Der Goldene Eber

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Harry Greis

Der Goldene Eber

Die Abenteuer eines Geländespiels

 

 

Illustrationen: Werner Hofmann

© 1969 by Rex-Verlag Luzern/München

Druck: A. Röthlin, Sins

Einband: Verlagsbuchbinderei An der Reuß AG., Luzern

 

 

 

1.Kapitel

 

Mit einem Hechtsprung, als gälte es, einen Fußball noch mit letzter Kraft aus dem Tor zu angeln, warf Urs sich ins dichte Gebüsch. Irgendwoher war das Knacken eines dürren Astes an sein Ohr gedrungen.

«Au verflixt, hier sind Dornen», zischte er. Beinahe hätte er laut aufgeschrien, aber er durfte unter keinen Umständen entdeckt werden. Er verbiß daher den Schmerz. Eine lange Brombeerranke hielt sich hartnäckig an seinem grünen Hemd fest, und über das rechte Knie rannen Bluttropfen.

Der Bub zog vorsichtig die Dornenspitzen aus dem Fleisch und tupfte mit seinem zerknüllten Taschentuch behutsam das Blut ab. Dann faßte er seinen Dolch, hieb mit kräftigem Schlag den Zweig ab und löste das widrige Ding vom Hemd.

«Wenigstens ist das Hemd nicht zerrissen, sonst könnte ich heute abend wieder so einen blöden Dreiangel zunähen.»

Wohl ging es Urs dabei weniger um das Hemd als um das Nähen. Als waschechter Jungwächter konnte er zwar Knöpfe annähen und Risse notdürftig aus­bessern, aber trotzdem hantierte er lieber mit Kompaß und Karte als mit Nadel und Faden. Denn Frauenarbeit, so meinte er jeweils großspurig, sei seiner nicht würdig. Er steckte das Messer in die Lederscheide, richtete sich halb auf und lauschte gespannt.

Der Wald schwieg keineswegs. Aus allen Baumkronen zwitscherten die Vögel, aus dem Moosboden zirpten Grillen, und ganz in der Nähe stimmte ein Grünspecht mit dumpfem, schnellem Taktschlag in den hundertstimmigen Kanon ein.

«Was ist nun jetzt eigentlich los? Wurde ich entdeckt, oder bin ich hier hineingesprungen, um Ostereier zu suchen?»

Seine Hand griff tastend nach der Brusttasche. Es knisterte nach Papier.

«Sie ist noch da, und ich werde sie sicher in unser Lager bringen. Das habe ich versprochen.»

Der Bub klaubte aufgeregt einen Zettel hervor, blickte lauernd wie ein Sperber um sich, ob nicht irgendwo ein unberufenes Augenpaar Zeuge seines Tuns sei, und faltete das Papier auseinander.

«Geheimmeldung von Bulle an den Löwenboß» stand oben, mit Bleistift geschrieben. Die Meldung selbst war durch Morsezeichen chiffriert.

Urs warf mit einer längst gewohnten Kopfbewegung seine dunkle Haarsträhne aus der Stirn und ließ ein triumphierendes Grinsen über das volle, braungebrannte Gesicht huschen:

«Und wir werden den ,Goldenen Eber' vor diesen langweiligen Bären gefunden haben, so wahr ich Urs heiße.»

Beinahe hätte er sich vor Freude und Übermut mit der flachen Hand klatschend auf den Schenkel geschlagen, da zuckte er erneut zusammen.

«Jetzt hat es doch ganz in der Nähe geknackt. Ein Tier kann es nicht gewesen sein, denn Großwild wechselt kaum um diese Zeit, und für Kleintiere war das Knacken zu kräftig. Zum Donner, wenn mich hier jemand erwischt, komme ich niemals bis zum Lager! Aber ich muß durch.»

Hastig steckte er den Papierfetzen wieder in seine Brusttasche und knöpfte diese fiebernd zu. Dann schob er langsam die Zweige einer Haselnuß­staude auseinander, um so einen Blick durch das Dickicht zu gewinnen.

Links, gegen den Hang hin, verdeckte eine Gruppe junger Nadelhölzer die Sicht. Aber auf der anderen Seite sah Urs geradezu auf den Waldweg hinunter. So angestrengt er auch suchte, nirgends mochte er etwas Verdächtiges erblicken. Ein friedlicher Spa­ziergänger konnte also kaum der Urheber dieser beiden Geräusche gewesen sein.

Dort, wo der Weg in die freie Wiese hinaustrat, öffnete sich der Wald und ließ, wie durch einen gewaltigen gotischen Torbogen, den Buben einen Blick hinüber zum Belchen tun.

Brütende Sommerhitze staute sich über dem Jura und tauchte die ganze Gegend in ein silbernes Flimmern. Weit hinten hoben sich ein paar Fetzen von Schönwetterwolken vom stahlblauen Himmel ab, und hoch droben segelte mit ruhigen Schwingen ein Bussard so leicht, als wären alle Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Urs beneidete ihn beinahe.

«Der sieht unsere beiden Lager, ohne sich mühsam durchringen zu müssen. Wenn ich so fliegen könnte, ja, dann wäre uns der Sieg gewiß.»

Der Knabe schaute hinüber zu den goldenen Kornfeldern. Nicht weit vom Waldrand wurden sie durch saftige Matten abgelöst. Jetzt erst erinnerte sich Urs an diesen Waldausgang. Da hatten sie vor einer Woche zum ersten Mal ihr Lagerhaus entdeckt.

Hei, war das ein Jubel! An ,Zigi Zagi' und Hurrarufen fehlte es nicht. Berni, Christian und Res schwangen ihre beflaggten Clairons, die in der Sonne aufblitzten, und schmetterten zum Gruß den ,Schwyzerbueb' hinüber, und Fredi klopfte die ,Basler Tagwache' auf sein Trommelfell, daß es von den Wäldern widerhallte.

Ja, und Bulle pfiff alle sechzig Jungwachtbuben zu sich heran, machte mit dem Arm einen weitausholenden Bogen und erklärte feierlich:

«Hier werden wir vierzehn Tage lang unsere Ferien verbringen. Seht euch diese tolle Gegend an. Da drüben liegt der Belchen und hinter uns der Hom­berg. Dort weit im Hintergrund, nordöstlich von hier, ist der Hauenstein. Da führt eine Paßstraße von Olten nach Basel. Schon die alten Römer benützten diesen Weg, allerdings noch nicht im Cadillac. Heute aber fährt man am schnellsten durch den langen Tunnel, der nicht weit von da, wo wir stehen, durch den ganzen Berg führt. Und dort, rechts unterhalb der Belchenfluh, jenem schroffen Felsen, der sich wie ein Kegel über den Wald erhebt, seht ihr, gleich neben dieser hellen Waldschneise, unser Lagerhaus.»

Bulle hatte damals kaum seinen Vortrag beendet, stürmten alle diese Stadtbuben, die eben den grauen, beengenden Häuser- und Straßenzügen ent­ronnen waren, wie freigelassene Hunde den Abhang hinunter, unbeachtet der Mühen, die es kostete, sich auf der anderen Seite wieder hochzuarbeiten, denn jeder wollte der erste sein, der seinen Fuß auf das Lagergelände setzte.

Urs blickte lange dort hinüber. Die Flaggen hingen schlaff und träge am Mast; das Rot der Schweizerfahne zeichnete sich am deutlichsten vom grünen Hintergrund ab. Weniger klar ließ sich das Jungwachtbanner erkennen. Vor einer knappen Stunde war der Meldeläufer dort drüben mit einer für die Löwen außerordentlich wichtigen Botschaft gestartet und hatte sich in mühseliger Kriech- und Tarnarbeit bis hierher durchgeschlagen.

Seit heute morgen lag die grüne Schar, in zwei feindliche Lager gespalten, an recht gegensätzlichen, gut versteckten Punkten auf der Lauer, und kaum verstrichen fünf Minuten, ohne daß irgendwo ein Feldstecher ans Auge gesetzt und Meter für Meter das gegnerische Gelände abgetastet wurde. Die Kampfstimmung war großartig, und man versprach sich, sowohl bei den Löwen, wie bei den Bären, die besten Erfolge, möglichst viele erbeutete ,Leben' und selbstverständlich — daran lag ja der Reiz des ganzen Spiels — den ,Goldenen Eber'.

Mit diesem ,Goldenen Eber' war es aller­dings so eine Sache. Es handelte sich um eine kostbare Schatztruhe, die aus dem Heereszelt Karls des Kühnen von einem hinterlistigen Junker gestohlen worden war, als der stolze Burgunder mit seinen Kriegern gegen Murten zog. Der Dieb soll sich, so erzählte man, bei Nacht und Nebel mit seinem Apfelschimmel aus dem Staub gemacht haben; darauf, krampfhaft das wertvolle Raubgut vor sich auf dem Sattel, mit wehendem Mantel und fliegenden Haaren in der Nähe von Solothurn gesehen worden sein und schließlich über den Weißenstein den Paßwang erreicht haben. Tags darauf hielten Bauern in der Gegend von Walden­burg den weißen Hengst auf, der scheu und verängstigt und mit zerzauster Mähne die Felder durchjagte. Der Junker wurde oberhalb des Paß­wangs tot aufgefunden. Seine Leiche lag am Fuße eines hohen Felssturzes. Den Schatz aber hatte niemand mehr gesehen.

Nun ging das Gerücht um, wilde, bärtige Wegelagerer hätten den jungen Reiter angefallen, über jenen Felsen gestürzt, die Schatztruhe in das Belchengebiet geschleppt und dort schließlich an einem geheimen Orte versteckt. Der Geist des Junkers aber wäre im Körper eines wilden Ebers diesen Raubmördern gefolgt und hätte sich in einer Vollmondnacht aufs gräßlichste an ihnen gerächt. Des­halb hieße dieser Schatz ,der Goldene Eber'.

Viele wagemutige Männer hätten sich schon aufgemacht, diese Kostbarkeit zu suchen, aber alle wären, so raunte man sich zu, auf geheimnisvolle Weise vom Erdboden verschwunden.

Die Jungwächter waren nun ausgezogen, diese Schatztruhe zu erobern, und sie hatten sich geschworen, vor nichts zurückzuschrecken, selbst nicht vor einem wilden Eber. Die Jagd nach dem ,Goldenen Eber' bildete den spannenden Moment ihres großen Geländespieles.

«Es ist doch nichts zu sehen.»

Urs schob sich, auf allen Vieren kriechend, durch das Buschwerk. Lautlos und lauernd wie ein Fuchs, der ein Reh wittert, schob er sich Meter um Meter vorwärts. Einmal schreckte er auf:

«Jetzt trete ich selbst auf einen Ast und fürchte mich vor meinen eigenen Lauten. Aber da bewegt sich doch Laub!»

Deutlich vernimmt er jetzt ein gleichmäßig abwechselndes Rascheln. Das Blut stockt in seinen Adern, er duckt sich tief und sieht plötzlich einen Buben, der sich keinen Steinwurf entfernt ebenso umsichtig durch das Unterholz kämpft.

«Rolf!» schießt es Urs durch den Kopf. «Der Kerl will natürlich unser Lager ausspionieren. Das ist ja wieder einmal typisch. Und ausgerechnet den müssen die Bären schicken. Aber warte nur. Wenn du nicht so verdammt stark wärest, ich würde dir jetzt zeigen, wo ,der Bartli den Most holt'. Da würde dir dein Heucheln schon vergehen.»

Rolf hatte noch nicht bemerkt, daß er ins Blickfeld eines Spähers getreten war. Unbeirrt zwang er sich durch die Buchenstauden, wobei er sich auf die Nadel seines Kompasses verließ, die ihm, auf einem Spiegelchen tanzend, die Richtung zeigte.

Es stimmte, Rolf war Urs an Körperstärke weit überlegen, obwohl sie beide gemeinsam die 2. Realklasse besuchten. Daß sie Freunde wären, konn­te allerdings niemand von ihnen sagen, denn allzugut leiden mochten sie sich wirklich nicht.

Instinktiv folgte Urs seinem Gegner und grü­belte krampfhaft nach, wie er verhindern könnte, daß Rolf sein Lager entdeckte.

«Ich muß zuerst dort sein, denn allein schaff ich es nicht. Uhh, ausgerechnet der! Gerade gestern hat er mich wieder hereingelegt, der Kerl.»

Urs ließ sich flach auf den Boden fallen, denn Rolf hatte sich jäh umgedreht. Hatte er etwa die Verfolgung gewittert?

Unbeweglich stand Rolf da, mitten im grünen Laub, im noch grüneren Hemd, das stolze Chiro auf der Brust. Ein Sonnenstrahl ließ die freche Stirnlocke wie ein Seidenbündel mit Licht durchfluten. Wenn Rolf seine runden Lippen so heftig zusammenpreßte, seine Muskeln im schmalen Gesicht nervös auf und ab spielten und seine blau­en Augen scharf einen einzigen Punkt fixierten, dann war er einer Sache auf der Spur, dann wußte er: «Hier droht Gefahr.»

Urs lag dicht am Boden, seine Hände im dürren Waldgras verkrampft, sein Gesicht, unbeachtet der stechenden Tannennadeln, auf die Erde ge­preßt, so still, daß er seinen eigenen Atem vernahm und deutlich jeden Herzschlag spürte.

 Doch da krochen rote Ameisen über seine Arme und Beine und spritzten ihre ätzende Säure auf die Haut. Urs juckte auf.

«Ah, pfui Teufel!» schrie er in die Stille. «Da ist ja ein ganzer Ameisenhaufen!»

Rolf stand mit einem mächtigen Sprung vor ihm, breitbeinig, die Hände herrschend in den Hüften, schadenfroh das Elend vor sich mus­ternd, den Mund zu Hohn und Spott verzogen, — während Urs verlegen aufstand, mit unwirscher Bewegung die verhaßten Verräterbestien auf den Boden fegte und mit flammenden Augen den Blick seines Gegners erwiderte.

 

 

2. Kapitel

 

Das Kampflager der Bären schien verlassen. Weder ein menschlicher Laut vom Waldrand her noch das Schwenken eines Astes verrieten, daß hier an die dreißig Buben ungeduldig die nächste Gelegenheit erwarteten, sich in die Schlacht zu stür­zen und ihren Mann zu stellen.

Erst, wer die grüne Wand auseinanderschob und durch sie ins Dickicht trat, konnte gedämpftes Flüstern vernehmen. Dann allerdings stand er mitten unter den Bären und wehe, wenn er diesen ein Feind war: er hätte gewiß in kürzester Zeit mit dem Marterpfahl Bekanntschaft machen müssen.

Die Buben hatten nichts anderes zu tun, als zu warten. So lagen die einen faul auf dem Rücken und spielten gedankenlos mit herunterhängenden Zweigen, die anderen ließen es sich auf dem Bauch wohl sein, stützten den Kopf auf die Ellbogen und schwenkten die Beine durch die Luft. Einige hockten auf großen Kalksteinen, die aus der Erde ragten, und säbelten mit ihren Dolchen an einem Haselstock herum, während ganz Wagemutige hoch oben wie Trauben in den Baumkronen hingen.

Zur selben Zeit knieten Res, der Bärenboß, und die beiden Gruppenführer Berni und Marcel im Kommandozelt und brüteten über einer Karte. Lange schwiegen sie, studierten, erwogen, legten den Maßstab auf's Blatt, kritzelten Zahlen in ihren Notizblock, bis Res plötzlich die Stille brach:

«Die Sache ist, auf's Ganze gesehen, gar nicht so simpel. Wir können zum Beispiel kaum das Lager gegen die Hornfluh hin verlassen, ohne entdeckt zu werden. Meiner Schätzung nach müßten die Löwen ihre Zelte in der Nähe von Punkt 865 aufgeschlagen haben. Vermutlich hier in einer dieser Lichtungen.» Er malte mit dem Bleistift ein Kreuz auf die Karte. «Das wäre etwas mehr als 1000 Meter Luftentfernung. Mit einem Feldstecher beobachten sie so spielend unsere ganze Krete.»

«Glaubst du, daß sie wissen, wo wir uns befinden?» zweifelte Berni. «Unser Lager ist so gut getarnt, daß es kaum gefunden werden kann. Und wenn es einer erblickt, steht er nahe genug, um in unsere Falle zu geraten.»

«Das schon, aber wir können doch jetzt nicht einfach zwei Tage hier liegen und die Zeit totschlagen; wir müssen hinaus. Und außerdem haben die ihre Spione und Posten wie wir. Wenn sie auch das Lager noch nicht kennen, so wissen sie sicher den ungefähren Standort. Das ist gefährlich genug.»

Marcel drehte sich auf den Rücken und trommelte ein paar Takte der ,Reveille' auf das gespannte Zelttuch. Es war keines jener großartigen Luxuszelte, wie man sie überall auf den Campingplätzen antrifft. Nur einige Militärzelteinheiten, zuammengeknöpft über vier Stöcke gespannt, dienten als Dach. Eine Wasserrinne brauchte es hier nicht, denn das Zelt stand genau auf einem schwach abfallenden Grat. Das Tuch konnte schon von wenigen Metern Entfernung kaum mehr vom Laub unterschieden werden, denn es war mit dunklen Tarnfarben bedruckt. Allerdings ließ es dafür so wenig Licht durchfluten, daß die drei Gruppenführer eine ganze Bahn zurückknöpfen mußten, um überhaupt etwas auf ihrer Jurakarte zu erkennen.

«Wenn nur Rolf endlich wieder hier wäre. Dann hätten wir wenigstens den genauen Standort der Löwen. Vorausgesetzt, daß er diesen ermit­teln konnte.»

Res schaute auf die Armbanduhr: «Eigent­lich müßte er schon seit einer halben Stunde da sein. Ich weiß, es ist eine recht heikle Angelegenheit, der Hornfluh entlangzuschleichen, aber Rolf ist ein ausgezeichneter Späher.»

«Ja, das ist wahr», warf Berni dazwischen. «Auf Einzelposten und in Sonderaufgaben leistet er tolle Sachen. Wenn er nur etwas mehr Gemeinschaftssinn in die Gruppe brächte.»

«Komm, das ist jetzt egal», knurrte Marcel. «Mir wäre es jedenfalls sympathischer, er würde uns die Position der Löwen ins Lager bringen. Über­haupt muß jetzt einmal etwas geschehen. Mir wird die Sache langsam langweilig. Seit heute morgen hocken wir da. Gut, wir haben unser Lager eingerichtet, aber ich möchte endlich ein bißchen Kraft gebrauchen.»

«Nur keine Panik, guter Mann», besänftigte ihn der Bärenhäuptling. «Erstens geht es um den Schatz, den wir suchen wollen. Da dürfen wir uns nicht überstürzen. Dann ist das Spiel in erster Linie für die Buben gedacht und nicht für uns. Selbstverständlich sollen wir auch unseren Spaß daran haben, aber...»

«Komm, streitet nicht, mir fällt etwas ein.» Berni stieß Res in die Rippen: «Hast du eigentlich die Signalraketen schon erhalten?»

«Signalraketen?» fragte Marcel.

«Ja, wir sollten doch von Bulle drei Signalraketen bekommen. Wenn im Kampf irgend ein Unfall passiert, müssen wir doch das Lagerhaus benachrichtigen können. Die hätte ein neutraler Meldeläufer überbringen sollen, und zwar schon um Mittag; jetzt ist es bald zwei Uhr.»

«Du, da wittere ich eine Falle. Ich spüre so etwas jeweils in der kleinen linken Zehe. Berni, hole einmal die Bändel für einen eventuellen Kampf, und verteile sie an die Buben.»

