Dieses kurze Porträt aus der Perspektive eines Kindergärtlers habe ich vor ein paar Jahren für den Turnverein Ramsen geschrieben. Sie feierten das 75jahr-Jubiläum. Nun ist es mir wieder in die Hand gekommen und ich denke, es hat einen Platz auf dieser Seite verdient. Denn wie gesagt: Wer kann denn schon einen solchen Grossvater mit einem solchen Turnerband vorweisen.
Erzählt von Harry Greis
Damals, als mein
Grossvater auf dem Glatteis ausrutschte und starb, besuchte ich noch
den Kindergarten. So sind es kindliche Erinnerungen, die mir von ihm
geblieben sind - genauer gesagt, eigentlich zwei Bilder: Der Taxichauffeur
und der Oberturner.
Als Taxichauffeur lehnte er jeweils an seinem schwarzen Citroen vor
dem Winterthurer Bahnhof. Stets trug er eine weisse Schirmmütze - „Büsimütze“
sagte man damals. Einen Grossvater mit einem Auto fanden wir Kinder
toll. Das Auto war es ja auch, das ihn mit seiner Familie Jahre früher
nach Ramsen gebracht hatte. Als Herrschaftschauffeur diente er damals
bei den Gebrüdern Sulzer und einer dieser Sulzerbrüder wohnte zeitweise
in der Bibermühle. Von dort aus fuhr der Oberturner - nicht etwa mit
dem Herrschaftswagen, sondern mit dem Velo - nach Ramsen, wo er den
Turnern des Turnvereins vorturnte.
Er soll aber auch in der Bibermühle geturnt haben. Der Job als Herrschaftschauffeur
brachte die Verpflichtung mit sich, bei Empfängen den Butler zu spielen.
So musste mein Grossvater zum Diner als Kellner auftreten und mit hochgestemmten
Silberplatten den Zug der Dienstmägde ins Speisezimmer anführen. Und
dann zuvor, draussen im Gang, soll er jeweils, die Platte respektlos
aufs Parkett gelegt, die Hände links und recht daneben auf den Boden
gestellt, einen klassischen Handstand darüber geschwungen haben. Das
war natürlich den Dienstmägden gegenüber nicht sehr nett, denn diese
mussten nun im Gänsemarsch hinter ihm her ins Zimmer schreiten und durften
dabei die ernsten Minen nicht verziehen.
Selber sah ich meinen Grossvater nie turnen - mindestens kann ich mich
nicht daran erinnern. Erinnern tu’ ich mich aber an das Foto über dem
Schreibtisch meines Vaters, wo Grossvater im Turnertrikot, stolz die
Brust gestellt und die Arme darüber verschränkt, den Schnauz gewichst
und das Haupt mit Lorbeer bekränzt, streng auf uns herunterblickte.
Dabei sprang uns das doppelte, über und über mit metallenen Plaketten
besetzte Turnerband ganz besonders ins Auge. Grossmutter schenkte es
uns später und wir trugen es vor allem dann gern zum Spielen, wenn andere
Kinder da waren. Es eignete sich nämlich ausgezeichnet zum Prahlen.
Wer konnte denn schon einen solchen Grossvater mit einem solchen Turnerband
vorweisen.
Da gab es aber
auch noch Kränze, einen ganzen Schrank voll. Der Schrank
hatte Glastüren und dahinter hingen sie an einer Querstange,
dicht nebeneinander. Grün waren sie alle, die einen überdies
mit silbernen und goldenen Blättern durchsetzt. Dazwischen
lugten rote Beeren hervor und unten baumelten
längsgestreifte Bänder.
Ich erbettelte einen Kranz. Da öffnete meine Gotte den Schrank, löste
die Stange und liess zu meiner Überraschung den ganzen, mit Schweiss
und Fleiss erworbenen Triumph in meine Arme gleiten. Da stand ich nun:
ein Kindergärtler in einem riesigen Wusch von Turnerkränzen.
Meine Schwester hat mir kürzlich gesagt: „Du hast die Kränze alle verschenkt.“
Aber da musste ich protestieren, ich habe sie nicht verschenkt, - ich
habe sie verliehen. Im Kindergarten organisierte ich nämlich eine Olympiade
mit verschiedenen Disziplinen: Weitsprung im Sandhaufen, Schnelllauf
über den kiesbelegten Pausenplatz, Böckligumpen, Sackgumpen und ich
weiss nicht mehr was alles. Und in jeder Disziplin gab es einen Sieger
oder eine Siegerin, denen ich feierlich einen Kranz aufs Haar setzte.
So besassen am Schluss fast alle Kindergärtler von Langwiesen einen
Kranz von meinem Grossvater, nur ich selber hatte keinen mehr. Später
habe ich’s schon bereut. Aber was soll’s, die Erinnerung an meinen oberturnenden
Grossvater ist trotzdem geblieben, und ich denke, er hätte sich darüber
gefreut. Er selber hatte sie doch mit sportlicher Leistung erworben.
Warum sollten sie nicht weitergehen, durch sportliche Leistung von Kindern?
Harry Greis