Wenn sich Schüler wegen ihrem Zahnarzt auf dem Pausenplatz
verprügeln, dann müssen sie so etwa in der vierten, Fünften Klasse
der Primarschule sein. Dort wird nämlich Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Gruppe recht lautstark proklamiert und verteidigt. Sitzen
die Kinder aber dann auf dem Stuhl in der Praxis, dann werden sie
alle kleinlaut. Zumindest war das zu unsrer Zeit so. Na ja, da
galten die Zahnärzte ja auch noch quasi als Folterknechte.
Wiesmann ist besser als Bachmann
Wenn wir zum Schulzahnarzt gehen mussten
Eine Kurzgeschichte von Harry Greis
Mein
Vater ist stärker als deiner." Diese Schulplatzmentalität hatte uns
etwa in der vierten, fünften Klasse der Primarschule erreicht. Mein
Vater war zwar als Automechaniker ein Handwerker, aber nie ein
Sportler gewesen und so prahlte ich besser nicht mit seiner
Muskelkraft. Es zählten andere Werte. Mein Vater hatte im Dorf etwas
zu sagen, man hörte auf ihn. So stand er etwa als Kommandant der
Dorffeuerwehr beim Appell vor der Mannschaft und musste nicht wie
die anderen Väter "hier" rufen, oder er durfte als Schulpfleger ohne
anzuklopfen ins Schulzimmer kommen, wobei der Lehrer dann
schlagartig ganz nett mit uns allen kommunizierte.
Die
besagte Schulplatzmentalität manifestierte sich aber bei anderen
Gelegenheiten. Vor allem, wenn es um den Zahnarzt ging. In der
Gemeinde praktizierten zwei Zahnärzte, beide in Feuerthalen und
beide auch als Schulzahnärzte. Beide endeten mit ihren Namen auf
„Mann“ und beide hatten im ersten Teil des Namens mit der Natur zu
tun. Aber sie waren grundverschieden. Wiesmann war der viel
gescheitere und der absolute Könner, Bachmann aber ein Rossmetzger.
So jedenfalls sahen es die, die zu Wiesmann gingen. Ich ging zu
Wiesmann. Das alles sagten wir nicht nur, um diejenigen vom Bachmann
zu ärgern, das glaubten wir auch. Und weil ich Bachmann nie im Leben
zu Gesicht bekam, weder vor noch nach der Schulzeit, blieb meine
Vorstellung immer die, die wir mit seinem Namen verbanden. Irgendein
Wiesmann-Vater hatte einmal zu seinem Wiesmann-Sohn gesagt, der
Bachmann sei ein Rossmetzger und dann war der das auch. Und das
stellten wir uns natürlich so vor: grobschlächtige, aufgedunsene
Visage, gewaltige Klauen und muskulöse Oberarme, mit denen er uns
erwürgen könnte, wenn wir nicht gut täten. Zöge er einen Zahn, so
mit Sicherheit mit einer Zange, wie sie der Schreiner oder Schlosser
verwendete. Wie gesagt, ich begegnete Bachmann nie – wie wir in
Feuerthalen vielen Menschen nie begegneten. Immerhin war Feuerthalen
ein anderes Dorf als Langwiesen und als Gemeinde wiesen beide Dörfer
zusammen damals schon eine beachtlich Größe aus.
Besonders eskalierte das einmal im Jahr, wenn alle zusammen, das
heißt, die Wiesmänner und die Bachmänner natürlich je gesondert, zum
schulzahnärztlichen Untersuch antreten mussten. Das geschah meisten
nicht gleichzeitig. Weil wir aber den Weg von Langwiesen nach
Feuerthalen zu Fuß bewältigten, fehlte jede Gruppe jeweils einen
halben Morgen im Unterricht, und war dann die andere Gruppe dran,
gab's auch eine billige Schulstunde, was uns natürlich passte. Zu
dieser Zeit aber war die Feststellung, wer zu Wiesmann oder zu
Bachmann gehörte, hochaktuell und auch für jeden klar sichtbar. Das
begann schon im Schulzimmer, wenn der Lehrer die Liste erstellte und
uns aufforderte, den Namen unseres Zahnarztes zu nennen. Kam dann
die große Pause, gingen wir gegenseitig aufeinander los.
Beide
Zahnärzte pflegten uns etwas Kleines zu schenken. Entweder eine
Tübchen Zahnpaste oder - natürlich der absolute Hammer - einen
Kaugummi. Zahnärzte werteten Kaugummi wesentlich höher als
Schullehrer. In dieser Hinsicht stellten wir uns sofort geschlossen
hinter die Zahnärzte. Gab's aber einmal doch nur Zahnpasten, sollte
bald darauf der ganze Heimweg mit weißen oder rosaroten Klecksern
markiert sein, weil wir uns gegenseitig mit der Zahnpaste
anspritzten. Die einen oder andern fraßen die Zahnpasta, die
immerhin wie der Kaugummi nach Pfefferminz schmeckte, sogar direkt
aus der Tube, wobei ihnen dann etwas später - bereits wieder in der
Schule - schlecht wurde, und sie nach Hause gehen durften.
An und
für sich genossen wir es, wenn wir zu diesen Zahnuntersuchungen
mussten, aber, einmal auf dem Stuhl sitzend, holte uns dann doch die
dunkle Seite dieses Genres ein: «Fünfer oben link, Sechser unten
rechts», sagte Wiesmann und seine immer freundliche Assistentin
notierte das mit einem Kreuz auf einer Karte, auf der ein komplettes
Gebiss abgebildet war. Und das hieß dann jedes Mal, dort klaffte ein
Loch, und das wiederum bedeutete, man würde in den nächsten Wochen
und Monaten mehrmals allein hierher kommen und sich auf diesen Stuhl
setzen müssen und es würde dann ganz und gar nicht mehr so gemütlich
sein, wie gerade jetzt, bei der Untersuchung und dabei gäbe es auch
nicht mal mehr einen Kaugummi.