Berni kroch in den hintersten Winkel des Zeltes, schob ein paar dicke Wolldecken von seinem Rucksack weg und zog diesen zu sich heran. Er klemmte die Taschenlampe zwischen die Zähne und löste die Schnüre. Was da nicht alles zum Vorschein kam! Der Bursche kramte ein Bündel roter Wollfäden aus einem Wirrwarr von Karten, Kompässen, Blechtassen, Armeebestecken und Bleistiften, Erste-Hilfe-Mäppchen, Gamellen und Feldflaschen. Zuunterst lag noch ein rot-weißes Tuch. Der Sack flog klirrend in die Ecke zurück.

«O. K. Boß, alles bereit, und für dich ist hier eine Morseflagge. Hab aber acht auf sie, sie wiegt 250 Punkte.»

Res fing das ihm zugeworfene Tuchknäuel mit der einen Hand auf, löste die bronzene Schnalle seines Gurtes und wand den wertvollen Stoff um das Leder.

Da stürmte plötzlich Hans, einer der kleinsten Jungwächter, zum Führerzelt, übersah vor lauter Aufregung die Spannschnur und landete mit einem herrlichen Salto genau auf dem Kartenblatt. Nicht weniger entgeistert als die drei Führer, rappelte er sich wieder auf, fuhr mit dem Handrücken über seinen verschmierten Mund und stotterte keuchend:

«Res, ich komme gerade von der Linde dort drüben,
und...»

«Von wo?»

«Von der großen Linde bei der Weggabelung.»

«Hans, ich habe doch ausdrücklich erklärt, daß keiner ohne unser Wissen das Lager verlassen darf, und in dieser Richtung erst recht nicht.»

«Ich wollte ja nur ein bißchen umschauen. Es wunderte mich einfach, was dort los sei. Ich bin aber ganz sicher bis dorthin gekrochen.»

«Das sieht man dir wohl an. Dann erzähl, was los ist.»

«Ja, wie ich so im Gras liege und hinunterschaue — weißt, zu dem Bauernhof da unten ...» Hans zeigte mit dem Arm die Richtung.

«Ah, du meinst den Erlihof!»

«Da stehen zwei Personen hinten beim Holzschopf und fuchteln mit den Händen in der Luft.»

«Und, dürfen die das nicht?»

«Schon, aber das waren sicher Jungwächter, ein größerer und ein kleiner. Auf alle Fälle trugen sie grüne Hemden. Und da sehe ich, wie auf einmal ein grauer VW heranfährt und anhält. Die Kerle rennen zuerst zum Auto und tragen dann irgend einen Gegenstand in Blitzeseile zum Wäldchen hin­auf.»

«Und der Wagen?»

«Der hat gewendet und ist verschwunden.»

Marcel stand auf: «Das kann nur der VW des Präses gewesen sein! Hast du sonst nichts mehr festgestellt, Hans?»

«Nein.»

«Interessant.» Res fischte seinen Notizblock unter der Karte hervor und kritzelte ein paar Worte darauf. «Ich danke dir, Hans. Aber in Zukunft wird gefragt, wenn man das Lager verlassen will. Und jetzt geh und wasch dir deine Knie und Arme, du siehst ja aus wie ein kriegsbemalter Roßhaar­mulatte.»

Res schlug seinem Nachbarn wuchtig auf die Schultern: «Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht. Verteile die Kampfbändel an die Buben. Aber gib nur den starken mehr als zwei davon, sonst sind wir nach fünf Minuten ausgehungert. Und du Berni, gehst nochmals zur Linde, derweil ich mir die Sache von unserem Ausguck ansehe.»

Er faltete die Jurakarte umständlich zusam­men, steckte sie in seine Ledertasche und verließ gebückt das Zelt. Dann flitzte er an den beiden ,Schlafkähnen' vorbei, die ebenfalls aus getarnten Militärblachen zusammengebastelt worden waren, eilte quer über den holprigen Eßplatz, wo sich die meisten Buben aufhielten, und hielt erst bei der großen Steinplatte, unter der ein lustiges, aber schwa­ches Feuerlein züngelte.

Willi war eben im Begriff, einen halben Sack Zucker in den Kochkessel zu leeren, den er über dem Feuer zwischen einen klaffenden Spalt geklemmt hatte, als er seinen Führer neben sich erblickte, mit einer tiefen, senkrechten Stirnfalte, die verriet, daß irgend etwas passiert war.

«Los, lösche das Feuer, es wird einen Angriff geben.»

«Was, jetzt, da der Tee gerade fertig geworden ist?»

Der Bub brach einen frischen Zweig von einer Staude und rührte damit in der brodelnden Flüssigkeit herum.

«Hm, wie der duftet, gleich kannst du einen Schluck probieren.»

«Verteile meinetwegen an die anderen. Ein wenig Stärkung vor der Schlacht schadet nichts, aber mach schnell, und das Feuer muß ausgelöscht werden.»

Der Koch tauchte seinen Becher in den Kessel und kostete.

«Oh, très bien, willst du?»

«Nein, ich muß jetzt fort. Mach vorwärts.» Und weg war Res.

«Immer diese Hetzerei», knurrte Willi, «na ja, Schicksal. Max, komm, hilf mir den Kessel vom Feuer nehmen. Der Tee ist finito.»

Der Gerufene eilte herbei: «Du mit deinen ewigen Fremdwörtern!»

Zu zweit zogen sie mit Hilfe eines dicken Astes den heißen Topf aus dem Spalt heraus und stellten ihn zur Abkühlung beiseite.

«Wer Tee will, soll kommen. Aber avanti, avanti!»

Sich beinahe selbst überschlagend, hastete Res den schmalen Pfad entlang zur Erlifluh. Dort lagen Sigi und Franz über einer hohen, jäh abfallenden Felswand auf der Lauer und spähten mit einem Fernglas aus schwindelnder Höhe über einen gäh­nenden Abgrund hinweg zum Weidli hinüber.

Der Punkt eignete sich großartig als Beobacht­ungs­posten. Allerdings durfte man kein Drehen im Kopf verspüren, wenn man da oben stand, und ein komisches Gefühl in der Magengegend konnten selbst ganz Mutige nicht verhindern. Silberdisteln und Erikasträucher säumten die unheimliche Steinplatte, und einige ganz waghalsige Bergföhren lehnten weit über die Wand hinaus. Das ganze, weite Lagergelände lag frei und unbehindert vor den beiden jungen Menschen, die stumm nach Süden deuteten und beinahe rhythmisch das Glas wechselten.

«Ist etwas?» keuchte Res hinter ihnen.

«Kerl, hast du mich erschreckt!» Sigi hätte beinahe seinen Feldstecher fallen lassen. «Ja, vorhin war Bulle mit dem Präses da unten.»

«Ich weiß, aber wo und wer sind die beiden Jungwächter?»

«Die sind gleich ins Holz da drüben verschwunden. Wer es war, konnten wir nicht feststellen, denn sie mußten sich hinter dem Bauernhof aufgehalten haben. Auch gelang es uns nicht zu erkennen, was mit dem Auto geschah. Es fuhr hin, kam nach knapp drei Minuten wieder hinter der Scheune hervor und verschwand. Erst da gewahrten wir die beiden Buben, die davonstürmten und ein Paket mit sich schleppten.»

Franz hatte das Glas angesetzt. «Aha, der VW steht wieder vor dem Lagerhaus. Aber da, schau einmal da hinüber!»

Er reichte Res den Feldstecher.

«Tatsächlich, jemand kriecht dort durchs Gras. Habt ihr den Boten nicht gesehen, der uns die Raketen bringen sollte?»

«Nein.»

«Und wo liegt das Löwenlager?»

«Vermutlich dort im Südwesten. Jedenfalls tau­chen dort ab und zu für kurze Zeit Gestalten auf.»

«Also hört. Ihr bleibt jetzt noch eine Weile hier. Einer paßt auf und der andere kommt nach zehn Minuten ins Lager. Alles Weitere ergibt sich. Wenn etwas besonders Verdächtiges zu entdecken wäre, meldet ihr dies uns sofort. O. K.?»

«Yes.»

 

Indessen hat Marcel die größte Mühe, die quecksilbrigen Buben im Zaum zu halten. Denn wenn das Kampfblut in den Adern kocht, vergessen sie nur allzuleicht jede Disziplin. Die Kletteraffen haben ihre Hochsitze verlassen, die Schnitzmesser stecken wieder in ihren Lederhüllen und bei der Kochstelle zeigt ein dampfender Qualm, daß das Feuer seinen Geist ausgehaucht hat.

« Jeder bindet einen Bändel an den linken Oberarm, und zwar so, daß er nicht verdeckt ist. Der zweite dient als Notration.»

Die Jungwächter knöpfen sich gegenseitig die Wolle um den Arm, und zwei, drei der mutigen Krieger üben an irgend einem ahnungslosen Geg­ner ihre ‚Kunstgriffe'.

«So, und jetzt seid nicht so übermütig. He, Werner und Heini, rauft nicht, sondern spart eure Kraft noch auf! Es gelten nun folgende Regeln: Der Bändel des Feindes muß weggerissen werden. Der eigene darf nur mit der rechten Hand geschützt werden. Alle müssen immer dicht beisammen bleiben, nur so sind wir stark. Verpulvert euere ,Leben' nicht durch unnötige Sondersprünge. Und vor allem müssen wir unseren Boß Res gut verteidigen, denn seine Flagge am Gurt ist kostbar. Anderseits aber trachten wir möglichst darnach, den Oberlöwen Fredi von seinem Tuch zu befreien. Und dann ...»

«Hilfe ! ...»

Ein Mark und Bein durchdringender Schrei läßt die Worte in Marcels Hals versiegen. Die Buben starren entsetzt auf ihren Führer. Keiner wagt einen Ton von sich zu geben. Jetzt wieder, ganz nahe am Lager:

«Au — Oh!»

Da torkelt urplötzlich Köbi auf die Gruppe zu, tritt in den Kreis und läßt sich scheinbar erschöpft auf die Knie gleiten. Sein Gesicht ist über und über rot beschmiert und an einem Bein flattert ein notdürftiger Nastuchverband, ebenfalls blutig verfärbt. Daß dies aber nur Tusche ist, fällt vor lauter Schrecken niemandem auf.

«Um Gottes Willen, helft mir», haucht er jammernd. «Ich hätte euch die Signalraketen übermitteln sollen. Da, wie ich bei der Weidlihütte vorbeikomme, überfallen mich aus dem Hinterhalt zwei Vagabunden, oder Räuber, oder ich weiß nicht was. Ich traute meinen Augen nicht, denn die glichen genau den Gesellen, die einst den ,Goldenen Eber' hiehergeschleppt haben. Einer packte mich und der andere riß mir die Raketen weg. Natürlich setzte ich mich zur Wehr. Da verprügelten sie mich nach Noten und schmissen mich die Halde hinunter.»

«Da haben wir's», knurrt Res, der zurückgekommen ist. «Ich habe gleich gedacht, daß etwas nicht stimmt. Los, macht euch bereit, wir müssen die Raketen zurückerobern, die sind für uns lebensnotwendig. Peter, du bleibst als Wache da und sorgst für den armen Kerl; und du Berni, holst dein Clairon. Denen bleuen wir einen gehörigen Schrek­ken ein. Herrschaft, wenn nur Rolf endlich zurück wäre. Der bleibt auch wieder auf der Strecke.»

«Wo bleibe ich?»

Keiner hat bemerkt, daß Rolf angekommen ist. Triumphierend schwenkt er einen weißen Zettel durch die Luft.

«Wo warst du nur so lange?» schimpft Res.

«Nur nicht gleich hochgehen. Erstens kenne ich das Löwenlager, und zweitens habe ich da ein ganz interessantes Papierchen.»

«Zeig her!» Der Führer überfliegt das Blatt, das mittlerweile mit grünen und braunen Flecken und einem kräftigen Riß ,verziert' ist.

«Wie kommst du zu der Meldung?»

«Die habe ich dem Meldeläufer Urs Schweninger abgenommen.»

«Toll! Bravo! s'Zäni!» schreien alle wild durcheinander.

Illustration aus "Der goldene Eber"

«Wie ich da mitten zwischen uns und den Löwen dahinschleiche, erwische ich den Kerl. Er muß mich schon vorher gesehen haben, denn er hockte am Boden. Da kniet der Narr in einen Ameisenhaufen und fängt zu brüllen an.»

«Das gleicht ihm wieder.»

«Na ja, wir veranstalteten eben ein kleines Ringkämpfchen. Übrigens habe ich den Schwächling noch nie so kämpfen sehen. Verbissen preßte er eine Hand auf die Brusttasche und wehrte mich mit der anderen ab. Das fiel mir auf. So wollte ich sehen, was er denn so Wertvolles zu verbergen hatte, und konnte ihm diesen Wisch entwinden. Wie er die Meldung in meiner Hand wußte, fing er zu heulen an, vermutlich um mein Mitleid zu erwecken. Aber darauf fällt der Sohn meines Vaters nicht herein.»

«Du, das haut. Wartet noch zwei Minuten, bis wir die Meldung entziffert haben. Und dann aber nichts wie los, gleich unseren Vätern bei Morgarten!»

 

 

3. Kapitel

 

«Zum Donner nochmal, ausgerechnet jetzt mußte mir der blöde Kerl in die Quere kom­men. Und schuld an allem Elend sind diese ein­fältigen Ameisenbiester.»

Urs hockte am Wegbord, stellte die Ellbogen auf die Knie und hängte seinen Kopf niedergeschlagen zwischen die Fäuste. Am liebsten wäre er gleich davongelaufen. Die ganze Welt samt dem Wald und seinen Ameisen konnten ihm in die Schuhe blasen. Eines dieser niedlichen Tierchen krabbelte unschuldig und ahnungslos seiner Hose entlang hinauf und wagte sogar, auf seinem nackten Arm einen kleinen Nachmittagsbummel zu machen.

«Au — schon wieder so eine verdammte Kanaille!» Urs sprang wütend auf, schlug wild um sich und tanzte tobend im Kreise herum. Da streifte sein flammender Blick unvermittelt einen hoch aufgetürmten Ameisenhaufen, der friedlich unter einer alten Fichte lag.

In wildem Zorn sprang er auf den Haufen zu, ergriff einen dürren Ast und begann ein sinnloses Zerstörungswerk. Der ganze Ameisenstaat wurde in Alarmzustand versetzt. Panik erfaßte die Tierchen. Sie schossen kreuz und quer durcheinander und versuchten, ihre Brut schleunigst in Sicherheit zu bringen. Da hielt der Bub inne. Es schien ihm, als erwache er aus seinem Wahnsinn, und wie ein Pfeil traf ihn die Scham, weil er so unbeherrscht seinem Zorn die Zügel hatte gleiten lassen.

«Der Jungwächter schützt Gottes Natur!» trommelte es in seinem Gehirnkasten, «Herrschaft, was fällt mir ein! Diese Ameisen können ja gar nichts dafür. Schuld bin ich selber, warum habe ich nicht aufgepaßt!»

Er strich schuldbewußt mit seinem Stock über den Haufen, um das aufgerissene Leck zuzudecken. Allmählich trat Ruhe ein, und die Tierchen nahmen ihre gewohnte Arbeit wieder auf.

Urs setzte sich, etwas ruhiger geworden, an seinen alten Ort zurück. Den Stecken hielt er noch immer in der Hand und stocherte damit nervös in der harten Erde herum.

«Was tue ich jetzt nur ohne Meldung?»

Er konnte es einfach nicht fassen, daß der Zettel nicht mehr da war. So schnell hatte sich aber auch alles zugetragen:

Rolf packt ihn an den Schultern; er seinen Gegner am Gurt. Beide zerren wie die Wilden und Urs muß bald feststellen, daß er viel schwächer ist. Da stolpert einer und beide rollen fest umschlungen ins Gras. Einmal liegt Rolf oben, dann wieder Urs. Nur das heiße Keuchen der beiden Kämpfer ist zu vernehmen. Urs kämpft wie ein Löwe, aber bald versagen ihm die Kräfte. Jetzt hat er nur noch den einen Gedanken: möglichst bald und ungeschoren aus dieser Zwickmühle zu verschwinden und die Depesche in Sicherheit zu bringen. Krampfhaft preßt er daher die Hand auf seine Brusttasche. Wie Rolf darnach greifen will, dreht er sich mit letzter Kraft auf den Bauch, um das Papier besser zu schützen. Aber der Feind wird gerade durch diese Gebärde erst recht neugierig, zwingt Urs die Hände auf den Rücken und arbeitet den Zettel aus seiner Sicherung heraus. Ein kurzer Blick genügt. Er springt auf, eilt wie ein Wiesel davon und ruft höhnisch:

«Adieu, merci.»

Urs fuhr mit dem Handrücken über die Augen. Die Meldung war weg, und daran ließ sich nun einfach nichts ändern.

«Wenn ich sie doch wenigstens gelesen hätte, dann könnte ich mir nochmals eine fabrizieren. Uh — hätte ich sie doch entziffert! Aber da kam ja Rolf dazwischen. Womöglich hat er mich sogar bespitzelt und wußte, daß ich eine Botschaft bei mir trug. Ich weiß nur noch, daß oben irgendwelche Koordi­naten angegeben waren, aber die Zahlen habe ich mir auch nicht gemerkt. Verflixt. Was tue ich bloß, was tue ich bloß? Ohne Meldung darf ich nicht ins Lager kommen. Was würde da Fredi sagen?»

Es hatte Urs unglaublich viel gekostet, das Amt eines Meldeläufers übernehmen zu dürfen. Fredi, der Löwenboß, hatte Bedenken. «Du bist nicht gerade der Stärkste, und an Erfahrung fehlt es dir auch. Bleib bei der Schar, das wird das Günstigste sein», hatte er gesagt, aber Urs ließ nicht locker. Einmal wenigstens wollte auch er seinen Mut und sein Können zeigen. Im Wald kannte er sich aus und für Geländetechnik schlug sein Herz. Nun, so gab der Führer ihm den Segen, nachdem er hoch und heilig versprochen hatte, die Meldung bombensicher ins Lager zu bringen. Und jetzt saß er ohne sie da und traute nicht, seinen Kameraden unter die Augen zu treten. Dabei wäre dies die große Chance gewesen.

«Und wie die anderen jetzt spotten werden. Vor allem Andi mit seinem geschliffenen Schnabel, und Charli ist auch nicht besser. Ich höre sie schon: ,Seht euch den Schwächling an.'»

Wieder brach Urs fast in Tränen aus:

«Was kann ich denn dafür, daß ich nicht so stark bin wie die anderen, daß mein Vater mir keine Möglichkeit geben kann, körperlich zu arbeiten? Auf den Sportplatz darf ich auch nie gehen. Ein Wunder überhaupt, daß sie mich zur Jungwacht lassen. Immer muß ich mit fein gebügelten Hosenfalten herumstolzieren. ,Hast du deine Hausaufgaben auch richtig gemacht? Zeig her!' heißt es die ganze Zeit. — Ja, da möchte ich Rolf heißen. Der hat es anders. Sein Vater besitzt eine Autobude. Da sieht man ihn immer im blauen Überkleid an den Wagen herumhantieren. Und beim Junioren-FC spielt er auch mit. Wenn ich nur schon seinen Namen rieche, geht mir das Taschenmesser im Hosensack auf. Immer hat er etwas zu meckern, auch in der Schule. Der will alles können, dabei überflügle ich ihn glatt in einigen Fächern. Der soll doch bei seinen Vehikeln bleiben und mich in Ruhe lassen.»

