Meine kleine Freundin, die FeldwespeSmallheader Kurzgeschichten

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Elogium auf ein kleines Wesen, eine zierliche Feldwespe, die dafür sorgte, dass meine Einstellung zu den gelb-schwarzen Plaggeistern merklich besser wurde

 

Meine kleine Freundin, die Feldwespe

Eine Kurzgeschichte von Harry Greis

Wespen sind nicht gerade die Wesen, denen meine grosse Tierliebe gilt. Ich hatte ja auch bereits als Kind unangenehme Erfahrungen mit diesen Biestern gemacht. Einmal gerieten wir unser drei Buben zu nahe an ein Feldloch, hinten bei der Bahnunterführung zum Bühl. Plötzlich starteten sie zum Angriff. Zunächst war das lustig, denn einer von uns hub an, wie wild mit den Händen zu fuchteln und rannte schreien zur Hautstrasse hinunter. Dann ging der Zweite auf die Piste, ebenfalls mit schrillen Signalen und heftig um sich schlagend. Und innerhalb Sekunden hörte auch ich auf zu lachen. Jetzt ging es mir an den Kragen, oder besser gesagt ans Gesicht. Die Wespen hatte ganze Arbeit geleistet, wir konnten vor lauter aufgeschwollenen Stichen kaum noch aus dem Augen schauen und auch nicht mehr zur Schule gehen. Meine Mutter behandelte das mit Schnaps aus Enzian. Nein, nicht etwa zum Trinken, sondern zum Einreiben. In unserem Küchenkasten stand immer eine Flasche davon. Er roch ganz eigenartig und noch heute weckt es bei mir Assoziationen auf Wespenstiche, wenn ich Enziangeist rieche.

Ein anderes Mal entdeckten wir ein solches Einflugloch am Strassenbord auf dem Fenisberg, als wir mit der Schulklasse vorbeizogen. Wir entschlossen uns todesmutig, die übrige Menschheit vor den gefährlichen Bestien zu befreien. Nach der Schule, kehrten wir an dem Ort des Übels zurück, bewaffnet mit allerlei Geräten. Wir wickelten einen Lappen vorne an eine lange Bohnenstange, tränkten diesen mit Benzin - ja ja wir haben schon gefährliche Sachen gemacht als Buben - zündeten ihn an und versuchten ihn ins Loch zu schieben. Nur so mutig, wie wir losgezogen waren, packten wir die Sache jetzt nicht an. Die Bohnenstange war ja lang, und so fassten wir sie weit hinten, mindestens drei von uns gleichzeitig und schritten mit diesem brennenden Spiess und zittrigen Knien auf den Feind zu. Das konnte ja nicht gut gehen. Wir verfehlten das Loch und setzten dafür das ganze Strassenbord in Brand. Die Wiese, dürr und trocken, wie eben zu dieser Jahreszeit, stand augenblicklich in Flammen. Wo Feuer ist, da ist auch Rauch und so eilten verschiedene erwachsene Leute schnell herbei und halfen uns zu löschen. Eine Schimpfpredigt gab's dann erst nachher.

In der weiteren Kindheit kam es nur noch zu einzelnen Stichen, und das weniger wegen Angriffslust der Wespen als vielmehr, weil wir barfuss auf sie drauf traten, oder weil wir mit den Händen nicht vorsichtig genug in der Gegend herum langten.

Die grösste Wespenattacke erlebte ich als Erwachsener erst vor einigen Jahren, oder besser gesagt: ich erlebte sie eben nicht, als ich als Pfadipräses in Bischofszell im Sola weilte. Zwar schuhte ich noch kurz zuvor in dem Waldstück umher, in dem wir ein Geländespiel in Szene gesetzt hatten, aber dann musste ich kurz mit dem Auto ins Lager fahren, um etwas Vergessenes zu holen, und just in dem Moment schossen die Ungeheuer wie Flugzeugstaffeln aus dem Boden und flogen Angriffe auf die spielenden Pfädler. Das Geländespiel hatte der Lagerleiter bereits abgebrochen, als ich zurückkam, und ich sollte sofort als Chauffeur eingesetzt, die Kinder zum Notfallarzt bringen, denn nicht wenige waren auf Wespenstiche allergisch. Das Zeltlager lag etwas ausserhalb von Bischofszell und aus Mangel an Fahrzeugen führte ich sie alle in Tranchen hin und zurück, bis weit über Mitternacht hinaus.

So ist meine Abneigung gewiss verständlich. Ich hasse die Viecher vor allem beim Essen, wenn sie in Scharen herumschwirren und überall landen, um meine Konfitüre zu stehlen. Als ich letzten Sommer nun in Schaffhausen, und längst als Rentner ruhiger geworden, an jedem schönen Morgen mein Frühstück auf dem Balkon genoss, belästigten mich diese Insekten zwar noch immer, aber ich hatte inzwischen gelernt mit ihnen umzugehen. Sie wollen eigentlich nur etwas Süsses naschen. Ich kaufte so eine akustische Insektenabwehrmaschine, die eigentlich nur aus einem Hochtonlautsprecher bestand, der Frequenzen abschickte, die wir Menschen - vor allem wir älteren - nicht hören. Die Insekten allerdings schon. Und diesen Ton mögen sie nicht besonders. So hatte ich tatsächlich bald einmal Ruhe, es wagten sich nur noch ab und zu Wespen auf meinen Balkon und diese suchten bald das Weite, weil es ihnen bei mir nicht gefiel. Mit einer Ausnahme!

