Wieder rudert der Bub wie wild. Jetzt muss er auch noch regel­mässig das Wasser hinausschlagen. Die Verschnaufpausen werden immer häufiger. Die Muskeln wollen nicht mehr mitspielen. Yvo spürt ein heftiges Stechen in den Armen und das Wasser steht ihm schon weit über den Knien.

Er beginnt leise vor sich hin zu wimmern: «Warum haben wir diesen Unsinn gemacht? Warum haben wir das Boot geklaut? Alles ist nur deswegen. Hätten wir Vaters Verbot befolgt ... Ich muss weiter!»

Aber die Gondel bewegt sich kaum mehr von der Stelle. Yvo hat alle seine Kräfte verpulvert. Das Wasser steigt und gluckst und fliesst bei jeder Bewe­gung des Bootes von einer Seite zur andern.

«Ich gebe es auf. Geschehe, was will ... Nein, nein, ich ertrinke. Ich muss weiter!»

Da lässt Yvo entkräftet das Brett ins Wasser gleiten. Er vermag es nicht mehr festzuhalten. Jetzt ist er steuerlos. Er spürt kaum noch etwas.

 

Er merkt auch nicht, dass ein grosses weisses Motorschiff auf ihn zukommt. Erst wie die grellen Scheinwerfer aufleuchten, öffnet er wieder seine Augen. Er lässt sich gleichgültig ins Boot ziehen, das neben ihm angehalten hat, und er sieht, dass seine Retter blaue Polizeiuniformen tragen. Da fasst ihn einer in Zivilkleidern an der Schulter, und Yvo blickt in das Gesicht, das er noch nie so schmerzvoll und erlösend zugleich gesehen hat.

«Vater!» schreit er, «Vater hilf uns!» Schluchzend umklammert er seinen Vater, der eine warme Wolldecke um ihn legt.

«Wo ist Daniel?»

«Auf der Insel, mit Andre. Wir sind mit deinem Boot festgefahren. Dann haben uns fremde Männer überfallen.»

«Hast du sie erkannt?» Einer der Polizisten beugt sich zu Yvo.

«Nein», haucht der Bub fast tonlos. «Ich bin davongerannt. Ich habe Angst gehabt. Es sind zwei oder drei, oder noch mehr.»

Yvo lässt sich apathisch in Vaters Arme sinken und sagt nichts mehr. Die Gondel ist dermassen morsch und von eingedrungenem Wasser schon so tiefgängig, dass es zwecklos wäre, sie ins Schlepptau zu nehmen. Niemals hätte der Bub darin das rettende Ufer erreichen können.

Die Scheinwerfer am Polizeiboot gehen aus. Ein paar knappe Worte werden gewechselt, das Funkgerät summt: «Wir benötigen Verstärkung. Überfall auf der Insel. Zwei Jugendliche sind in Gefahr. Ende.»

Irgendwo in der Ferne brummt ein Motor auf. Die Boote fahren auf die Insel zu. Die letzten fünfhundert Meter werden lautlos rudernd zurückgelegt. Das Feuer in der Bucht brennt nicht mehr. Unheimliche Stille reizt die Nerven zum Zerspringen. Nur der Wind orgelt fein und kaum hörbar durch die Baumkronen, die sich schon ganz nahe, schwarz und geheimnisvoll vom helleren Grau des Himmels abzeichnen.

Da jault ein Motor auf und ein Boot jagt auf der andern Seite in den See hinaus. Die Polizisten lassen ihre Maschinen anspringen und rasen ihm nach. Es vergehen nur wenige Augenblicke, dann ist das viel kleinere Schiff eingeholt. Scheinwerfer flammen auf.

«Halt! Polizei!» schallt es durch ein Megaphon.

Da knallt ein Schuss. Ein zweiter folgt. Dann ist es wieder ruhig.

«Machen Sie keine Dummheiten! Werfen sie die Waffe weg! Wir halten ihr Boot unter Beschuss!»
Die Pistole fliegt ins Wasser und versinkt in der Tiefe. Dann werden die drei fremden Männer verhaftet.

 

Daniel und Andre sind halb tot vor Angst. Rucken an Rücken zusammengebunden hocken sie am erloschenen Feuer.

Schmerzvoll schreit Daniel auf, wie er die Schüsse durch die Dunkel­heit peitschen hört: «Yvo! Wenn sie nur Yvo nichts getan haben!»

Die beiden Buben haben Schreckliches mitgemacht. Die Männer haben sie mit Fragen ausgequetscht, geohrfeigt, mit Fusstritten traktiert, und schliesslich ganz allein zurückgelassen. Und jetzt diese Schüsse.

«Wenn sie nur Yvo kein Leid angetan haben.»

Da aber steht Yvo vor ihnen. Die Polizisten lösen die Fesseln und der Vater beugt sich über die verwirrten, vor Kälte, Nässe und Hunger schlotternden Geschöpfe. Er sagt kein Wort.

Die Polizei durchsucht die Lichtung und findet ein ganzes Rauschgiftlager. Das Versteck einer schon lange gesuchten Bande, die jetzt in ihrer Arbeit durch die Buben gestört worden ist.

Mit hohem Tempo strebt das Polizei­boot endlich der Heimat zu. Niemand hat bis jetzt ein Wort gesprochen. Die Buben sitzen am Boden, in dicke Decken gehüllt.

Daniel hüstelt, dann stottert er unsicher: «Vater, es ist alles meine Schuld. Bitte verzeih mir. Ich werde es nie wieder tun. Ganz sicher.»

Der Vater schaut seinen Ältesten aus müden, abgespannten Augen an und fährt ihm mit der Hand durch das wild zerzauste Haar: «Das glaube ich dir auch von ganzem Herzen — Bub.»

Harry Greis

Ministrantenkalender

Publiziert: 1970 im „Schweizer Ministrantenkalender“
und vorgelesen in einer „Jugendstunde“ vom Schweizer Radio DRS

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