Urs hatte sich erhoben, ergriff einen Föhrenzapfen und schleuderte ihn mit voller Wucht hoch ins Geäst einer Weißtanne. Dann steckte er die geballten Fäuste in die Hosensäcke und schuhte im Waldgras herum. Das Sonnenlicht flutete warm durch die hohen Baumkronen. An wenigen Stellen genossen helle Farnpflanzen die Kühle des Schattens. Der Bub blieb stehen. Hier, an der Stelle, wo die Blätter auf den Boden gewalzt waren, hatte er mit Rolf um die Depesche gekämpft. Die Galle stieg ihm beim Anblick dieses Ortes hoch, dann aber schlug sein Gemüt auf Wehmut um. Eine hohle Sehnsucht nach etwas Unbekanntem stieg in ihm auf: gekränkter Stolz, leere Traurigkeit.

«Was liegt denn hier?» Zwischen all dem Grün entdeckte Urs ein kleines, rotes Büchlein. «Zum Kuckuck, ein Notizblock mit Kalender. Da schau einer an, der gehört Rolf. Der muß ihn beim Kampf verloren haben.»

Er faßte den Buchrücken und ließ die Blätter durch die Hand gleiten: Mutters Geburtstag am 4. Oktober, Erste Hilfe, Posttarife, Notizzettel mit fortlaufenden Nummern.

«Ah — alles erinnert mich an den Menschen.» Das Büchlein flog in weitem Bogen ins Gestrüpp.

«Halt einmal. Das bringt mich auf einen glänzenden Gedanken.» Er kroch unter die stechenden Tännchen und fischte das rote Ding wieder hervor.

«Ich schreibe doch eine Meldung und erfinde einfach einen neuen Text, tue aber so, als wüßte ich von gar nichts.»

Urs suchte nach seinem Bleistiftstummel, den er nebst Sackmesser, Schnur, Bierflaschen­verschluß und einigen verbogenen Büroklammern immer in der Tasche trug, zerrte ein Notizblatt aus dem Kalender und setzte sich auf einen morschen Holzstumpf. Er zog das eine Bein an, um so bequem das Knie als Unterlage zu benützen. Aber so einleuchtend ihm die Idee zuerst schien, jetzt wußte er nicht, was er schreiben sollte.

«Ich muß natürlich alles in Morseschrift setzen. — Aber irgendwie dünkt mich die ganze Sache doch etwas faul. Ich kann doch nicht einfach eine Falschmeldung machen. Das müssen die doch herausbekommen. Außerdem kennt Bulle den Text. Oder wenn die Bären mit dem Zettel erscheinen und Rolf erklärt, daß er ihn mir weggenommen hat, dann ist erst recht alles im Eimer. Verflixt, schon wieder dieser Rolf! Och, ich könnte ihn...»

Urs schämte sich fast über seine Gedanken. Sollte er nicht als Jungwächter allen ein flotter Kamerad sein? Weist nicht Bulle immer und immer wieder auf diesen Punkt hin, und war nicht alles ja bloß ein Spiel?

«Aber, ich kann einen Menschen wie Rolf nicht lieben. Ausgerechnet ihn. Das kann ich einfach nicht tun. Da hat Bulle leicht reden, der hat keine Feinde, und als Lehrer ist er sowieso ein angesehener Mann. Rolf lieben — ich kann es nicht. Er ist mir so zuwider. — Halt, jetzt weiß ich was. Ich schreibe doch eine Falschmeldung. Und zwar mit Koordinaten irgend eines abgelegenen Punktes. Man wird dort zwar den ,Goldenen Eber' nicht finden, aber die Hauptsache ist, daß ich eine Meldung habe. Bulle ist ja weit weg im Lagerhaus und wird kaum in nächster Zeit hier auftauchen, und die Bären werden wohlweislich nicht verraten, daß sie dem Schatz auf der Spur sind, wenn überhaupt etwas über ihn in der Depesche steht. Sollte es nachträglich doch auskommen, so behaupte ich ganz einfach, daß Rolf die Falschmeldung geschrieben haben müsse und, um mich zu täuschen, dieselbe mit der richtigen vertauscht hätte. Der Zettel stammt ja aus seinem Notizblock, und Zeu­gen hat er keine.»

Urs war sich noch nicht ganz im klaren, wie die Sache überhaupt verlaufen sollte. Er wußte nur das eine:

«Ohne Meldung darf ich unser Lager nicht betreten. Und wenn sie als falsch erkannt wird, schiebe ich sie Rolf zu. Unsere Leute sind dann auf ihn angeschlagen, weil sie seinetwegen in den Kakao stiefeln mußten.»

Er begann zu kritzeln: ,Geheimmeldung von Bulle an den Löwenboß.'

«Zum Donner, jetzt habe ich keine Karte. Ich kann doch nicht einfach irgendwelche x-beliebigen Koordinaten hinschreiben. Womöglich liegt dann der Punkt mitten im Genfersee. Laß ich das einmal aus. überhaupt muß ich mich beeilen.»

Er schrieb gewandt auf das Papier: «— — .  / — — —  / . — . . / — . ./ . / — . / . / . — . // . / — . ../ ./. — . //— — . / . / … / .. / — — — — / — / . / — // Goldener Eber gesichtet. Achtung, der Feind ist ihm ebenfalls auf der Spur. Rasches Handeln tut not.»

Unten schrieb er das Wort Bulle hin, vorsichtshalber ebenfalls mit Morsezeichen, denn eine Unterschrift zu imitieren, wagte er nicht.

Der Bub horchte auf. Von ferne hörte er die hastigen Töne eines Clairons und ein verzerrtes Geschrei.

«Haben die etwa zu kämpfen begonnen? Das würde gerade noch fehlen! Und ich hocke noch immer da und sollte seit einer halben Stunde zurück sein. Halt — das ist ja günstig. Dann ist das Lager verlassen. Ich hole mir im Führerzelt eine Karte und messe Koordinaten aus. Aber das Büchlein. Wenn ich das bei mir habe, kann ich ja ebensogut den Falschtext geschrieben haben. Das muß Rolf wieder erhalten, ohne daß er etwas merkt.»

Der Bub schiebt sich vorsichtig an den Waldrand, schlüpft zwischen zwei jungen Birken durch und orientiert sich über den Kampfzustand. Drüben beim Weidli zittert die Erde. Ein wilder Knäuel von kämpfenden Jungwächtern balgt sich auf der Matte. Urs versucht, die blauen Hemden zu zählen.

«Ausgezeichnet. Alle sechs Führer sind beim Kampf. Jetzt aber nichts wie los zu unserem Lager. Am besten gehe ich von hinten heran.»

Er flitzt dicht am Waldrand durch das Gehölz, um von außen nicht gesehen zu werden. Nach kurzem Lauf steht er in Sichtweite des Lagers. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Ganz wohl ist es ihm doch nicht dabei.

«Jetzt stehe ich hier und muß mein eigenes Lager anschleichen. Ich weiß nicht recht, ob ich das alles tun darf. Und erst recht die Falschmeldung? Hat nicht Bulle uns das Versprechen abgenommen, fair zu spielen?» Sekundenlang schwan­kt Urs, dann siegt doch sein Groll. «Zum Kuckuck! Rolf war auch nicht fair.»

Er kriecht bäuchlings an den Rand des Buschwerkes. Sein ganzer Blick fällt auf das verlassene Lager. Nirgends ist eine Wache zu sehen. Die Feuerstelle in der Mitte der Waldlichtung ist patschnaß und kalt. Gleich daneben liegt ein Kessel mit Wasser. Es mußte vom Feuer genommen werden, bevor es zu Tee bereitet werden konnte. Hinten um den kleinen Platz herum stehen im Halbkreis die Armeezelte, frei und ohne Tarnung, denn in der Richtung zum Feind hin verschließt eine mannshohe Hecke die Sicht. Vermutlich wird dieses Wiesenstück sonst als Weide benützt, denn wenige Meter unterhalb des Lagers plätschert fröhlich eine Kuhtränke. Der einzige Baum auf diesem Rasen eignet sich vorzüglich als Aussichtsposten.

«Aha, da oben hockt einer.» Urs strengt sich an, die Wache zu erkennen. «Da schau, es ist Markus. — Ha, der ist mir wenigstens nicht gefährlich! Aber sehen könnte er mich doch, und dann käme alles aus. Wie komme ich da nur hinein?»

Er schleicht auf die andere Seite der Lichtung. Noch immer hört man in der Ferne den Schlachtlärm. Auch Markus schaut mit wachsender Begeisterung dem Treiben zu. Er scheint überhaupt nicht zu bemerken, daß Urs schon wenige Meter vom Führerzelt weg am Boden liegt. Ein fürchterliches Geschrei und kurze zerfetzte Claironstöße zeigen plötzlich an, daß irgend eine größere Operation geschehen ist. Tatsächlich ist es auch den Löwen gelungen, die Morseflagge des Oberbrummbären zu erobern. Markus tanzt vor Freude und fällt beinahe von seinem Ausguck. Er klettert höher hinauf, um besser zu sehen, und just diesen Augenblick benützt Urs, um sich mit einem Satz hinter die Zeltplane zu werfen. Schnell kriecht er unter dem Tuch durch und lauscht, ob sich Markus vom Nußbaum her meldet — nichts. Er sucht nach Fredis Führertasche.

«Zum Donner, die liegt doch sonst immer hier in der Ecke! Jetzt hat er sie womöglich noch mitgenommen. Ach, alles umsonst. — Nein, da liegt sie!» Er zieht das Leder unter einer Wolldecke hervor, öffnet und zerrt die Karte heraus.

«Schnell, ich muß mich beeilen. Ich muß in den Kampf hineinkommen, bevor er zu Ende ist. Wo ist der Maßstab. Hier. So, jetzt schnell die Zahlen. Wo schicke ich die Kerle hin? — Da, auf den Hornfluhgrat.»

Illustration aus "Der goldene Eber"

Er legt den Maßstab waagrecht auf das Blatt. «631,500 jetzt der Höhe nach 245,575. So, da haben die aber zu steigen. Da sind nämlich Felsen. Und jetzt nichts wie zum Loch raus. Hoffentlich paßt der da oben nicht auf.»

Markus hat auch wirklich Interessanteres zu beobachten, als sein Lager zu hüten, und so verschwindet Urs unbemerkt mit seiner falschen Botschaft im Holz.

 

 

 

4. Kapitel

 

Das sonst so friedliche Weidli gleicht einem brodelnden Hexenkessel. Sogar die alten Eidgenossen würden staunen, wenn sie den Heldenmut, die Kriegstaktik und die Kampfeslust sehen könnten, die hier geboten werden. Freilich fließt weniger Blut als bei Sempach, aber dafür fliegen umso mehr gelbe und rote Wollbändel in Stücken durch die Luft und mit ihnen natürlich wertvolle Punkte. Es hat eigentlich damit begonnen, daß auch den Löwen ein neutraler Meldeläufer vom Lagerhaus ein Paket mit drei Signalraketen hätte übermitteln sollen. Dummerweise aber schlug Toni mit seiner hochexplosiven Fracht ebenfalls, wie Köbi, den Weg übers Weidli ein. Damit ereilte ihn kurz nach seinem Vorgänger das gleiche traurige Schicksal. Auch ihn hätten, so schilderte er wenig später völlig außer Atem den erstaunten Löwen, brummbärtige Gestalten von seinen Notraketen erleicht­ert. Erbittert und zum letzten entschlossen, zogen deshalb die Löwen, mit Fredi an der Spitze, nach Osten und gerieten dabei ahnungslos den ebenso verblüfften Bären in die Arme.

Unglücklicherweise nämlich hatten sie kurz vor diesen das Wäldchen zwischen Weidli und Erlihof erreicht und dort sofort das ganze Unterholz durchgekämmt. Dabei entging ihrer Aufmerksamkeit vor lauter Eifer, daß der Feind in geschlossener Phalanx anrückte. Erst als die ganze Bande unter Rufen und Schreien, angefeuert durch die nervenzerreißenden Claironrhythmen der französischen Tag­wache, den Abhang herunterstürzte, wurden sie der Gefahr bewußt.

Jetzt entwickelt sich ein unbeschreibliches Durcheinander. Fünf oder sechs stämmige Löwen stürmen auf Res zu, fangen seinen Angriff ab und zerren ihn zu Boden. Sie haben es auf seine Morseflagge abgesehen. Aber die Bären lassen ihren Hauptmann nicht im Stich. Doppelt soviele Buben verteidigen ihn. Auch Fredi hat nicht lange zu lachen, denn sein rotweißes Tuch flattert gar schön und verlockend an seinem Gürtel. Auch ihm bleibt nichts besseres übrig, als fest die Fäuste darin zu verschlingen und sich von Angreifern und Verteidigern wie ein Fußball über den Rasen wälzen zu lassen.

Die nacheilenden Bärenhorden überfluten den Rest der Krieger und im Nu balgen über die ganze Fläche verteilt Jungwächter im Gras und versuchen, sich gegenseitig die Bändel vom Arm zu reißen.

«He, kommt dahin.»

«Schnell — au!»

«Halt, dein Bändel ist weg — Herrschaft, so helft mir doch!»

«So ist es gut!»

«Nein!»

«Doch!»

«Los, alle auf Max!»

So schreien die grünen Helden unter und übereinander und können dabei ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen. Die ganze Wiese gleicht nach kur­zer Zeit einem knapp geschorenen Plüschteppich. Unter den zarten Gräsern, Schaumkraut und Salbeipflanzen fristen auch einige freche Brennesseln ihr Dasein, was für ein kriegsführendes Volk mit kurzen Hosen nicht gerade zum reinsten Vergnügen beiträgt. Aber was macht das denn schon aus, wenn es darum geht, die Kraft des Gegners zu zersprengen.

Res ist völlig machtlos. Die Hände, die nach ihm greifen, sind schon gar nicht mehr zu zählen. Ein undurchdringlicher Wirrwar von Armen, brau­nen und blonden Haarschöpfen, grünen Hemden und zappelnden Beinen, ein Zerren und Stoßen an Händen und Füßen, an Kopf und Gurt und na­tür­lich an der Morseflagge, ein Zeter und Mordio lassen den armen Kerl kaum mehr zum Schnaufen kommen.

Da gelingt es Charli, den Knoten des Tuches zu lösen. Er zieht es mit einem Ruck aus der Fassung heraus, springt auf und plärrt jubelnd:

«Hurra, wir haben die Bärenflagge!»

Christian flitzt zu seinem Clairon und entlockt ihm einen wahren Triumphmarsch. Berauschender Freudentaumel der Löwen stockt für wenige Sekunden die Schlacht. Der Knäuel um Res hat sich gelöst. Enttäuscht erhebt sich der Bärengewaltige, klopft den Staub von den Kleidern und fährt müde über sein verschwitztes Gesicht.

Seine Leute aber werfen sich erbost auf Fredi, dem es jetzt um kein Haar besser gehen wird. Auch er muß ein ganzes Gefecht über sich ergehen lassen.

 

Urs hatte inzwischen die Höhe der Weidlihütte erreicht. Er gab sich die größte Mühe, ein ordentliches, unschuldiges Gesicht zu machen und nahm sich fest vor, nur das Notwendigste zu erzählen. Er hoffte, in diesem Durcheinander untergehen zu kön­nen. Auf die Meldung würde jetzt doch keiner warten, und sein Ausbleiben haben sicher alle ver­gessen. Auch möchte er unbemerkt Rolf das Notizbüchlein zuschieben. Dabei war sich der Bub völlig bewußt, daß es jetzt galt, Theater zu spielen, und wehe, wenn ihm irgendwo ein Fehler in seiner Rolle unterliefe.

Mit einer flüchtigen Handbewegung versicherte er sich nochmals, daß der Kalender auch wirklich im Hosensack steckte. Er rückte die bronzene Gurtschnalle in die Mitte und schritt mutig und selbstbewußt dem Schlachtfeld zu.

Bis dahin hatte ihn noch gar niemand erblickt. So stürzte er sich mitten ins Chaos und zupfte und zerrte wie die anderen, als hätte er schon die ganze Zeit nichts anderes getan. Tatsächlich fiel vorerst keinem der Buben seine plötzliche Anwesen- heit auf.

Ratsch — da riß auch schon sein Bändel und er galt für den Moment als kampfunfähig. Verloren überflog er mit einem Blick den Platz.

«Wo um alles in der Welt ist denn Rolf? Aha, dort kämpft er. So, jetzt wird's aber heiß.»

Er warf sich neben ihn in die Balgerei, zog das rote Notizbüchlein aus der Tasche und ließ es blitz­schnell zu Boden gleiten.

 

Illustration aus "Der goldene Eber"  

 

5. Kapitel

 

Wenn Fredi seine Löwen ermahnte, den Mund zu halten und sich etwas vorsichtig zu bewegen, so erwuchs ihm dies sicherlich aus der guten alten Erfahrung, daß der Feind stets überall und nirgends zu finden ist. Und er hatte nicht unrecht. Kaum wußten sich die Bären außer Sichtweite, jagten sie ihren Rivalen auch schon den Meisterspion Rolf nach, der sich wahrlich einen Spaß daraus machte, die arglosen Krieger zu bespitzeln.

Nun stand er wieder mitten im Kreis seiner Freunde, die inzwischen ihr Lager aufgesucht und sich auf dem knisternden Waldgras gelagert hatten, gespannt wie Regenschirme die einen, niedergeschlagen über den Flaggenverlust die an­dern.

«O. K. Kameraden. Diese lausigen Löwen kehrten nicht zu ihren Zelten zurück, wie wir ver­muteten. Nur Urs wurde von ihnen dorthin geschickt. Vermutlich als Wache, was mich zwar wundert. Nach dieser Pleite dürften die ihm doch nicht das ganze Lager mit allem Drum und Dran anvertrauen.»

«Wohin haben sie sich gewendet?»

«Richtung süd-südost. Soweit ich überblicken konnte, nahmen sie das Sträßchen über den Hornberg nach Olten. Verglichen mit der eroberten Depesche eine ganz falsche Richtung.»

«Das wird eine Täuschung sein.»

«Meinst du? Interessant ist aber, daß sie einen Zettel mit Koordinaten bei sich hatten. Jedenfalls entnahm ihm Fredi vor dem Ausmessen der Karte die Angaben.»

«Konntest du nicht hören, was besprochen wurde?»

«Leider nicht. Dafür lag ich zu weit weg. Einmal nur — ich glaube ganz am Anfang — schrien alle vor Freude, verstummten aber sofort wieder. Ich müßte mich täuschen, wenn sie nicht eine Morsemeldung entziffert haben, denn Christian hörte ich einmal etwas lauter sagen ,Punkt-Strich-Punkt ist R'. Kaum hatten sie den gesuchten Punkt auf der Karte gefunden, marschierten sie geschlossen und ziemlich eilig ab.»

«Interessant.» Res klatschte sich aufs Knie. «Es wird sich um eine Meldung handeln, die aber, aus den Koordinaten zu schließen, nicht mit dieser da übereinstimmt.»

Marcel rückte etwas zur Seite, denn eine Wurzel, die ein Stück weit aus dem Boden guckte, ließ ihm das Sitzen unbequem werden. Er stützte das Kinn auf seine Hand und meinte:

«Irgendwo ist doch der Wurm in der ganzen Sache. Warum reagieren die nicht auf den Verlust ihrer Depesche, sondern spazieren sorglos einem anderen Zettel nach?»

«Eben. Darum vermute ich, daß dies eine geniale Finte ist.» Res erhob sich. «Willi, hol uns irgend etwas zum Spachteln. Ich glaube, daß alle Lust zu einem Zvieri haben.»

Vor lauter Aufregung hatten die sonst so freßgierigen Buben das Knurren ihrer Mägen glatt überhört, stürzten sich aber wie ausgehungerte Wölfe über die Brotschnitten her, die der behäbige Koch von einem dicken Laib säbelte.