Die
Zahnbehandlungen selber erlebten wir dann als den blanken Horror.
Kein Wunder, mit den Bohrwerkzeugen, die den Zahnärzten damals zur
Verfügung standen. Wiesmanns Praxis schien zwar für seine Zeit
modern eingerichtet. Aber auf keinem Gebiet der medizinischen
Eingriffe sollten noch so gewaltige Fortschritte erzielt werden, wie
bei den Zahnärzten. Das stimmt natürlich keinesfalls, aber so sahen
wir es, weil Eingriffe an den Zähnen praktisch die einzigen
derartigen Eingriffe waren, die wir als Kinder so direkt und mit
vollem Bewusstsein erlebten.
Wiesmann setzte nie eine Spritze. Ich wusste zwar, es gab so was,
aber das schien mir doch irgendwie weit weg - für die ganz krassen
Fälle. Schon eine simple Plombe bedeutete gut einmal eine Stunde
lang nichtendendwollenden Schmerz. Der Bohrer war mit einem
ausgeklügelten Gestänge verbunden, das der Doktor wie einen
Gelenkarm in alle Richtungen biegen konnte. Angetrieben wurde das
Folterwerkzeug mit Gummiriemchen, die über Rädchen liefen und so an
allen Gelenken die Drehwirkung weitergaben. Der Bohrer selbst war
aus blankem Stahl und im Vergleich zu heute enorm langsam. Das Ding
rumorte nicht nur im Zahn, sondern im Kiefer und im ganzen Kopf, und
man musste ein grässliches Dröhnen und Würgen erdulden. Je näher der
Bohrer zur Zahnwurzel vorstieß, umso fürchterlicher erlebte man den
giftigen Nerv. Dann setzte Wiesmann ab und leierte mit einem
geradezu pastoralen Ton: «Und noch einen Schluck Spülen», und
während ich das tat, schielte ich nach rechts und sah, wie er
bereits einen anderen Bohrer einspannte.
Und
weiter ging die Quälerei. Als dann endlich, endlich, nach der weiss
nicht wievielten Bohrerrunde - jedenfalls hatte ich bis dahin die
kleinen weißen Gläschen mit den farbigen Ringen auf dem Tablett, das
direkt vor meinen Augen die Sicht durchs Fenster in die freie Welt
versperrte, schon sicher tausendmal gezählt - endlich das Füllen mit
Amalgam kann, bedeutete das schon so was, wie wenn ich von der Hölle
zurück ins Fegefeuer dürfte. Und hatte ich dann endlich alles
überstanden und hatte Wiesmann zum letzten Mal: «und jetzt noch
einen Schluck spülen» gesagt, dann stieg ich zwar erlöst vom
Torturstuhl, aber ich wusste auch, das Fräulein Soundso hatte noch
mehrere Kreuze auf die Zahnkarte gemalt und es sollte nur eine Frage
der Zeit sein, bis ich zur nächsten Folterung aufgeboten würde.
Einmal
hatte mir Wiesmann sogar gedroht, eine Spreizspange in den Mund zu
setzen, weil ich irgendwie den Mund nicht brav genug offen gehalten
hatte. Ob er’s gemacht hätte, weiss ich nicht, aber er hatte es doch
gesagt. So fügte sich fortan zum Erdulden noch pure Hilflosigkeit
hinzu. Was für eine gewaltig Macht doch so ein Zahnarzt besaß. Das
erzählte ich zu Hause nie. Wiesmann, wie mein Vater in der
Schulpflege, ja sogar deren Präsident, sah ich gerade dadurch als
eine mindestens so große Autorität, wenn nicht noch die größere, wie
ein Lehrer.
Eigentlich sollte ich mir heute ernsthaft überlegen - wo man es sich
doch zum Sport gemacht hat, Bischöfe und Schulrektoren vor den
Richter zu zerren, weil sie mal in den letzten fünfzig Jahren
irgendwo zu einem Stock gegriffen hatten, als ihre Rangen nicht gut
taten - ob man Zahnärzte nicht auch einklagen könnte, weil sie uns
damals so unsäglichen Schmerz bereiteten, uns buchstäblich folterten
und unsere Eltern noch dafür bezahlte mussten. Nun ja, lassen wir’s.
Es würde mit fünfzig Jahren nicht einmal zurückreichen in diese
Zeit, als ich zum Schulzahnarzt gehen musste. Außerdem trug ich
keine psychischen Schäden davon – und ja, die Zahnärzte, auch
Wiesmann und Bachmann, gaben eigentlich alle nur ihr Bestes, um
unser junges, mit Süßigkeiten und Schleckereien arg malträtiertes,
kariesbelastetes Gebiss intakt zu erhalten. Turbobohrer mit
Diamantkrone und Wasserkühlung waren noch nicht erfunden, und dafür
konnten sie ja nichts.
Nur
eines sollte klargestellt werden: in den Momenten, ach was sag ich:
in den Stunden auf seinem Zahnarztstuhl war ich nicht stolz, zu
Wiesmann zu gehören – mindestens bis zur nächsten
schulzahnärztlichen Untersuchung nicht, wenn der Lehrer wieder
fragte, «Wer ist bei Wiesmann und wer ist bei Bachmann?», und wir in
der nächsten Pause für unseren Zahnarzt auf die Barrikaden gingen.
Harry Greis