Eine kleine, zierliche Wespe liess sich von dem Ding nicht stören und machte sich unverfroren an meine englische Orangenmarmelade heran. Ich liess sie gewähren, solange sie mir nicht zu nahe kam und vor allem nicht um den Mund herum schwirrte. Das tat sie auch nicht. Sie entfernte sich zwar ab und zu von der Marmelade, kehrte aber immer wieder zu ihr zurück. Dann verschwand sie. Offensichtlich war sie gesättigt.

Am nächsten Morgen war wieder eine da. Solche Wespenbesuche wiederholten sich dann und allmählich, nach ein paar Tagen erst, bemerkte ich, oder glaubte es zumindest: Es war immer dieselbe. Ich meine, die Tierchen gleichen sich wie ein Ei dem andern, nur: Da nehmen alle Reissaus und nur eine einzelne kommt jeden Tag – immer allein, nie im Schwarm. Das muss dieselbe sein. Zuerst zog sie immer engere Kreise um mich, machte sich dann schnell hinter die Marmelade oder naschte Butter oder Honig vom Messer. Nach ein paar Wochen hatte ich mich an sie gewöhnt und betrachtete sie bereits als Hausgenossin. Ich liess sie gewähren. Sie tat mir ja nichts, ich musste einfach aufpassen. Zusammen mit dem Butterbrot wollte ich sie nicht in den Mund bekommen. Ich begann sie genauer und immer näher zu betrachten, beugte mich regelrecht zu ihr hinunter. Sie war recht feingliedrig. Anfänglich hatte ich noch gedacht, sie sei einfach jung und wachse noch.

Ich setze mich an den Computer und googelte nach „Wespen". Die Insekten sahen auf den vergrösserten Fotos aber schon wieder recht gefährlich aus, mit riesigen Köpfen und glotzenden Bullaugen. Aber keine glich meiner Besucherin, bis ich auf „Feldwespen" stiess. Diese sind tatsächlich geringer, zierlicher, weit weniger furchterregend. Ich las alles über Wespen im Allgemeinen und über Feldwespen im Besonderen und freute mich schon auf den Besuch meiner kleinen Wespe am nächsten Morgen. Sie kam und ich mustere sie von ganz nahe. Es war eine Feldwespe.

Sie kam den ganzen Sommer über. Und sie kam immer allein. Nur zweimal brachte sie eine Kollegin mit, aber der gefiel es bei mir mit meinem Piezolautsprecher offensichtlich nicht, denn am dritten Tag blieb diese wieder fern. Ich war froh: Mehr als eine Wespe entspricht nicht so mein Geschmack. Eine lässt sich im Auge behalten. Sie tauchte immer dann auf, wenn ich schon frühstückte. Je später am Morgen ich das tat, desto schneller war sie da. Ass ich aber einmal früher als sonst, verspätete sie sich. Wenn sie noch Glück hatte, war ich gerade beim Abräumen und liess ihr das Messer mit Konfi- und Butterresten draussen liegen, und sie durfte daran schlecken.

Im Herbst besuchte sie mich nur noch sporadisch, und wenn sie kam, nahm sie meistens gar nichts mehr zu sich, Sie umrundete mich ein paar Mal, setzte sich auf den Tisch oder aufs Konfiglas, und verschwand dann irgendwann. Es schien so, als wollte sie mir nur „Guten Tag sagen". Ich hatte sie bereits lieb gewonnen und vermisste sie, wenn sie einmal ausblieb.

Als es dann kälter wurde, nahm ich das Frühstück wieder in der Stube ein. Aber dann, eins morgens, als draussen die Sonne schien und ich die Balkontüre offen gelassen hatte, tauchte meine kleine Freundin auf. Sie schwebte lange vor dem offenen Eingang und getraute sich nicht herein. Na ja, vielleicht hörte sie nun doch den Lautsprecher, der jetzt ganz nahe war. Dem war aber offensichtlich nicht so, oder sie ignorierte ihn absichtlich, denn plötzlich flog sie herein, schwirrte wie gewohnt umher, umkreiste ein- zweimal meinen Kopf und setzte sich wie immer aufs Konfiglas, ohne auch diesmal nur irgendetwas zu naschen. Ich lächelte und sprach sie an. Auch wenn sie mich nicht verstehen konnte, dankte ich ihr für das Besüchlein.

Dann sah ich sie nie wieder. Der Winter zog ins Land. Ich weiss nicht, wie lange solche Wespen überhaupt leben, aber ich bin sicher, im nächsten Frühling wird sie nicht mehr kommen. Was bleibt, ist die Erinnerung an meine Freundin, die Feldwespe. Ein winziges Wesen aus schwarzem und gelbem Chinin, ein Insekt, das man normalerweise mit einer Handbewegung verscheucht. Sie hatte mir die Treue gehalten, einen ganzen Sommer lang. Soll mir noch jemand sagen, Wespen seien nur dumme Biester und hätten kein Herz. Ich weiss das jetzt besser.

Harry Greis, Herbst 2013

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