«Alors mes enfants, stopft euere Löcher, damit endlich wieder Ruhe ist und wir weitermachen können», gebot er und warf jedem in gezieltem Wurf ein Stück Schokolade zu.

Der Bärenboß hängte sich die Kartentasche an die Schultern, stopfte außer Jurakarte, einem Maßstab und Notizpapier noch eine Rectabussole und den ‚Jungwächter' hinein und breitete der wilden Schar seinen soeben gefaßten Plan aus:

«Paßt genau auf. Wir drei, Berni, Marcel und ich, werden uns jetzt einmal den Spittelhof unter die Lupe nehmen. Ihr wißt, das ist der Punkt, der auf der Geheimmeldung an die Löwen angegeben ist. Dort sollen ja heute früh Eberspuren entdeckt worden sein.»

«Warum dürfen wir nicht mitkommen?» pipste Hans, dem der Dreck bereits wieder bis über die Ohren stand.

«Wir werden euch nachholen, sobald alles klar geregelt ist. Stellt euch vor, was passierte, wenn wir alle dort drüben herumhockten und der Feind räumte uns das Lager aus. Ihr müßt vorerst da bleiben und notfalls das Lager verteidigen. Die Hilfsführer Fridl und Eugen werden euch sagen, was zu tun ist. Zwei größere Jungwächter müssen den Beobachtungsposten besetzen. Habt vor allem Punkt 853 etwas im Auge. — Schaut her, da seht ihr ihn auf der Karte. Von dort aus werden wir Signale übermitteln. Holt euch bei Berni zwei Mor­seflaggen. — Halt noch etwas. Solltet ihr wirk lich unerwünschten Besuch bekommen, so funkt uns zurück.»

«Wenn wir aber auf dem Felsen morsen, wird der Feind unsere Meldung mitschreiben. Was dann?»

«Ihr sendet ja nur ‚zurück'. Wenn ihr aber empfangt, so dürft ihr erst am Ende der Depesche ,verstanden' geben, damit nichts auffällt. Gut, dann wäre alles im Butter.»

Marcel zupfte Res am Ärmel:

«Meinst du nicht, daß Bulle uns auch eine Geheimmeldung schicken könnte?»

«Freilich. Daran haben wir noch gar nicht gedacht. Sigi, schau du mal beim Lagerhaus nach. Nachher kommst du gleich zu diesem besagten Punkt. Also bis bald!»

Die drei Gruppenführer begaben sich im Eilschritt zum Erlihof hinunter. Res hob im Laufen ein paar dürre Äste auf und legte sie zwischen Scheune und Haus in Form eines Pfeiles auf den staubigen Boden.

«Was soll das geben?» wunderte sich Marcel, ohne dabei etwas zu denken.

«Eine Kaktusplantage», brummte Berni. «Du siehst doch, daß es Geländezeichen sind. Wenn wir die Buben brauchen, müssen sie doch unsere Fährte finden.»

Oben auf dem Erlifelsen aber visierte der Posten diese Läufer und holte sie mit dem Feldstecher beinahe zu greifbarer Nähe heran.

«So, hier muß Punkt 853 sein,» vermutete Res, als sie den Rand des kleinen Gehölzes erreicht hatten. Er fischte seine Kompaßbussole aus der Tasche, zog klirrend den Spiegel heraus und peilte den Erlifelsen an. Dann übertrug er die Richtung mit dem Maßstab aufs Kartenblatt und zog einen Bleistiftstrich über das Papier. Gleicherweise verfuhr er mit einer zweiten Richtung. Der Schnittpunkt der beiden Linien ergab den gesuchten Ort.

«Ausgezeichnet, wir sind richtig. Jetzt müßte einer hierbleiben, um allfällige Signale aufzufangen.» «Gut, ich warte da», meldete sich Marcel und hieb auch schon mit seinem Dolch vier Weidenzweige von einer Staude und steckte sie kreuzweise in die Ecktaschen der Morseflaggen, damit diese fest und gleichmäßig gespannt wurden. Dann schlüpfte er zwischen die Büsche und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Die beiden andern hatten sich durch das Holz gearbeitet und lagen nun unterhalb des Spittelberghofes, wo der Wald einen spitzen Vorsprung machte.

Von hier aus konnte man ungehindert und gut geschützt durch einen reichen Obstgarten von hinten ins Lager der Löwen blicken. Dort rührte sich überhaupt nichts.

«Die sind tatsächlich ausgeflogen. Hoffentlich stehen unsere Zelte noch», hauchte Berni und kroch etwas nach vorne.

«Vielleicht ist es günstiger, wenn nur einer an den Hof heranschleicht. Du bist da etwas geschickter. Ich werde dafür das Gelände im Auge behalten. Rufe ich wie der Kuckuck, gehst du in Deckung. Pfeife ich durch die Finger, hauen wir durch den Wald ab.»

Berni schlich auf allen Vieren durch das kniehohe Gras zum Hof hinauf. Kein Lebewesen rührte sich da. Die Türen waren verschlossen, die verwitterten Fensterläden zugezogen. Der Bursche tastete planmäßig die ganze Hausfront ab. Da zog er ein zerknülltes Papier unter der Bank vor dem Haus hervor, winkte mit der Hand zum Zeichen des Erfolges und drückte sich zu Res zurück.

Illustration aus "Der goldene Eber"

«Eberspuren konnte ich zwar nicht sehen», schmunzelte er, «denn hier scheinen keine Schwei­ne zu hausen. Dafür bringe ich dir diesen Zettel da. An der eroberten Meldung scheint doch ein Faden Wahrheit zu haften.»

Res streifte den Zettel über seine Kartentasche, damit er wieder ein einigermaßen ordentliches Aussehen bekam, und drehte ihn um.

«Ein Kroki!» stießen beide fast zur gleichen Zeit aus und schauten erschrocken nach allen Seiten, denn sie hatten dies ziemlich laut getan.

«Komisch, da soll einer drauskommen. Kein einziges Wort steht drauf.»

«Zeig her!» Berni hielt das Papier an die Sonne, die schon ziemlich flach durch die hellen Blätter fiel und das ganze Buschwerk wie ein herrliches goldgrünes Feuer aufflammen ließ.

«Ein sonderbarer Plan. Anscheinend soll diese blaue Wellenlinie einen Bach darstellen und das dunkle Viereck ein Haus.»

Res schaute seinem Partner über die Schultern: «Freilich, und hier ist eine Brücke eingezeichnet. Aber was nützt uns das alles ohne weitere Angaben?»

«Jedenfalls nehmen wir das seltsame Ding mit. Wer weiß, vielleicht gibt es noch weitere Hinweise dazu.»

«Da hast du recht. überhaupt sollten wir zu Marcel zurück. Wenn Sigi eingetroffen ist und eine Depesche bei sich hat, werden wir vielleicht etwas klüger.»

 

Marcel hatte sich indessen hinter einer Buchenstaude verschanzt und ganz gemütlich eingenistet. Von hier aus konnte er wunderbar zum Erlifelsen hinüberblicken, der jetzt wie im wärms­ten Glutlicht aufleuchtete. Ein sanftes Lüftchen ließ die Äste auf und nieder schaukeln und brachte nach der Schwüle des Nachmittags eine kühle Erfrischung.

Da stand, wie aus dem Boden gewachsen, Siegfried auf der Matte und pfiff leise durch die Finger. «Psst. Hier bin ich.» Marcel streckte die Hand aus dem Blattwerk. «Komm schnell und zeig die Botschaft!»

«Bulle hat gefragt, warum ich erst jetzt vorbeischaue. Die Löwen hätten schon vor einigen Stunden ihre Depesche abgeholt.»

«Du hast aber nicht verraten, daß wir sie haben?» «Wo denkst du hin?»

«Aha, ‚Geheimmeldung von Bulle an den Bärenboß'. Klingt ja in der selben Tonart wie die eroberte. Mal schauen, was die Chiffrierung erzählt.»

Der Gruppenführer buchstabierte langsam Zeile für Zeile:

«631.900 / 246.050 Heute morgen Eberspuren entdeckt. Aber Vorsicht. Das Auge des Feindes wacht. Bulle.»

«Da schau her. Außer den Koordinaten stimmt der Text genau überein.»

So vertieft lagen die beiden Jungwächter über dieser Geheimbotschaft, daß sie den Angriff vom Rükken her nicht wahrnahmen. Berni und Res schlichen sich an sie heran und hielten ihnen von hinten die Augen zu. Sigi fiel vor Schrecken und Grausen beinahe in Ohnmacht, während Marcel schlagfertig die fremde Hand vom Gesicht wegzerrte.

«Du meine Güte, ich glaubte, es wären Löwen.» Die zwei Humoristen aber hielten sich die Bäuche vor Lachen.

«Gibt's etwas Neues?» hauchte Marcel, nachdem er sich einigermaßen erholt hatte.

«Wir haben ein Kroki, aber wir werden nicht klug daraus.» Berni öffnete den Fetzen Papier und schob ihn Marcel zu.

«Derweil könnt ihr Bulles Geheimmeldung beaugapfeln. übrigens haben wir hier den genau gleichen Text vor uns, wie ihn Rolf organisiert hat. Bloß ist ein anderer Punkt angegeben.»

Der Bärenchef suchte die Stelle auf der Karte: «Aha. Die Scheune des Hornhofes. Ganz in der Nähe unseres Lagers. Langsam dämmert mir ein Licht.»

«Laß es uns wissen.»

«Nein, noch nicht. Zuerst werden wir uns den Ort einmal anschauen. Vermutlich wird dort ein gleiches Kroki zu finden sein.»

«Meinst du, daß die Löwen davon wissen?» «Unmöglich. Die wären unseren Buben längst in die Finger gelaufen. Aber ihr Lager haben sie verlassen, das ist sicher. Vom Spittelberg aus konnten wir alles beobachten.»

«Eigentlich sollte man denen die Wache stehlen. Als Ersatz für die Morseflagge», schlug Marcel vor.

«Das habe ich auch schon gedacht. Aber da müssen wir unsere Bären mitmachen lassen. Funk ihnen, daß sie herüberkommen.»

Der Bursche tat, wie er geheißen wurde. Er stellte sich an den Waldrand und drehte die rot-weißen Tücher in gegeneinanderlaufenden Kreisen. Dann stoppte er. Auf der Erlifluh ging eine Flagge hoch. «Verstanden. Fang an!» drängte Res.

Marcel bewegte seine Arme in gleichmäßigem Takt. «K-o-m-m-t h-e-r-ü-b-e-r. Geländezeichen ab Erli beachten. Ende.»

Er senkte die Flaggen und wartete. Die Erlifluh sandte Strich.

«Herrschaft. Nicht verstanden. Hab ich mir doch gleich gedacht», knurrte Res. «Morse nochmal. Vielleicht etwas langsamer.»

Wieder schwenkte der Gruppenführer die Morseflaggen durch die Luft. Keiner sagte ein Wort. Man hörte nur das Flattern des Tuches und dessen Aufschlag an der Hose.

«Ende. Wenn jetzt nicht Punkt kommt, gibt's Hackfleisch!» maulte Berni.

«Da. Verstanden!» klang es in vierstimmigem Chor.

 

 

Urs warf einen kräftigen Ast ins Feuer, kniete nieder und blies aus vollen Backen in die kni­sternde Glut. Dann öffnete er den Deckel des Kochkessels. Den Wänden entlang bildeten sich schon kleine Bläschen. Bald wird das Wasser brodeln. Urs schielte auf seine Armbanduhr und schob den Deckel wieder über den Kessel.

«Bald sechs. Zum Donner, wenn die nur endlich wieder da wären. Die werden auch enttäuschte Fratzen schneiden. Wenn sie nur nichts gemerkt haben. Aber wenn sie nach dem Spiel Bulle fragen werden? Pah, ich schiebe einfach alles auf Rolf.» Er blickte auf. Die Schatten der Zelte deckten schon einen großen Teil des Platzes. Der westliche Himmel schien mit purem Gold durchtränkt zu sein. Zu oberst auf dem hohen Nußbaum trillerte eine rabenschwarze Amsel fröhlich in den einbrech­enden Abend hinaus.

«Wenn nur alles gut geht. — Eigentlich bin ich doch ein schlechter Kerl. Meine eigenen Kameraden schicke ich in eine falsche Richtung. Dabei verlieren sie Zeit und Kraft. — Ach was. Die hätten mich auch gehänselt, wenn ich ohne Meldung heim gekommen wäre. — Wo ist denn der Zucker?»

Das Wasser kochte und Urs warf eine handvoll Spezialtee aus Tannenspitzen, Erdbeerblättern, Brennesseln und Waldmeister in den Kessel. «Sicher denken die einfach, es sei irgendwo ein Irrtum passiert, und nach dem Geländespiel ist die ganze Geschichte schon wieder vergessen.»

Der Bub schlug den Eingang des Materialzeltes zurück und durchsuchte den Rucksack des Kochs. Unter Raviolibüchsen, Brot und Kochlöffeln fischte er schließlich ein Paket Würfelzucker heraus. Er rührte mit einem Holzstab in der grünen Brühe herum und führte eine Kostprobe zum Mund.

«Au! Das ist aber heiß!» schrie er und blickte dabei geradewegs zum Lagereingang. Da sah er — ihm stockte das Blut in den Adern —, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, einen blon­den Haarschopf durch die Blätter grinsen. Und dieser Haarschopf gehörte niemand anderem als Rolf. Urs ließ den Kochlöffel in den Tee fallen und stand langsam und unsicher auf. Zu seinem eisigen Entsetzen merkte er, daß das ganze Lager vom Feind umzingelt war. Was blieb ihm anderes übrig, als sich zu ergeben? Er hätte laut aufheulen mögen. Schon wieder eine bedenkliche Blamage.

Res trat auf ihn zu und faßte ihn am Arm.

«Wenn du schön brav bist, werden wir dir nichts tun. Willst du aber ausreißen, so müssen wir dich leider festbinden.»

Urs wurde es halb schlecht.

«Auch das noch. Jetzt bin ich selbst gelackmeiert». Nein, um keinen Preis wollte er fliehen, da war ihm seine Haut zu lieb. Die Bären setzten sich im Kreis um das Feuer.

«So, mein lieber Freund und Kupferstecher», spottete Res. «Meine armen Bärlein haben schrecklichen Durst. Jetzt wirst du uns eine Kostprobe von deinem flüssigen Etwas da geben.»

«Ich denke nicht daran.»

«So. — Marcel hol einen Strick, der will doch gefesselt werden.»

«Nein. Ich gebe euch ja schon. Aber...»

«Aber?»

«Ich muß nur noch einen Schöpflöffel holen.» Urs wollte zum Zelt eilen.

«Halt, hier geblieben! Das würde dir so gefallen. Einen Löffel holen und dann verschwinden. Max, such du das Besteck! Becher wird es sicher auch irgendwo haben.»

Urs fühlte sich wie an den Pranger gestellt. Jetzt mußte er dem Feind seinen eigenen guten Tee ausschöpfen. Hätte er seine Kameraden weniger weit weggeschickt, könnten sie jeden Moment auftauchen. Aber so...

«Oh, hätte ich nur Salz, statt Zucker hineingemischt!»

«Das würde dir passen.»

«Alle Achtung, der Tee ist genießbar.»

«So, Urs. Jetzt sitzt du ein bißchen zu uns her und erzählst uns, was deine Freunde treiben und wo sie umherlungern.»

Trotziges Schweigen.

«Haben sie dich zur Strafe dagelassen, weil du die Meldung verloren hast?» hänselte Rolf.

«Die was?»

«Tu doch nicht so. Die Depesche, die ich dir abgenommen habe.»

«Die haben wir ja wieder.»

«So?» Rolf lächelte mitleidig. «Hast du einen Sonnenstich?»

«Nun, wo rumoren die Löwen herum?»

«Weiß nicht.»

Für Urs wurde die Lage langsam prekär. Was sollte er tun? Um sich zu rechtfertigen, hatte er seine Leute hintergangen. Sollte er sie jetzt verraten, um aus der Schlinge des Bären zu kommen?

«Ich glaube, das Bürschchen will nicht reden.» Res erhob sich. «Am besten nehmen wir ihn mit uns. Als Andenken. Und damit er uns nicht doch noch davonrennt, wollen wir seine Händchen etwas zusammenbinden.»

Einer der Buben band ein dünnes Seil um die Hände des unglücklichen, völlig widerstandslosen Wächters. Und dann mußte er wohl oder übel die Bärenbande begleiten, denn sie nahmen den Strick mit in ihr Lager, und Urs war ja mit diesem Strick gefesselt. Zum zweiten Mal konnte er heute eine ihm übertragene Aufgabe nicht erfüllen. Doch nicht darum glühte seine Stirne. Er dachte an die Blamage, die er einfangen wird, wenn seine Leute erfahren, daß er, statt das Lager zu hüten, den Fein­den Gesellschaft leisten mußte.

«So, Urs. Eine Morseflagge bist du uns schon wert. Nicht wahr?» freute sich Eugen und klopfte dem armen Kerl kameradschaftlich auf die Schultern. Plötzlich hielt das traurige Züglein inne. Alle starrten wie gebannt zur Hornfluh hinauf.

«Was war das?»

«Sind die nicht gescheit? Die geben ja Notsignal.» «Ich habe die Rakete genau gesehen.»

«Ich auch.»

«Wo?»

Illustration aus "Der goldene Eber"

 

Da. Nochmals raste eines dieser Feuerwerke funkensprühend gegen den rötlich angelaufenen Abendhimmel. Knallend und zischend explodierte die Rakete hoch über den Felsen.

Urs glaubte, ihn verließen die Sinne. Kalter Schweiß trat auf seine Stirne.

«Um Gottes Willen! Es wird doch nichts passiert sein», donnerte sein Gehirn. «Ich kenne die Gegend nicht, ich weiß nur, daß Felsen auf der Karte eingezeichnet sind. Womöglich habe ich einen Unfall verschuldet.»

Wie ein Trommelfeuer wirbelte sein Gewissen. Was für eine Lawine hatte diese einzige Gedankenlosigkeit ausgelöst. Sein Egoismus, seine Eigenliebe, sein verletzter Stolz waren schuld daran. Mit diesen Gedanken trottete er still und betroffen dem Trupp nach, der so schnell wie möglich das eigene Lager aufsuchte.

 

 

6. Kapitel

 

Sssssssssst ... das dritte Signal bohrte sich zischend durch die klare Luft und beendete mit donnerndem Knall sein kurzes Dasein. Die Grünhemden verfolgten schweigend und betroffen seine Bahn. Vor wenigen Minuten noch hätte eine drohende Panik die Buben durch den ganzen Hombergwald gejagt, wenn nicht Fredi bestimmt, aber ruhig, die Zügel angezogen hätte.

Nein, diese Raketen wurden nicht zum Spaß gezündet, nicht als lustiges Feuerwerk und auch nicht als Spiel. Sie unterbrachen in ihrer Eigenschaft als Notraketen die Jagd nach dem ,Goldenen Eber'. Jetzt galt es, nicht einer verborgenen Schatztruhe nachzuspüren, nicht fremde Lager auszuspitzeln, um keine Morseflagge zu kämpfen, sondern einem Kameraden aus höchster Not zu helfen.

Der Aufstieg zur Hornfluh hatte zunächst keine allzugroßen Schwierigkeiten geboten. Leichtes Unterholz zu durchdringen, wie im Urwald durch das Blattwerk zu schlüpfen, kleinere und größere Felsblöcke zu überwinden, war für diese Stadtbuben eine recht abenteuerliche Sache, auch dann, wenn es zerkratzte Arme und Beine absetzte. Vor allem lockte ja der ,Goldene Eber', dessen heimliche Spuren jeder irgendwo unter Kräutern, herumliegenden Tannzapfen oder im weichen Moosboden zu entdecken glaubte.

Der Wald duftete hier würzig und gesund, und die jungen Eroberer atmeten diese herrliche Luft in tiefen Zügen ein.

«Jetzt müssen wir uns im Gänsemarsch bewegen», erklärte Fredi, die Hände in den Hüften, seiner Löwenschar zugewendet. «Wir klettern dem Grat entlang. Bleibt immer schön in der Mitte. Nach der Karte zu schließen, werden bald Felsformationen auftauchen und hernach unser gesuchter Punkt.» Der Grat hob sich hier in steilem Bogen in die Höhe. Keuchend folgten die Buben ihrem Führer. Baumwurzeln, kleine Tännchen und oft auch das Hemd des Vordermannes halfen, die Klippen zu bezwingen. Manchmal rollte ein Stein polternd nach hüben oder drüben und fing sich irgendwo im Dickicht wieder auf.

«Prost Nägeli. Jetzt kommen wir aber flach raus.» Die eroberungslustige Gruppe hatte eine riesengroße Felswand erreicht, über deren oberem Saum der Grat weiterführte. Schaurig mutete es an, wenn man von hier in die Tiefe blickte.

«Die Sache scheint langsam brenzlig zu werden.» Christian rümpfte die Nase. «Daß Bulle auch ausgerechnet so eine verflixte Gegend aussuchen mußte. Stimmen die Koordinaten auch wirklich mit der Karte und unserer Position überein?»

«Da schau her und überzeuge dich selbst», gab Fredi gereizt zurück und schob seinem Adjutanten Papier und Maßstab zu. «Ich habe zweimal nachgemessen. Außerdem ist mit etwas Vorsicht die Überquerung gar nicht allzu gefährlich.»

«Stimmt.» Christian gab die Karte zurück. «An deiner Stelle aber würde ich die Buben hier lassen und nur mit den Hilfsführern weiterklettern. Es handelt sich nur um gut zweihundert Meter.»

«Du scheinst ausnahmsweise recht zu haben. Herbert, Ewald und Guido kommen mit. Inzwischen hüten Göpf und du diese wilden Rangen. In einer Viertelstunde sind wir wieder da. Wenn etwas los ist, pfeife ich zweimal kurz.»

Die vier Burschen stiegen der fast fünfzig Meter tiefen Felsplatte entlang in gebeugter, zeitweise kauernder Stellung oder sogar auf allen Vieren. Jetzt schien die höchste Gefahr überwunden zu sein. Der Stein stach nicht mehr senkrecht ab, sondern ging in eine leichte Neigung über.

«Donnerwetter, schaut dorthin!» schrie plötzlich Ewald laut auf. «Die Bären schleichen unser Lager an!» Der Bub zeigte mit dem Arm in die Richtung. Im Hintergrund stand die Sonne genau neben der Belchenfluh und blendete golden über die ganze stille Gegend. So konnten die Hilfsführer nur schwache, lichtumflorte Umrisse des Feindes erkennen, der sich geschlossen ihren Zelten näherte. Ewald beugte sich etwas vor, um die gleißenden Strahlen in den Lichtschatten des Belchengipfels zu bringen.

«He, paß auf ... Ahh!» Guido hat zu spät nach dem Arm seines Kameraden gegriffen. Ewald verliert sein Gleichgewicht, reißt sich nochmals zurück und erfaßt einen dürren Grasbüschel, aber der ist zu schwach. Das abgezerrte Kraut verkrampft in Händen haltend, bleich wie eine Leiche, unfähig vor Schrecken überhaupt noch zu schreien, rutscht er über die schiefe Wand.

Den Kameraden stockt das Blut. Nur etwa fünf Meter weiter unten zieht sich ein schmaler Rasenstreifen über den Abbruch. Wenn sich Ewald nicht halten kann, wird er weit in die Tiefe stürzen. Da. Der Bub schlägt hart auf das kärgliche Gras. Er bleibt liegen und regt sich nicht.

«Halt dich fest Ewald, halt dich fest,» brüllt Fredi, beinahe von Sinnen. Da, Ewald kommt zu sich und krallt sich fest. Seine dunklen Augen starren leer aus dem farblosen, schreckensbleichen Gesicht. Nur etwas über einen Meter breit ist diese rettende Terrasse.

«Gott sei Dank. Ewald, halt dich ums Himmels Willen fest, und schau ja nicht ins Tal hinunter!» Jetzt erst ertönte Ewalds Stimme:

«Au, mein Fuß! Mein Fuß tut weh. Ich kann meinen Fuß nicht mehr bewegen.»

  Illustration aus "Der goldene Eber"

 

 «Auch das noch. Sicher hat er das Bein gebrochen. Verflixt, wenn wir nur zu ihm runter könnten!» «Wir müssen Hilfe holen.»

«Ein Seil vor allem.»

«Wenn er uns nur nicht bewußtlos wird!»

Ewald stöhnte:

«Mein Bein schwillt an. Oh! Ah!»

«Sei tapfer», munterte ihn Fredi auf. Er selbst hatte sich vom ersten Schrecken erholt und vermochte nun halbwegs klar zu denken. «Herbert und Guido, ihr bleibt einmal hier. Sichert euch gegen. den Felsen hin und leistet dem armen Kerl Gesellschaft, damit er nicht aus lauter Angst Dummheiten macht. Ich werde Hilfe holen und alles organisieren.»

Noch am ganzen Leib zitternd tastete sich der Löwenführer über den gähnenden Abgrund hinweg.

Jetzt erschien ihm dieser noch viel unheimlicher als zuvor. Wie ein Magnet drohte er den jungen Mann an sich zu ziehen. Der wehrte sich mit seiner ganzen Kraft und stemmte sich mit seinem jugendlichen Drang nach Leben dagegen. Er sah nicht die wunderschönen gelben und blauen Pastelltöne über der abendlichen Juragegend, er hatte kein Auge für den brillanten Lichtkranz, der die Belchen­fluh krönte. Weder die ruhig segelnden Schwalben über seinem Haupt, noch die glitzernden Silber­disteln vermochten sein Gemüt zu erheitern. Nur das eine und einzige hämmerte auf seine Seele:

«Mein Gott, laß nicht zu, daß das Schreckliche geschieht.»

Am Ende der Schicksalswand erwarteten ihn die Löwen. Der Wind hatte in Fetzen Guidos Schrei an ihr Ohr geschleudert, und sie ahnten sofort, daß etwas passiert war. Wie sie nun ihren Chef bleich und fiebernd über den Grat hasten sahen, lief den einen kalter Schweiß über den Rücken, derweil die andern über den ganzen Körper Hühnerhaut bekamen. Fredi setzte sich erschöpft auf einen moosbewachsenen Felsen.

«Was ist los?»

«Es wird doch nicht etwa ...?»

«So red doch!»

Der Führer wischte sich die feuchte Stirne trocken und keuchte: «Ewald... unser Ewald ist abgerutscht. Wir müssen Hilfe holen.»

Die Buben sperrten die Mäuler auf. Das Häufchen Elend vor ihnen, der Anblick der unheimlichen Wand und der Schrecken, der in ihre Knochen gefahren war, löste eine Panik unter ihnen aus. Schreiend wirbelten sie wild durcheinander und wollten sofort den Abhang hinunter eilen, um diese gefährliche Gegend zu verlassen.

«He! Halt! Kommt alle daher, aber sofort. Keiner rührt sich vom Fleck!» Fredi wurde plötzlich wie nüchtern. «Euch ist scheinbar nicht recht wohl. Ihr dürft doch nicht gleich den Kopf verlieren, sonst bricht nochmals einer den Haxen.»

Die Buben kehrten beschämt wie geschorene Dackel zurück.

«Zuerst werden jetzt die Raketen gezündet, und zwar alle drei. Ewald liegt nur ein paar Meter unterhalb des Grates und hat vermutlich den Fuß in Stücken. Charli und Ruedi, ihr zwei haut jetzt ab an den Waldrand hinunter und fangt Bulle ab. Er soll ein Seil und Verbandzeug mitbringen. Göpf, du bleibst mit deiner Gruppe hier und sicherst den Rücktransport.»

«Wir werden eine Bahre herrichten», meldete Christian.

«Ist in Ordnung. Aber macht das unten bei der Straße. Hier im Zeug drin können wir sie noch nicht gebrauchen. Sei so gut und nimm auch meine Gruppe mit, daß nicht zuviele hier oben herumstehen. — Und — ich sollte noch möglichst viele Taschentücher haben.»

«Meines ist nicht mehr ganz sauber.»

«Das macht weniger. Ich brauche sie zum Polstern.»

«Andi, du hast einen Dolch. Schneide mir vier zünftige Haselnußstöcke zurecht.»

«Wie lang sollen sie sein?»

«Etwa einen Meter. Die bringst du zur Unfallstelle, sobald Bulle ankommt.»

Fredi stopfte den ganzen Bund Taschentücher oben in sein Hemd und stieg wieder über den Grat zurück. Auch die anderen Führer mach­ten sich mit ihren Gruppen an die Aufgaben.

Charli und Ruedi schossen eben zum Wald hinaus, als die letzte Signalrakete ihren Notschrei über das Gelände heulte, und just im selben Moment tauchten die Bären mit ihrer eroberten «Beute» ins Blickfeld.

«Was gibt's?»

«Macht ihr Fliegeralarm?»

«Laßt jetzt die faulen Sprüche. Uns ist einer über den Felsen gefallen. Wir brauchen sofort Hilfe.» «über einen Felsen?»

«Wer?»

«Wo?»

«Tot?»

«Nein, er hat wahrscheinlich nur das Bein gebrochen und liegt jetzt in einer schwer zugänglichen Lage. Mit einem Seil kann man ihn hinaufziehen, hat Fredi gesagt.»

Urs spürte, daß das Blut aus seinem Kopf gewichen war. Weißgrau wie Asche stotterte er:

«Wer? Wer ist es?»

«Der Ewald. überhaupt, was machst du denn bei den Bären da? Natürlich hast du dich wieder fangen lassen!»

Urs glaubte, ein Dolch würde ihm ins Herz gestoßen. Ewald hatte es getroffen, und er war schuld. Dabei mochte er Ewald besonders gut. Er wurde von ihm nie gehänselt, dafür oft verteidigt, wenn jemand mit ihm streiten wollte. Ja, auf Ewald konnte er bauen. Ewald war sein Freund. Und jetzt. Wenn nur nichts schief geht. Das wäre das Schrecklichste für Urs.

«Wir werden euch helfen», bestimmte Res. «Berni, Marcel und ich. Die anderen sollen sofort das Lager aufsuchen und warten, bis ein neuer Befehl kommt.»

«Dort fährt Bulle mit dem VW vor!»

«He! Daher!»

Der Scharführer stellte seinen Wagen bei der großen Linde ab, denn hier konnte er nicht mehr weiterfahren, packte seine Sanitätstasche und strebte dem Waldrand zu. Eigentlich nannte er sich Andreas Bühler und außerhalb der Jungwacht funktionierte er als Sportlehrer am Gymnasium. Aber seine stämmige Athletenpostur hatte ihm den Namen Bulle beigebracht. Mit seiner trainierten Kondition hastete er leichtfüßig über die weiche Matte.

«Was ist geschehen?»

«Ewald ist ausgerutscht. Vermutlich hat er eine Unterschenkelfraktur. Ein Seil brauchen wir auch.» Bulle kratzte sich in seinem hellen Haarschopf, der vorn über der Stirn wie ein Stern nach allen Seiten auslief. Seine dunklen Augen drehten sich aufgeregt in seinem sehnigen Gesicht, das jetzt, wie immer in solchen Situationen, Ruhe, Zielsicherheit und ein nüchternes Denken ausstrahlte.

Bulle pflegte in solchen Fällen wenig zu fragen und nicht viel zu reden. Jetzt zählte die Tat und die Handlung:

«Da ist der Autoschlüssel. Im Kofferraum liegt ein Dreißigmeterseil, eine Zelteinheit sowie ein endloses Seil mit Karabinerhaken. Bringt alles das mit. Wer zeigt mir den Weg?»

 

Ewald hielt sich tapfer. Das Bein war inzwischen dick angeschwollen und der Schmerz drückte ihm das Wasser aus den Augen. Aber er biß mutig auf die Zähne. Die Rettungsequipe hatte endlich die Absturzstelle erreicht und Bulle überblickte die ganze Sachlage:

«Zuerst muß er gesichert werden. Dann wollen wir ihm zu zweit das Bein fixieren. Wo ist das Seil? — Da, gut. Nehmt es doppelt und knöpft es in der Mitte mit einer Achterschlinge an diese Eiche dort, und zwar so, daß es viermal zum Verunglückten reicht.

Der Scharführer zog währenddessen das endlose Seil um die Hüften und heftete es vorne mit dem Karabinerhaken zusammen.

«So ist gut, Fredi. Jetzt gib mir zuerst ein einzelnes Ende, damit ich mich sichern kann. Gut. — Nun brauche ich das doppelte Seil.»

Er fädelte den Strick mit einer Windung um das Metall des Hakens, prüfte den Zug, blickte nochmals zur Tiefe und stieg rückwärts zu Ewald hinunter. Mit gespreizten Beinen, senkrecht zur steilen Wand, machte er Schritt für Schritt und ließ dabei das straffe Seil langsam durch den Karabiner gleiten. Jetzt stand er unten auf dem Rasenstreifen. «Werft mir das zweite Ende zu, damit ich Ewald anbinden kann. Das doppelte Seil könnt ihr hinaufziehen. Fredi, jetzt kannst du nachkommen. Laßt auch gleich noch die Zeltbahn mit dem Rettungsmaterial hinunter.»

Indem Bulle nun dem Unglücklichen eine Rettungsschlinge um die Brust knöpfte, erkundigte er sich nach dessen Befinden:

«Hältst du es noch aus, Ewald?»

«Ach. Es muß einfach gehen. Vor allem ist mir lieb, wenn ich endlich aus dieser ungemütlichen Lage herauskomme.»

«Ich werde dir jetzt Schuh und Socken ausziehen. Sag, wenn es schmerzt. — Hei, ist das Bein dick! Bewege einmal die Fersen!»

«Ich kann nicht.»

«Aha. Und die Zehen — geht auch nicht. Ja, wird wohl gebrochen sein. Wir werden das Bein jetzt einschienen. Fredi, halt gleich diese beiden Stecken hin.»

Die beiden Führer banden nun zwei Haselnußstöcke links und rechts an das gebrochene Bein und füllten die Stellen, an denen das Holz auf der Haut reiben könnte, mit Nastüchern aus.

«Was ist mit den anderen Bengeln?»

«Gib sie her. Die binden wir oben und unten hin, damit das Bein überhaupt keine Möglichkeit mehr hat, sich zu bewegen. Den Fuß müssen wir auch festmachen, sonst wackelt er in der ganzen Weltgeschichte herum.» Nun schnürten sie noch das kranke an das gesunde Bein, damit ein guter Halt zustandekam.

«So, jetzt folgt das Schwierigste. Wie bringen wir dich auf den Grat, ohne noch mehr zu verübeln?» «Wir legen ihn in die Zeltplane und ihr da oben zieht ihn hinauf.»

Vorsichtig stülpten die beiden Samariter das bunte Tuch unter dem Knaben durch und knöpften es über seinem Körper fest zusammen. Dann zogen sie das doppelte Seil durch die Öffnung und befestigten diesen Aufzug mit dem Karabinerhaken. «Wir zwei müssen uns jetzt an die Wand lehnen, für den Fall, daß er abrutschen sollte. So. Ziehen, aber langsam!»

Wankend stieg der windige Fahrstuhl in die Höhe. Die Burschen verankerten sich auf der anderen Seite des Grates mit den Schuhen an Baumwurzeln und zerrten mit vereinten Kräften am Strick.

«Hurra. Er ist oben!» alle atmeten erleichtert auf. Der Verunglückte wurde wieder ausgeknöpft. «Wir müssen ihn ganz flach tragen. Am besten macht man das zu dritt.»

Sie knieten sich neben Ewald nieder; sechs starke

Arme schoben sich unter seinen Leib und hoben ihn. gleichmäßig in die Höhe. Die Kletterei bot sichtlich Schwierigkeiten. Einmal mußte der junge Hilfsführer über einen größeren Steinblock gehoben. werden. Keiner sprach ein Wort. Nur Bulle kommandierte knapp und klar den gefährlichen Zug. «So, jetzt haben wir das Schlimmste geschafft.» Erleichtert legten die Träger den Buben auf den moosigen Waldboden, als sie das Ende der Felsbrüche erreicht hatten. Hier wurden sie von Göpfs Gruppe empfangen.

 

Illustration aus "Der goldene Eber"

Die Jungwächter wollten nun alle irgend ein Trostwort für ihren Kameraden haben, aber meist blieb es bei einem stummen Zunicken, denn sie spürten noch allzu deutlich den Schrecken im Knochenmark.

«Wo habt ihr die Bahre?»

«Die hat Christian. Er ist unten beim Weg.» «Also, dann gehen wir weiter.»

Christian stand breitbeinig hinter seiner dürftig fabrizierten Bahre. Zwei Tragstangen, verbunden mit Querhölzern, und die Zeltplane darübergespannt, dienten als Notbehelf. Als Kopfkissen hatte Ueli sein Hemd gestiftet.

«Ho ruck.» Die Bahre ging hoch.

Ja. Ewald hatte seinen Schutzengel bei sich gehabt. Wäre der Unfall nur einige Meter weiter vorne passiert, hätte es keiner Rettung mehr bedurft. Dann hätte die fröhliche Jagd nach dem ,Goldenen Eber' so geendet wie der Tag, der über dem schweigenden Marsch, über den grünen Hemden und den blonden und braunen Köpfen, in blutrote Farbe getaucht, zur Neige ging.

 

 

 

7. Kapitel

 

«Mir ist bei der ganzen Sache einfach nicht recht wohl», erklärte Fredi und nagte nervös an seinen Fingernägeln. «Irgendwo ist der Wurm drin. An der Meldung ist etwas faul.»

«Das habe ich ja von Anfang an gesagt, aber man will eben nicht auf einen hören», maulte Christian, dem es gar nicht paßte, daß der heutige Abend verteufelt war. «Bulle hat uns ausdrücklich befohlen, innerhalb des eingezirkelten Bereiches zu bleiben.»

«Wenn er aber selbst einen Punkt angibt, der nicht mehr im Kampfgebiet liegt? Was können wir denn dafür?» entschuldigte Göpf seinen Freund.

 «Außerdem bildet die Hornfluh genau die Grenze.»

«Trotzdem glaube ich niemals, daß Bulle solche Orte auswählt. überhaupt, haben wir eine weitere Spur nach dem ,Goldenen Eber' gefunden?»

«Wir hätten noch weiterklettern müssen. Aber ich hatte wirklich keine Lust mehr dazu. Und wie ich schon vorhin gesagt habe, glaube ich auch nicht mehr ganz an die Echtheit der Depesche. Oder dann hat sich Bulle verrechnet.

Im Selbtritt marschierten die drei Gruppenführer dem Neuhof zu. Drüben, auf der Schauben­weid, flammte bereits ein frisches Lagerfeuer auf und zerfetzte knackend die dürren Holzprügel, die eine geschickte Hand kunstgerecht zur Pyramide aufgetürmt hatte. Das Feuer sollte Zeuge einer ernsten Aussprache werden, die Bulle mit seinen Gruppenführern am Abend dieses unglücklichen Tages halten wollte.

 

Der Hof hob sich schon dunkel von den wechselnden Grautönen zwischen Wiese und Himmel ab. Schwarz und düster stand der Wald vor ihnen. Das herrliche Gelände hatte die Farbenpracht des Tages verloren; nur drüben über dem Belchen schimmerte noch ein schmaler gelblichroter Streifen. Die Nacht trat ihre Wache an.

«Bulle wird schon auf uns warten. Wir müssen uns beeilen.»

«Vielleicht sind es auch die Bären.»

«Ob die Meldung nicht am Ende von denen in unsere Hände gespielt wurde?»

«Das glaube ich nicht.»

«Warum nicht? Es muß doch für die ein Schleck sein, unser Lager zu bestürmen, derweil wir dort in den Felsen herumknorzen.»

«Aber das traue ich Res nun doch nicht zu. Das wäre zu verantwortungslos. Nein, mir scheint ganz einfach, daß ein Rechnungsfehler vorliegt.»

Nun hatten sie den Waldrand erreicht und schritten dem grasigen Weg entlang um das Holz herum. Der Wind orgelte durch die Laubkronen und schlug warm in die jungen Gesichter. Eines der seltenen Bächlein plätscherte leise durch das Moos und drängte dem Tal zu. Wie flüssiges Sil­ber glitzerte es im Widerschein des Feuers, das draußen auf der Wiese die Dunkelheit zu durchdringen suchte.

«Das ist doch ein Mordspech», grüßte Fredi. «Seid ihr schon lange da?»

«Schicksal», machte Res, ohne sich vom Boden zu erheben, denn er hatte sich eben gemütlich ans Feuer gesetzt. «Wir können Gott danken, daß weiter nichts passiert ist.»

Auch Marcel und Berni erhoben ihre Hand zum Gruß. Man spürte deutlich, daß sie sich noch nicht ganz vom Schrecken erholt hatten. Alle sechs Gesichter, die jetzt hell im flackernden Feuerschein aufleuchteten, zeichnete tiefer Ernst. Jeder wußte, daß irgendwo ein Versagen vorlag, und sie kan­nten ihren Scharführer gut genug, um zu wissen, daß er die Sache bis aufs Blut untersuchen würde. «Ist Bulle noch nicht aufgetaucht?»

«Er muß bald da sein. Vor fünf Minuten sahen wir die Scheinwerfer des Wagens beim Lagerhaus drüben. Da wird er mit dem Präses vom Spital zurückgekommen sein.»

Marcel warf einen Armvoll spröden Reisig in die Flammen. Prasselnd stiegen die Feuerzungen empor, und kleine Fünklein wirbelten lustig durch die Luft.

«Du sag mal», platzte Berni heraus, «wie kommt ihr überhaupt zur Hornfluh hinauf?»

«Durch eine Meldung, die uns Bulle übermittelt hat.»

«War nicht Urs euer Meldeläufer?»

«Gewiß. Er hat sie uns gebracht.»

«Das kann nicht stimmen. Die Meldung führte zum Spittelberg.»

«Was? Der liegt ja gleich hinter unserem Lager. Wie wollt ihr das wissen?»

«Nun, da der Unfall passiert und das Geländespiel abgebrochen ist, müssen wir es fast sagen. Euere Meldung haben wir. Die hat Rolf euerem Kurier weggenommen. Hat er nichts davon er­zählt?»

«Nein — das heißt, von Rolf hat er berichtet. Der soll aber den Zettel wieder verloren haben und Urs nahm ihn zu sich. Aber da müßte doch der Teufel dahinterstecken. Wie kann plötzlich eine andere Meldung vorliegen, während ihr die echte habt?» Fredis Blick traf Christian. Dieser verzog seinen Mund, um anzudeuten: Meine Vermutung stimmt doch.

Eine Gestalt löste sich aus dem Hintergrund und näherte sich mit schnellen Schritten. Das Feuer ließ mit zuckenden Bewegungen das hellblaue Hemd und den blonden Stern aufleuchten und zeichnete den Schatten des Mannes gespenstisch ans Gebüsch.

«N' Abend Bulle. Wie geht es Ewald?»

«Es handelt sich tatsächlich um eine Unterschenkelfraktur.»

Der Scharführer setzte sich in den Kreis.

«Allerdings können wir von Glück reden. Der Arzt hält es nicht für schlimm. So ein junger Knochen wächst leicht und gut wieder zusammen. Er wird vorläufig im Spital bleiben müssen, bekommt aber bald einen Gehgips. Vielleicht kann er dann noch ein wenig bei uns herumhumpeln.»

«Sind die Eltern informiert?»

«Ich habe mit ihnen telefoniert. Morgen schauen sie vorbei. überhaupt, Fredi, was hattet ihr dort oben zu suchen?»

«Den ,Goldenen Eber', wie du uns angegeben hast.»

«Nie im Leben. Die Koordinaten ergaben einen Punkt am Spittelhof.»

«Jetzt komme ich wirklich nicht mehr mit», knurrte Fredi und zog den zerknitterten Zettel aus der Tasche. «Irgend jemand muß uns da hineingelegt haben, denn Urs brachte uns diese Mel­dung.»

Bulle überflog das Blatt und schüttelte den Kopf: «Wie kommt der dazu? Von mir jedenfalls stammt die Depesche nicht. Wo ist denn die rechte geblieben?»

«Die haben die Bären.»

«Ja, hier ist sie.» Marcel streckte sie Bulle hin. «Unser Rolf hat sie auf dem Weg zum Lager erobert.»

«Und dabei dem Urs wahrscheinlich die Falschmeldung zugeschoben», funkte Christian, noch immer muff, dazwischen.

«Traust du uns das wirklich zu? Das wäre doch unfair im Quadrat. Mit solchen Mitteln arbeiten wir nicht.»

«Warum habt ihr denn so wunderbar unsere Abwesenheit ausgenützt, um das Lager zu durchwühlen?»

«Keiner von uns wußte, wo ihr euch herumtriebt. Wir schauten uns nur den Spittelhof von der Nähe an. Nachher ließen wir dann eure Wache mitlaufen, aber ohne zu ahnen, daß ihr zur glei­chen Zeit die Hornfluh überquert. Ihr beschuldigt uns wirklich zu Unrecht.»

Bulle öffnete das Taschenmesser und reinigte mit der kleinen Klinge seine Fingernägel, die noch die Spuren der Rettungsaktion trugen. Er schwieg. Irgend etwas stimmte hier nicht, dessen war er sich klar. Fest stand, daß zwei Depeschen vorlagen, von denen eine falsch war. Die mußte jemand ohne sein Wissen, aber unter seinem Namen, ins Spiel eingeschmuggelt haben. Und das hatte offensichtlich zum Unfall geführt und hätte sogar noch schlimmeres Unheil über die Schar bringen können.

Der Scharführer sah sich damit vor ein neues Problem gestellt. Er durfte den Löwen nämlich keinen Vorwurf über die Kletterei machen, wenn diese im guten Glauben der Meldung gefolgt waren. Daß sie nicht von sich aus eine Falschmeldung aufgesetzt hatten, schien von vorn herein klar zu sein. Es konnten eigentlich nur die Gegner ein wirkliches Interesse daran gehabt haben, den Feind möglichst weit weg zu wissen. An eine Außenperson war nicht zu denken.

«Fredi, Berni und Marcel, es geht hier jetzt um mehr als nur um ein Spiel. Seid ehrlich. Habt ihr wirklich nichts mit der gefälschten Botschaft zu tun?»

«Bestimmt nicht.»

«Da legen wir die Hand ins Feuer.»

«Darfst dich darauf verlassen.»

Bulle klappte das Messer zu:

«Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als Rolf und Urs herzuholen. Anders kommen wir nicht weiter.»

Marcel stand auf:

«Ich werde sie rufen. Sie sind beide bei uns.» «Wieso beide bei euch?»

«Urs war diese besagte Wache, die wir geklaut haben.»

Zwei-, dreimal noch tauchten die weißen Sohlen von Marcels Turnschuhen im Dunkeln auf und verschwanden dann im Wald.

«Muß das wirklich so genau untersucht wer­den? Würde es nicht genügen, die Tatsache einfach hinzunehmen, daß der Aufstieg auf Irrtum beruhte?» erkundigte sich Fredi, dem es keineswegs recht war, daß jetzt eine Zwistigkeit in die Führerrunde getreten war.

«Erstens will die Versicherung genaue Daten und keine Romane hören. Dann sind wir den Eltern von Ewald Rechenschaft schuldig und außerdem möchte ich keine verschwommenen Anschuldi­gungen und Gerüchte der Willkür einer Vermutung überlassen.»

 

Über dem Hauenstein zogen sich schwarze Wolkenschwaden zusammen und raubten der Gegend die letzte schwache Helligkeit. In der Ferne rollten dumpf langgezogene Donnerschläge über die Hügel und Täler des Jura.

«Heute Nacht wird es noch krachen», prophezeite Berni. Die andern aber antworteten nicht.

Urs wußte sofort, was es geschellt hatte. Müde und gleichgültig trottete er zwischen Marcel und Rolf einher. Jetzt mußte er Rede und Antwort stehen für seine blödsinnige Idee. Obwohl er zu allem entschlossen war und Rolf den eigenen Überführungsbeweis tatsächlich in der Tasche trug, spürte Urs unheimliche Angst. In der Bauchgegend fühlte er eine dumpfe Leere. Er sagte kein Wort.

Rolf ballte die Fäuste in den Hosensäcken. Er bebte vor Zorn. Dem würde er es zeigen. Hatte ihm doch Urs heute abend angedroht, er wisse einen einwandfreien Beweis für seine Schuld. Vergebens suchte Marcel einen Ton aus den beiden herauszupressen. Nur ein ungleichmäßiger Dreitakt hallte von der holprigen Straße in die Nacht hinaus.

«So, jetzt setzt ihr euch einmal zu mir her», begrüßte Bulle die beiden niedergeschlagenen Gestalten und hielt ihnen auch schon einen weißen Zettel unter die Nase.

«Rolf, kennst du diese Meldung?»

«Ja», gab der Bub finster und knapp zur Antwort. «Und du Urs?»

«Auch.» In der Dunkelheit konnte man nicht erkennen, daß sich sein Gesicht rot verfärbte. «Zum Donner», schoß es ihm durch den Kopf, «jetzt habe ich schon wieder einen Fehler gemacht.» Sofort schalteten seine Gehirnzellen: «Halt einmal. Ich könnte mich getäuscht haben. Darf ich das Papier näher ansehen? — Nein, das ist gar nicht die Depesche. Die hatte ja unten eine aufgedruckte Nummer.»

«Stimmt genau, war es diese da?»

Urs drehte die falsche Meldung in den Fingern: «Ja, jaja, das ist sie.»

Der Scharführer blickte nun den beiden Jungwächtern scharf in die Augen.

«Jeder von euch brachte den Zettel, den er jetzt in der Hand hält, in sein Lager. Oder?»

«Ja.»

«Lest einmal laut vor, was oben drauf steht.» Sie taten es nacheinander.

«Nun? Beide Depeschen sind demnach von mir an Fredi gerichtet. Eine davon habe ich Urs mitgegeben. Woher aber kommt die andere, und warum hat auch Rolf eine?»

«Weil ich sie erobert habe.»

«Wie aber kann dann Urs immer noch eine Meldung haben?»

«Rolf hat sie wieder verloren.»

«Das stimmt ja gar nicht.»

«So? Bist du nicht über den großen Stein gestolpert im Wald drüben?»

«Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.»

«Aber ich. Dabei ist sie dir davongeflattert», log Urs.

«Hast du leicht Schlagseite? Ich brachte sie doch meinen Führern. Oder nicht, Res?»

«Da ist jede Antwort überflüssig.»

Bulle fuhr dazwischen:

«Nein, nein, so geht das nicht. Anscheinend wurde bei jenem Kampf eine falsche Meldung geboren, denn von da an geisterten zwei solche Zettel in der Gegend herum. Daß hier aber etwas faul ist, dürfte allen klar sein. Wißt ihr wenigstens, welche Meldung falsch ist?»

«Meine.» über das voreilige Wort ärgerte sich Urs von neuem. Schon wieder eine Dummheit. «Warum weißt du das?»

«Weil...» Urs stockte. «Weil... weil die Koordinaten uns auf die Hornfluh wiesen, was eben ein Fehler war.» Die Situation war gerettet.

«Was meinst du, Rolf?»

«Meine muß echt sein, denn wir haben die wirkliche Spur gefunden.»

«Gut.» Bulle machte ein feierliches Gesicht. «Schließen wir einmal die Möglichkeit aus, daß eine Drittperson die Hand im Spiel hatte. Dann muß einer von euch beiden diese Falschmeldung zumindest eingeschmuggelt, eventuell aber sogar geschrieben haben. Wer war es?»

«Rolf natürlich...»

«Pah! Die hat er selber fabriziert.»

«Meinst du ich spinne und schreibe selbst eine verkehrte Botschaft?»

«Aber ich habe sie auch nicht gemacht.»

Da schaltete sich Res ein:

«Wozu sollte Rolf auf so komplizierte Art und Weise die Meldung erobern. Es genügte ihm doch vollauf, daß er die echte hatte.»

«Freilich. Hätten wir aber gewußt, daß unsere Depesche in eueren Händen lag, wäre es euch nicht geglückt, in den Spittelberg zu gelangen, denn wir hätten versucht, den Wisch zurückzuerobern», entgegnete Fredi, um sich und Urs zu verteidigen. «So aber bedeutete es für euch eine Kleinigkeit, das Kroki und unser Lager aufzusuchen und uns dabei recht weit weg zu wissen.»

«Ich habe dir schon einmal gesagt, daß wir damit nichts zu tun haben», zischte Berni.

«Möglicherweise aber hat Rolf in dem Gedanken gehandelt», vermutete Göpf. «Außerdem besaß Urs keine Karte, um die Koordinaten auszu- messen.»

«Rolf, hast du eine Karte dabei gehabt?»

«Ja.»

 

 

 

Der Bub war ganz durcheinander. Wie konnte so etwas nur möglich sein? Er wurde für eine Sache beschuldigt, von der er nicht einmal wußte, daß sie geschehen war. Hatte er es nicht nur gut gemeint? Krampfhaft suchte er nach einer Antwort.

«Überhaupt, warum ist Urs als Wache zurück­geblieben? Er wußte garantiert, daß seine Leute klettern mußten und wollte dabei selber auf die faule Haut liegen.»

«Ist ja gar nicht wahr.» Urs versuchte kühl zu bleiben. «Ich hab sogar mitgehen wollen.»

«Ja, das stimmt. Ich habe aber gedacht, nach dem Meldelauf und seinem Kampf sei Urs froh, ausruhen zu können», versicherte Fredi.

Bulles Gesichtsmuskeln spielten zuckend auf und nieder. «Da ist guter Rat teuer. Seid doch um alles in der Welt vernünftig. So tragisch ist doch die ganze SaIllustration aus "Der goldene Eber"che nicht. Schlimm wäre nur, wenn einer lügte. Wer es getan hat, soll es jetzt zugeben.»

«Wie konnte ich überhaupt wissen, daß Urs eine Meldung bei sich trug?» versuchte Rolf sich zu verteidigen.

«Das ist eigentlich wahr. Es handelte sich ja um eine Geheimmeldung», unterstrich Berni.

«Was sagst du dazu, Urs?»

«Ich habe mir erlaubt, die Depesche zu öffnen. Ich glaubte mich natürlich in Sicherheit. — Da hörte ich neben mir ein Knacken und steckte den Zettel wieder ein. Kurz darauf wurde ich von Rolf überfallen. Er muß mich demnach bespitzelt haben.»

«Ich kann nicht zugeben, was ich nicht getan habe», murrte Rolf.

«Dann soll etwa ich den Wisch geschrieben haben?» Urs stellte sich recht blöd.

«Natürlich.»

«Du lügst.»

«Natürlich hast du ihn geschrieben.»

Rolf schoß hoch. «Natürlich. Du ich geb dir...» Er stürzte sich auf Urs, aber eine starke Hand hielt ihn zurück.

«So setz dich wieder hin. Das Faustrecht ist bei uns längst abgeschafft.»

Urs schlug unschuldig die Augendeckel nieder, während Rolf sichtbar kochte. Für Bulle bedeutete dies: Rolf macht sich sehr verdächtig.

«Hör einmal, Rolf. So geht das selbstverständlich nicht. Es wird dir auch weiter gar nichts geschehen. Ich möchte nur, daß du mich nicht anlügst. Gib's doch zu.»

«Aber ich war es nicht. Ich bin einfach kein Lügner.»

Der Scharführer schüttelte traurig den Kopf. über dem Ifleter Berg zuckte ein weitverästelter Blitz zur Erde und ein krachender Donnerschlag zerriß die Stille. Für eine Sekunde flammten die Gesichter im bläulichen Licht auf. Dann trat wieder dunkle Nacht ein. Tiefer Ernst lag über dem züngelnden Lagerfeuer. Hier stand Aussage gegen Aussage. Hier log einer, und Bulle wußte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Die Wahrheit mußte heraus. Er hatte gehofft, auf die letzte Probe verzichten zu dürfen, aber es gab keine andere Möglichkeit.

Stumm betrachtete er die beiden Zettel. Sie glichen einander. Der falsche mußte aus einem Taschenkalender stammen, das bewies der Goldschnitt und die Nummer 23 am unteren Rand.

Der Scharführer kramte in seiner Tasche, so als suchte er etwas. «Ich muß mir einmal alles aufschreiben. Hat mir einer einen Notizblock?»

Res öffnete seine Mappe. «Wart ich...» Aber Bulle stieß ihn ins Schienbein. Er verstand. Ein kurzer Moment des Schweigens. Rolf zögerte. Auch er hatte vorhin die Nummer gesehen. Sollte der Zettel etwa aus seinem Kalender...? Ach nein, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Mutig zog er das rote Büchlein aus der Hintertasche. Aber er hatte bereits zu lange gezaudert.

«Danke.»

Bulle suchte scheinbar eine leere Seite. Er stockte: «Aha. Schaut her. Nummer 23 fehlt.»

«Das gibt's nicht.» Rolf flitzte wieder hoch.

«Da, habe ich wahrscheinlich einmal ein Blatt herausgerissen.» Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. Urs triumphierte heimlich.

«Aber die Abrißstellen passen genau zusam­men.»

Rolf gab keine Antwort mehr. Er war wie geohrfeigt. Wie konnte so etwas nur möglich sein? Seine Augen liefen wäßrig an, fiebernd ließ er den Kopf hängen und wie aus weiter Ferne hörte er:

«Das hätte ich nicht erwartet von dir.»

Der Bub starrte in die Glut. Wie das Holzscheit, das brennend in sich hineinsank, so drohte alles um ihn herum zusammenzubrechen. Er konnte es einfach nicht fassen.

Nicht einmal der Flammenstrahl aus den Wolken und sein nachhallendes Krachen vermochten ihn in diese Welt zurückzurufen.

«Wir müssen aufhören.» Bulle erhob sich mühsam. «Gleich wird es zu regnen anfangen. Schaut, daß ihr so schnell wie möglich euere Lager aufsucht. Ob wir morgen weiterkämpfen, weiß ich noch nicht. Als Zeichen werden wir die Banner hochziehen. Andernfalls gebe ich Weisungen durch Meldeläufer, was weiterhin geschehen soll. Was ich noch sagen wollte: Res, habt ihr euer Kroki gefunden?»

«Ja, es klebte an der Hornhütte.»

«Dann gebt den Löwen das ihrige zurück. Es nützt euch doch nichts.»

«Dürfen wir Urs wieder mitnehmen?»

«Der ist uns schon eine Morseflagge wert.»

«Da. — Dann gute Nacht.»

 

 

Illustration aus "Der goldene Eber"

 

Das Unwetter nahte mit Riesenschritten. Beinahe jede Minute tauchte die Gegend lärmend aus ihrer Dunkelheit auf. Bulle schürte nachdenklich mit dem Fuß die Glut zusammen und erstickte sie mit Erde. Er war traurig. Gerade auf Rolf hatte er soviel gesetzt. Bis jetzt wurde er von ihm noch nie enttäuscht. Dabei gehörte Rolf zu seinen großen Hoffnungen. In einem Jahr würde er Hilfsführer und bald darnach Gruppenführer sein. Das Zeug dazu hätte er. Zwar zählte er nicht zu den kameradschaftlichsten Jungwächtern der Schar, aber gerade die Führung einer Gruppe konnte ihn den echten Gemeinschaftssinn lehren.

Der Wind zerzauste Bulles Haar. Schon fielen große Tropfen auf das blaue Hemd. Der Scharführer eilte dem Lagerhaus zu. Dann öffnete der Himmel alle Schleusen und schlug mit dröhnen­den, feurigen Hieben die Juraerde, die nun vollends aus ihrem frühen Schlaf gerissen wurde.

 

 

8. Kapitel

 

Dünne Nebelschwaden flohen dampfend über die taunassen Wiesen dem Homberg zu. Die frühen Sonnenstrahlen trockneten die Perlen, die von den Sträuchern tropften, und guckten neugierig zwischen den Ästen durch auf die Buben, die wortkarg an ihren Butterbroten kauten.

Wie Kannibale hockten sie im Kreis um's Feuer und schöpften becherweise heißen Kakao aus dem rußgeschwärzten Kessel, der über den Flammen baumelte. Hans schmierte mit seinem Dolch tüchtig Butter auf die Schnitte, und an seinen Ohren klebte bereits eine Portion Konfitüre.

So herrlich das Frühstück schmeckte, eine fröhliche Stimmung, wie sie sonst üblich war, wollte nicht aufkommen. Wie ein Alpdruck lastete über der Gruppe die Erinnerung an den gestrigen Unfall und vor allem an das abgebrochene Spiel. Bis jetzt hatte noch kein Banner vom Fahnenmast aus die Wiederaufnahme des Kampfes angekündigt.

«Mir stinkt's», maulte Max, noch bevor er das Stück Brot ganz hinuntergeschluckt hatte. «Warum müssen diese Löwen so einfältige Klettereien machen. Wenn Ewald nicht abgestürzt wäre, könnten wir jetzt nach dem ,Goldenen Eber' suchen. Aber so...»

«Klar. Das ganze Geländespiel ist verpfuscht. So etwas Blödes.»

«Überhaupt, was hindert uns denn am Weitermachen? Ewald ist ja gerettet.»

«Schuld sind ganz einfach die Löwen.»

Res blickte finster drein. Wortlos kaute er an seinem Butterbrot. Der Gedanke an das nächtliche Lagerfeuer quälte ihn. Jetzt sollten sie die Schuldigen sein, und obendrein hatte ihn Rolf schwer enttäuscht. Irgendwie mußte er den Buben jetzt klaren Wein einschenken, er mußte ihnen sagen, daß nicht die Löwen, sondern ihr eigener Spion den Beinbruch auf dem Gewissen hatte. Und doch wollte er Rolf bei den Kameraden nicht unmöglich machen.

«Ihr dürft nicht so hart urteilen. Die Löwen können nichts dafür. Gewiß, mit etwas mehr Vorsicht wäre der Unfall nicht passiert.»

«Aber die haben dort oben gar nichts zu suchen gehabt.»

«Doch. Eben doch. Sie haben einen Punkt gesucht, den wir ihnen angaben.»

«Wieso? Das verstehe ich nicht.»

«Wir haben damit doch nichts zu tun?»

«Leider doch. Ihr wißt, daß Rolf uns eine Meldung ,für die Löwen' mitgebracht hat. Um die Gegner, und vor allem Urs zu täuschen, hat er ihm eine falsche Meldung zugeschoben und dum­merweise einen so unklugen Ort angegeben.»

Dreißig Blicke trafen Rolf. Er saß etwas beiseite und hatte bis jetzt noch kein einziges Wort gesprochen. Verlegen tastete er nach seinem Becher und trank einen kräftigen Schluck. Dann biß er ins Brot und fixierte starrend irgend etwas Unbestimmtes weit im Wald drin. Seine Kameraden sah er nicht.

«Was? Du hast die dort hinauf gejagt?»

«Das finde ich aber toll.»

«Nein, gar nicht. Wenn dabei einer verunglückt.»

«Deshalb haben wir unser Geländespiel gesehen, das sag ich euch.»

«Du hättest auch nicht so einen stupiden Punkt angeben sollen.»

Rolf starrte und kaute.

«He. Spielst jetzt die beleidigte Leberwurst. Was?»

«Lassen wir ihn doch in Ruhe, wenn er nicht reden will.»

Rolf sprang auf:

«Wenn ihr euern Schnabel nicht bald zuhaltet, gehe ich nach Hause.»

«Heh-heh. Nur nicht so energisch. Man wird auch noch etwas sagen dürfen.»

Res wurde die Sache zu bunt. Auf keinen Fall durfte jetzt ein Streit unter den Buben aufkommen. Das würde gerade noch fehlen: Jungwächter, die sich gegenseitig beschimpfen.

«Schluß jetzt. Ich höre kein Wort mehr darüber. Die Sache ist geschehen, daran gibt es nichts mehr zu ändern. Außerdem hat Rolf das gar nicht beabsichtigt, sondern wollte uns einen Dienst erweisen. Packt das Frühstückszeug zusammen. Jeder wäscht sein Geschirr und Besteck. Wenn binnen einer Viertelstunde keine Meldung vom Aussichtsposten kommt, rücken wir zu normalen Gruppenübungen aus.»

«Buh.»

«So ein Mist.»

«Nur wegen dem Kerl da.»

Die Gruppenführer zogen sich ins Kommandozelt zurück. Es mußte etwas getan werden, sonst würde die Langeweile ausbrechen. Dies aber ist eine schlimme Krankheit. Marcel ließ sich auf die Wolldecke fallen.

«So, und jetzt sagt mir, warum nicht mehr weitergekämpft wird. Wir können die Sache doch nicht einfach einschlafen lassen.»

«Bulle will zuerst genauen Bescheid über Ewalds Zustand haben. Und dann prüft er mit dem Präses alle Möglichkeiten, die weitere Unfälle verursachen könnten. Besteht keine Gefahr, gibt er uns das Zeichen zum Weitermachen.»

Berni schlug die Beine übereinander. «Seid einmal ganz ehrlich. Glaubt ihr wirklich, daß Rolf schuld ist?»

«Klar. Du hast doch gestern gesehen.;

«Ich bin trotzdem nicht davon überzeugt.»

«Aber die Zornausbrüche beweisen es doch auch.»

«Eben nicht. Es ist zwar ein grober Fehler von Rolf, daß er gleich hochgeht. Aber er ist einer meiner besten Jungwächter.»

«Auch denen passieren Fehler.»

«Sicher, Fehler kommen vor. Aber Rolf lügt nicht. Die ganze Angelegenheit dreht sich mehr um die Verleumdung als um die falsche Depesche. Jedenfalls werde ich heute Abend mit Bulle sprechen.»

«Tu das, wenn du dir etwas davon versprichst. Aber Urs wird doch unmöglich selbst eine falsche Meldung geschrieben haben. Das wäre ja glatter Wahnsinn.»

«Außerdem trug Rolf den Kalender in seinem Hosensack. Der Zettel stammte von ihm. Das ist eindeutig.»

«Das ist der Fallstrick. Das verstehe ich eben nicht. Trotzdem glaube ich an Rolf.»

«Warum aber muß es denn schon wieder Urs sein? Trommelt man nicht schon genug auf dem armen Kerl herum, nur weil er sich nicht wehren kann?»

«Macht, was ihr wollt. Für mich ist Rolf kein Lügner, und ich werde ihm helfen.» Berni stieg entschlossen über Marcel hinweg und trat ins Freie.

«He, Berni, wart noch. Wir müssen einen Plan fassen, um die Buben zu beschäftigen.»

«Wir bauen eine Seilbrücke, wenn genügend Stricke da sind», erklärte Marcel.

«Ich gehe morsen. Was machst du, Berni?»

«Ich dachte an einen Orientierungslauf. Viel­leicht aber sollten wir doch noch etwas abwarten, wenigstens nochmals eine Viertelstunde, ihr wißt, Bulle überlegt langsam, aber gut.»

«Dann singen wir ein paar Lieder. Spielst du Gitarre, Marcel?»

Res pfiff zweimal durch die Finger. Die Jungwächter lagerten sich um Marcel herum, die einen auf dem Bauch, die andern Rücken an Rücken. Der Führer schlug die Saiten an.

«Wir ziehen über die Straßen, in gleichem festem Tritt...»

«Aus grauer Städte Mauern ziehn wir in Wald und Feld... Der Wald ist unsere Liebe, der Himmel unser Zelt...» Wie gut paßte das Lied zu den Stadtbuben, die jetzt in der freien Natur draußen saßen.

Helle und brummige Stimmen hallten in den Morgen hinaus, egal, ob manchmal die obersten Töne etwas kratzten. Beim Singen vergißt man so leicht den Kummer und die Zeit und sogar den noch nicht gefundenen ,Goldenen Eber'. Allerdings war hier Friedel etwas anderer Meinung. In Zivil spielte er Klavier und sein feines Gehör ärgerte sich bei der leisesten Dissonanz. Er stieß seinen Nachbarn Siegfried mit dem Ellbogen an.

«Sing nicht so falsch, sonst kommen mir noch im Hosensack die Zündhölzer an.»

Sigi aber jubilierte aus voller Kehle weiter und machte sich kein Hehl daraus. Aus Friedels Hosensack stieg trotzdem kein Rauch auf.

«Wenn wir erklimmen schwindelnde Hö­hen… »

Rolf hielt sich verstohlen am Rand der Gruppe. Er ließ den Kopf traurig zwischen den Knien hängen und spielte gleichgültig mit einem Tannzapfen. Wozu sollte er singen? Für ihn hatte das keinen Reiz mehr. Er fühlte sich verlassen, ausgestoßen, zum Lügner und Spielverderber gestempelt. Einige hatten zwar vorhin für ihn Partei ergriffen, aber jetzt beachtete ihn keiner mehr.

«Was hab' ich hier eigentlich noch verloren? Dieser Urs, ich weiß nicht, wie es mir vorkommt, aber ich möchte ihn hassen. Bin ich überhaupt noch Jungwächter? Ein Lügner bin ich. Soweit habe ich es gebracht.»

Er hörte die singende Gruppe kaum. Mit den Fingernägeln zupfte er eine Schuppe nach der andern aus dem Tannzapfen. Für ihn schien eine Welt zusammengebrochen zu sein. Am schlimm­sten kam ihm vor, daß Bulle jetzt böse auf ihn war. Wenn er doch nur etwas beweisen könnte.

Gewiß, Rolf war etwas ehrgeizig. Er galt gerne etwas, aber es fiel ihm auch nicht schwer. Soviel konnte er, überall stand er als Meister oder triumphierte als Sieger. Aber diesmal war es kein gekränkter Stolz, diesmal war es ein Unrecht.

«Sing doch auch mit.» Eugen warf ihm ein Liederbüchlein hin.

Rolf nahm es in die Hand und blätterte darin. Er schöpfte tief Atem und schaute auf. Dabei traf sein scheuer Blick Berni. Rolf glaubte, sein Führer hätte ihm zugenickt. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder.

«Ach was, das bilde ich mir nur ein. Keiner glaubt. Nicht einmal Berni.» Der Bub wischte heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel, schämte sich aber darüber. «Reiß dich zusammen», sagte er zu sich selbst.

«Im Frühtau zu Berge, wir gehn fallera ...», dröhnte es über den Platz. Rolf lispelte lautlos mit. Oft verzog er seine Lippen mit einer schmerz­haf­ten Bewegung. Mit weitaufgerissenen Au­gen starrte er ins Büchlein. Er mochte nicht singen. Er konnte es einfach nicht fassen.

«Hallo Res! Drüben hängt eine Fahne! Wir können weitermachen!» schreit plötzlich Alfons, vom Aussichtsposten her eilend.

«Prima!»

«Auf geht's!»

«Los!»

Die Liederbüchlein fliegen in hohem Bogen ins Zelt. Die Buben springen hoch, tanzen, plärren, werfen die Arme in die Luft.

«So beruhigt euch», lacht Res. «Vorerst wissen wir noch gar nicht, wie es weitergehen soll. Ist sonst nichts zu bemerken? Alfons?»

«Doch, seit fünf Minuten morst Bulle mit einem Spiegel, Thomas schreibt auf. Aber er funkt immer dasselbe.»

«Was denn?»

«Da, ich habe es aufgeschrieben. JWT 24 39 3.»

«Ist das alles?»

«Ja, immer wiederholt.»

«Was soll das nur heißen?»

« JWT bedeutet sicher Jungwächter.»

«Das ist möglich.»

«Sicher sogar.»

«Und die Zahlen?»

«Vielleicht: 24 Jungwächter sollen um... Nein, das geht nicht.»

«Koordinaten können es nicht sein.»

Die Buben denken nach. Man hört beinahe die Gehirne arbeiten. Was sollen diese seltsamen Zahlen bedeuten? Da platzt Marcel heraus:

«Mit Jungwächter' könnte auch unser Hand­büch­lein gemeint sein.»

«Klar», jubelt Berni. «,Jungwächter', Seite 24, Zeile 39, Wort 3. Schaut nach.»

Werner hat sein grünes Büchlein bereits in Händen. «Moment. Da, Zeile 39 — das dritte Wort: Flammen.»

«Flammen?»

«Was soll das?»

«Lies den ganzen Satz.»

«Teile der Tuileriengebäude stehen in Flammen.» «Weiter.»

«600 Schweizer haben für ihren Treueschwur das Leben gelassen.»

«Komisch.»

«Hängt das etwa mit der Französischen Revolution zusammen?»

«Mit der Schweizergarde, die in Paris zugrunde ging?»

«Der Satz ist aus jenem Artikel. Aber was mag es mit dem Geländespiel zu tun haben?»

«Flammen — Flammen?»

Res zieht das an der Hornhütte gefundene Kroki aus der Tasche. Es weist genau die gleichen, seltsamen Zeichen auf, wie der Plan, den sie am Spittelberg gefunden haben: eine blaue Wellenlinie, eine Brücke und ein Haus.

«Ob das etwa damit zusammenhängt?»

Er hält es ans Sonnenlicht, um besser sehen zu können. Die Buben strecken die Köpfe darüber. Dabei bemerkt Eugen, daß das Blatt überall ganz feine Unebenheiten zeigt. Er reißt es Res aus der Hand.

«Halt, ich hab's. Das ist mit Geheimtinte beschrieben. Wenn man mit Milch schreibt, wird die Schrift unsichtbar. Dann muß man das Papier nur über eine Flamme halten und das Geschriebene tritt heraus.»

«Dann verbrennt der ganze Fackel, und alles ist futsch.»

«Man muß eben vorsichtig sein. Probiert es aus.» Res hält das Kroki behutsam übers Feuer und schwenkt es leicht hin und her.

«Tatsächlich, da kommen Höhenkurven heraus.» «Die Milch verkohlt und wird damit sichtbar.»

«Hier ist Wald.»

«Da Zahlen.»

Res legt den Zettel, der zu einer richtigen Landkarte geworden ist, vor sich auf den Boden. Die ganze Bubenbande beugt sich über ihn. Jeder will das seltsame Ding zuerst sehen. Namen aber sind keine darauf.

«Gebt eine Karte her, wir müssen vergleichen.» «Es wird irgendwo hier in der Gegend sein.» «Also, wo ist Wasser?»

«Hier.»

«Da auch.»

«In Frage käme einmal Horn. — Aber das ist zu weit vom Bach weg und das Relief stimmt nicht.» «Mieseren?»

«Möglich. Nein, der Bach fließt nicht in den Wald hinein.»

«Da, natürlich, beim Erli unten.»

«Genau. Auf zum Erli. Bevor der Löwe anrückt.» «Wir durchkämmen das ganze Revier. Wer etwas findet, macht kurz den Indianerruf.»

Die Buben sind nicht mehr zu halten. Wie die Wilden jagen sie dem Hof zu.

 

Nur einer hat keine Eile. Traurig schlendert er hinten nach. Was hat es für ihn noch einen Zweck, sich einzusetzen, wo nachher doch alles falsch ausgelegt wird? Daß er aber durch sein trotziges Gehabe sich selbst ausschließt, wird ihm nicht klar.

«So komm jetzt, Rolf, und mach mit», winkt ihm Res von unten zu.

 

 

 

 

 

9. Kapitel

 

«Da kommt nur das Erli in Frage.» Fredi faltet die Karte zusammen. «Wir müssen uns beeilen.» «Wenn die Bären nur nicht schon dort sind, die haben das gleiche Kroki.»

«Los, über diese abgemähte Wiese.»

Die wilde Löwenbande rast Kopf über Hals den Abhang hinunter. Nichts vermag sie noch aufzuhalten, nicht einmal das Waldstück mit seinen Dornengestrüppen, die es zu durchdringen gilt. Der Goldrausch hat die Buben gepackt, sie riechen den ,Goldenen Eber'. Wer will da nicht mitrennen?

Auch Urs ist dabei, auch er lärmt und schreit. Er scheint froh und glücklich zu sein. Klar, seine Ehre ist gerettet. Man erkennt sogar seinen Mut. Das tut ihm wohl. überhaupt: das Bewußtsein, einmal im Mittelpunkt der Lagergemeinschaft gestanden zu haben, läßt ihn etwas aufleben. Ihn, den Zurückgestellten, den Unerkannten. Aber irgendwie würgt ihn doch immer wieder das Gewissen. Er verdrängt die Gedanken, aber sie sind lästig wie Fliegen. Immer wieder tauchen sie auf.

«Rolf muß ja mächtig wütend sein auf mich. Wie der geschaut hat gestern abend. Am liebsten hätte er mich aufgefressen. An seiner Stelle hätte ich das auch gewollt. Eigentlich kann ich es begreifen. Er weiß ja, daß ich es gewesen bin. Aber er vermag mir nichts zu beweisen. Eigentlich tut er mir leid. Ist er doch mein Kame rad. Der Jungwächter ist ein zuverlässiger Kamerad. Pah! Ich kann nur Kamerad sein, wenn der andere es auch zu mir ist. Christian hat zwar einmal gesagt, man müsse zuerst den andern lieben und nicht schon von vornherein Forderungen stellen. Was hat Rolf eigentlich getan? Das ist doch kein Verbrechen. Warum mußte ich überhaupt lügen? Jeder weiß, daß er der Stärkere ist. — Aber der Unfall. Die dumme Geschichte mit dem Unfall. Ich habe ja die Falschmeldung geschrieben und dann ist es passiert. Und jetzt die dicke Lüge. Zum Donner, die Lüge. Nein, Bulle würde mich glatt zur Jungwacht rauswerfen, wenn er die Wahrheit wüßte. Nein, ich kann und darf nichts zugeben. Dann wäre ich erledigt.»

Urs merkt, daß er stehengeblieben ist. Die andern Buben hat schon der Wald verschluckt, nur noch ihr Gejohle bleibt zurück. Da: schmetternde Clairontöne.

«Oha! Die Bären! Jetzt gibt's ein Gefecht.» Urs jagt den Kameraden nach. «Auf keinen Fall darf ich mir etwas anmerken lassen. Sonst bin ich verkauft. überhaupt sollte ich nicht soviel daran denken. Aber so leicht ist das gar nicht.»

Die Bären sind da. Hoffentlich haben sie den heißbegehrten Schatz nicht schon gefunden. Es scheint nicht der Fall zu sein. Breitbeinig stehen sie da. Res an der Spitze, und fangen den anstürmenden Harst ab. Huronengebrüll erschüttert die Luft und prallt an die Felsen. Jetzt ist die Lage ernst. Jetzt geht es nicht um ein paar lumpige Raketen, jetzt steht der ,Goldene Eber' auf dem Spiel. Wer wird ihn zuerst in Händen haben? Kann er bei dem Tumult überhaupt noch gesucht und gefunden werden? Die Straße wirbelt trockenen Staub auf, das kurze Gras wird vollends zu Boden gepreßt.

«Auf, an die Morseflagge!»

«Nicht so!»

«Schnell!»

Keuchend balgen sich Ruedi und Alfons am unteren Ende der Wiese, Peter und Sigi stürzen sich auf Fredi. Wolfgang kommt ihnen zu Hilfe, aber Andi verteidigt seinen Führer.

«Aua!» Ein schallendes Gelächter quittiert den Schrei. Markus hat den Bach übersehen. Pudelnaß klettert er wieder ans Trockene. Und ausgerechnet Markus muß das passieren.

Daß zwei Bären fehlen, fällt in diesem Durcheinander keinem der Feinde auf.

Rolf steht tatenlos da. Seine Augen suchen krampfhaft nach Urs. Jetzt schießt er zum Wald heraus. Rolf fängt ihn ab. Packt ihn, reißt und rollt mit ihm ins Gras. Ratsch, der Bändel ist weg. Aber immer noch preßt er ihn zu Boden.

«Laß mich los, ich bin ,tot'.»

«Du, sag mal, warum hast du so gelogen?»

«Laß mich los oder ich schreie.»

«Ich hätte Lust, dir eine zu schmieren.»

«He, laß mich los. Hilfe, zu Hilfe!»

Christian löst sich aus dem Chaos und hastet zum Waldrand hinauf.

«Daß diese Kerle doch nie Ruhe geben können. Es ist zum Haaröl Saufen.»

Verlegen stehen die beiden auf und senken die Köpfe.

«Rolf will mich schlagen wegen der Falschmeldung.»

Rolf ärgert sich. Er wird sich bewußt, daß er jetzt einen groben Fehler begangen hat. So muß er ja noch verdächtiger erscheinen. Darum schweigt er.

«Herrschaft noch einmal. Hört denn das nicht auf, Rolf? Die Sache wird doch langsam langweilig.»

«Ich bin aber unschuldig. Urs hat gelogen.»

«Nein, du lügst.»

«So geht das nicht.» Christian packt die beiden Streithälse am Kragen, und verzieht sich mit ihnen hinter die Scheune, während auf der andern Seite des Hofes der Kampf tobt.

«Könnt ihr zwei euch denn nicht ertragen? Ist das wirklich nicht möglich? Wer schuld ist, das spielt jetzt gar keine Rolle. Lügen tut vielleicht keiner von euch beiden. Sicherlich ist alles nur ein blöder Irrtum. Hört her, ihr müßt euch in Gottes Namen endlich vertragen. Für Jungwächter ist das, was ihr da bietet, einfach unmöglich. Total unmöglich. Das geht nicht. Gewiß, man kommt manchmal etwas über's Kreuz, oder ist verschiedener Meinung, aber dann muß man sich wieder die Hand geben und sagen, wir gehören doch zusammen. Alles andere ist Humbug.»

Urs schwankt. Soll er jetzt doch die Wahrheit sagen? Zu Christian hat er Vertrauen. Die Wahrheit. Sie tut vielleicht ein wenig weh, aber dann ist alles überstanden. Soll er? Seine Hand zittert. Es verstreichen Sekunden der Stille. Christian hofft vergebens, es würde einer den Anfang zur Versöhnung machen. Rolf blickt finster und verbockt, Urs angstvoll und blaß drein. Soll er mit der Wahrheit herausrücken? Er stottert, preßt die Worte über seine Lippen:

«Ich — ä, ich, ich wollte sagen ...»

 

Ein brausendes Freudengeheul schneidet ihm das Wort ab. Die Bären haben eine Morseflagge erbeutet.

«Ich muß zurück. Kommt, macht jetzt anständig mit», schreit Christian und ist schon um die Hausecke verschwunden.

Rolf folgt ihm gleichgültig. Nur Urs steht noch da, einsam und verlassen. Die Gelegenheit ist verflogen. Er hätte den Mut gehabt, alles zu sagen, aber jetzt ist er froh, daß er es doch nicht hat tun können.

«Nein, ich darf nichts zugeben. Sonst kann ich das grüne Hemd an den Nagel hängen.» Jetzt stürzt auch er sich in die Schlacht.

Fredi kniet geschlagen im Gras. Zuerst muß er sich verschnaufen. Dumm. Diesmal hat er mit seiner Flagge dran glauben müssen. Am liebsten möchte er das Kämpfen einstellen und nach der Kiste suchen. Aber wie? Zuerst müssen diese lästigen Bären verschwinden.

«Verflixt, daß die zuerst da gewesen sind. Kommt die Kiste ans Tageslicht, scherbelt es ohnehin nochmals. Wie soll man da den ‚Goldenen Eber' ins Lager schleppen können.»

Die Bären empfinden nicht im entferntesten Lust, den Kampf einzustellen. Im Gegenteil: Die eroberte Flagge berauscht sie, treibt sie, zerrt sie ins Gefecht. Zeit und Punkte sollen herausgeschunden werden, hat ihnen Res eingebleut. Vor allem Zeit.

«Herrschaft», knurrt Fredi und läßt sich einen gewöhnlichen Bändel an den Arm binden. «Jetzt aber drauf. Und die Flagge muß wieder her. Vielleicht vergeht denen dann die Freude am Keilen.»

Der Boden erzittert von neuem, der Kampf ist hart. Noch sind die Bären im Vorteil, aber da, da verliert Res die eroberte Flagge. Die Löwen brüllen.

«Toll, wir haben sie wieder!»

«Jetzt noch die andere.»

«Drauf.»

Aber was ist jetzt? Berni stößt ein kurzes Signal durch sein Clairon. Die Knäuel lösen sich. Die Bären weichen langsam zurück. Meter um Meter verlagert sich die Schlacht dem Hof zu. Jetzt, drei schrille Pfiffe. Die Bärenbande stürmt die Straße hinauf dem Lager zu. Flucht! Die Löwen jagen in schäumender Wut hintennach.

«Halt!» brüllt Fredi. «Halt, schnell, kommt alle zum Hof zurück!»

Nur eine dicke Staubwolke bleibt von den flüchtigen Bären übrig.

«So, die scheinen die Nase voll zu haben. Jetzt aber auf die Suche nach dem Schatz.»

«Da ist etwas faul», protestiert Berni. «Hast du die grinsenden Fratzen gesehen? Die führen noch etwas im Schild. Der Rückzug ist Täuschung.»

«Oder haben die etwa schon die...»

«Die Kiste. Natürlich, die haben die Kiste. Die sind vor uns schon da gewesen.»

«Dann müssen sie aber vorher damit verduftet sein.»

«Klar, und der Kampf hat uns nur aufhalten sollen.»

«Vielleicht ist sie aber noch gar nicht im Lager. Hier den Weg hinauf haben sie sie nicht geschleppt, das hätten wir gesehen.»

«Anders ist es aber gar nicht möglich.»

Christian studiert die Karte.

«Doch, hinten herum. Es ist zwar weiter und mühsamer, aber man merkt es nicht.»

«Also, renn du mit deiner Gruppe dieser Fährte nach. Wir versuchen von vorne das Lager abzuriegeln.»

Die Bären atmen sich indessen beinahe die Lungen aus. Nur noch wenige Meter zum Lager, dann werden sie sich am Sieg erfreuen. Tatsächlich haben sie im letzten Moment die schwere silberbeschlagene Holzkiste unter der Erlibrücke entdeckt. Aber die Bären haben nicht einmal Gelegenheit gehabt, die Truhe zu öffnen, denn bereits haben scharfe Clairontöne den nahenden Feind angekündigt. Wie der Blitz sind darauf Werner und Willi mit dem ,Goldenen Eber' verschwunden, um durch den Wald, von hinten über den steilen Buckel, das Lager zu erreichen, derweil die andern scheinheilig den Kampf gegen die Löwen aufgenommen haben. Jetzt stehen sie schon vor ihren Zelten. Unten taucht der Feind auf. Der wird Augen machen. Aber was ist denn das? Von einer Kiste und ihren Trägern finden die Buben keine Spur.

«Was? Die sind noch nicht da? Das gibts doch nicht!»

«Die haben so lange Zeit gehabt.»

«Die Löwen kommen!»

Die Buben sind geschlagen. Ist alle Mühe umsonst gewesen?

«Das Gold wird zu schwer sein», lacht Paul.

«Natürlich.» Res schlägt sich an den Kopf. «Die Kiste ist eisenschwer. Die schaffen es allein nicht. Schnell, wir helfen ihnen.»

«Garantiert ist Blei drin.»

«Nicht schwatzen, handeln.»

Werner und Willi stehen knapp unterhalb des Grates, beinahe erschöpft, schnaufend, wie Brauereirosse. Auf Stirn und Wangen perlen glänzende Schweißtropfen.

«Ist Zeit, daß ihr uns endlich helft. Wir krepieren sonst noch.»

«Habt ihr die Kiste geöffnet?»

«Nein.»

«Ihr Kläuse, sicher ist sie mit Steinen gefüllt.»

«Daran haben wir nicht gedacht.»

Heini reißt den Deckel auf. Donnerndes Gelächter.

«Schleppen die solche Steinbrocken fast 150 Meter in die Höhe.»

«Unten hört man Stimmen!»

«Die Löwen. Schnell. Die Steine raus!»

Der hindernde Ballast prasselt ins Gestrüpp. Jetzt ist die Kiste ganz leicht. Aber oben und unten paßt der Feind auf. Schnell um den Hügel herum. Zwei Löwen versperren den Zugang zum Lager. Bändel weg. Sie werden kampfunfähig. Die Bären brechen durch. Die Kiste ist im Zelt. Geschafft.

 

Die Löwen sind Sekunden zu spät eingetroffen. Die Sieger aber springen wie betrunken um die Kiste herum. Sie können es nicht fassen, vor Freude und Glück. Der ,Goldene Eber' ist geborgen. Leer zwar und ohne Gold, aber dafür mit einem Zettel am Klappdeckel: Schokolade im Wert von zehn Franken. Was ist denn Gold und Silber gegen soviel Schokolade? Langsam legt sich der Sturm. Die Buben werden ruhiger.

«Peter, laufe sofort ins Lagerhaus und melde: ,Goldener Eber' erobert und sichergestellt», befiehlt Res und klemmt sein Clairon unter den Arm. Die Jungwächter stürmen zum Erlifelsen. Der Siegestaumel löst sich in flotte schmetternde Märsche auf. Das Metall der beiden Heroldstrompeten funkelt in der Sonne, die schon hoch über dem Homberg steht. Die roten Wimpel flattern, als wollen sie an der Freude teilnehmen.

«Zigi zagi, Zigi zagi, Hoi hoi hoi!» hallt es über die Baumwipfel hinweg. «Sieg. Sieg. Sieg! Wir haben den ,Goldenen Eber'!»

Weit unten aber trotten die niedergeschlagenen Löwen. Sie werfen grimmige Blicke zum Felsen und ballen die Fäuste. Noch ist für sie die Schlacht nicht verloren.

Vor Begeisterung verspürt niemand Hunger. Willi aber drängt zu den Zelten zurück:

«Ich brauche zwei Mann, um Patati zu schälen, und einer muß den Ofen heizen.»

Die übrigen Buben legen sich ins Gras und genießen Sonne und Sieg. Allerdings weiß jeder, daß noch lange nicht Spielabbruch geblasen wird, aber der ,Goldene Eber' ist hier, und das genügt. Kurz vor dem Mittagessen, Willi hat eben seine Suppe probiert und sich dabei tüchtig den Mund verbrannt, trifft der Meldeläufer ein. Er überreicht Res einen versiegelten Briefumschlag. Die Jungwächter strecken ihre Hälse. Das Siegel bricht entzwei. Res liest die Depesche vor:

«,Goldener Eber' muß bis fünf Uhr im Lagerhaus sein. Dabei darf er vom Gegner erobert wer­den. Verbringt einen schönen Nachmittag. Bulle.»

«Da haben wir's.»

«Hab doch gleich gesagt, wir sollen nicht so lärmen.»

«Am Schluß siegen doch die Löwen.»

Willi aber macht dem Gerede ein Ende. Er wischt seine russigen Hände am Hosenboden ab und schöpft seine Fidelisuppe aus:

«Kreuzpestmillionen! Könnt ihr nicht warten. Einer nach dem andern. Wie in Paris. Messieurs.»

 

 

Illustration aus "Der goldene Eber"

 

 

10. Kapitel

 

Die schwüle Mittagshitze ermüdete die Gemüter und lähmte die ohnehin schon von der Niederlage ermatteten Glieder der Löwen. Faul lagen sie im Schatten des Waldes und machten Siesta. Was sollten sie denn anderes tun? Die Schatztruhe hatte keinen Reiz, solange sie im Bärenlager geborgen war. Gewiß, es winkte nochmals eine Chance, dann, wenn sie ins Lagerhaus gebracht würde. Aber vor drei Uhr brauchte man damit nicht zu rechnen. Lieber wollten die Löwen ihre Kräfte aufsparen, um dann zum entscheidenden Schluß nochmals einen Coup starten zu können.

Außerdem mußten die Zelte und die Kochstelle vorher abgebrochen werden.

«Das Lager wird verlassen, wie wir es angetroffen haben», hatte Fredi angekündigt. «Aber zuerst legen wir uns auf die faule Haut und verdauen die Spaghetti.»

Unterm Nußbaum trieben vier Jasser den «Schweizer Nationalsport».

«Trumpf Buur.»

«Eicheln Ass.»

Die Karten flogen auf einen Haufen in der Mitte. Herbert blinzelte über die Fächer in seiner Hand: «Schaut euch die Siebenschläfer an da drüben. Die können am hellichten Tag schnarchen. Natürlich wieder unsere Ältesten.»

Wirklich streckten dort die Gruppenführer ihre Nase tief ins Gras und dösten. Den Jungwächtern, welche unterhalb der Zelte hockten, wäre dies zu langweilig gewesen. Sie übten sich lieber im Messen und Schätzen. Andi streckte den Daumen in die Höhe.

«Wie weit mag es bis zum Spittelhof sein?»

«Zirka einen Kilometer», vermutete Ueli. Charli protestierte:

«Nie im Leben. Auf diese Entfernung würden wir die Farbe der Fensterläden vom Haus nicht unterscheiden können. Bis zum Waldausgang werden es hundert Meter sein. Demnach zu jenem alleinstehenden Baum 200 bis 250 Meter. Der Baum steht ziemlich genau in der Mitte. Also 500 Meter.»

«Stimmt. Auf der Karte sind es 500 Meter», bestätigte Andi.

Einen Steinwurf weiter probierte Markus den Handstand. Es wollte ihm einfach nicht gelingen. Immer artete der Versuch zu einem Purzelbaum aus.

Edi schnitzte sich einen prächtigen Spazierstock. Mit seinem Dolch schnitt er schmale Streifchen in gleichmäßigen Abständen in die Rinde. Dann kerbte er eine lange Spirale ein, die wieder mit drei Ringen abschloß. Ein breites Stück Rinde ließ er unversehrt. Hier wollte er den Stock mit der Hand anpacken. Darunter aber zog er gezackte Längsstreifen, die sich plötzlich kreuzten.

«Brauchst du den, um Kühe zu hüten?» spöttelte Ruedi, der neben ihm den Rücken sonnte und schon eine ganze Weile dem Künstler zugestaunt hatte. «Beiß aber dabei deine Zunge nicht ab.»

«Gefällt er dir nicht?» Edi hielt den Stab ins Licht.

«O doch. Ist ganz nett.»

Über den Buben spannte sich eine stahlblaue, wolkenlose Decke; ringsum gesäumt von hellem und dunklem Grün. Ein leichtes Lüftchen bewegte die Blätter. Fredi räusperte sich, gähnte langgezogen und streckte die Arme aus. Dann kniete er auf und blickte auf seine Armbanduhr. Er pfiff schrill durch die Finger.

«So, meine Herren, wir brechen das Lager ab. Wenn wir den ,Goldenen Eber' erobern wollen, müssen wir rechtzeitig das Lagerhaus verbarrikadieren. Anders kommen wir nicht an die Kiste heran, denn das Gebiet ist zu groß und weitläufig. Christians Gruppe legt die Zelte zusammen. Göpf sammelt alles Lagermaterial und wir säubern den Platz.»

In kurzer Zeit erinnerte nur noch ein zertretener Rasen und der runde, schwarz verkohlte Fleck in der Mitte an das geschliffene Kriegslager. Die Zelte lagen zu Ballen gepackt am Waldrand, darauf Kessel und alles Geschirr. Die Rucksäcke hingen bereits an den Schultern der Buben. Göpf verteilte nochmals gelbe Wollbändel.

«Das Zeug da schaffen wir zuerst ins Lagerhaus, damit wir jeden unnötigen Ballast los werden. Wir müssen aber leise sein. Am besten schleichen wir hinten herum. Den Bären ist nämlich nicht zu trauen.»

Bulle schmunzelte beim Anblick dieser Trägerkarawane. Er hockte auf dem knorrigen Spaltstock vor dem Haus und fingerte an seinem Feldstecher. «Was, ihr seid schon da? Gebt ihr euch geschlagen? Der ,Goldene Eber' kann noch erobert werden.» Fredi warf sein Zeltbündel von der Schulter.

«Das wissen wir. Hier aber ist die beste Gelegenheit. Überall können die Bären uns umgehen, aber da nicht. Hier müssen sie durch.»

«Wenn sie aber den Cordon durchbrechen, sind sie drin.»

«Wenn! — Zuerst muß ihnen das gelingen. Wir verrammeln doch einfach den Eingang. Zwei Buben warten von innen am Küchenfenster und wir geben ihnen die Kiste hinein. Nichts ist einfacher.»

«Macht, was ihr für gut findet. Ich verziehe mich in den Führerschlag. Auf den Endkampf bin ich nun doppelt gespannt.»

Die Buben schleppen alles, was nicht niet und nagelfest ist, vor die Haustüre: Stühle, Bän­ke, Tische, ja sogar das Brennholz. Der Vor­platz gleicht einem wahren Ameisenhaufen.

«Den Tisch hochkant, damit sie die Kiste nicht oben durchwerfen können.»

«So ist's gut, bringt noch einen Stuhl her.»

«Was ist mit der Hintertüre?»

«Die verriegeln wir von innen. Es sind nur unsere Leute im Haus, da macht keiner auf.»

Die Festung ist fertig. Unter dem Vordach stehen zwei Reihen Jungwächter, dicht und undurchdringlich, und dahinter verwehrt das ganze Gerümpel den Durchbruch. Die übrigen Buben müssen dann um die Kiste kämpfen. Das gibt ein Gaudi.

«So, die sollen nur kommen, diese lausigen Bären mit ihrem ,Goldenen Eber'. Die sollen nur kommen und uns Löwen kennenlernen.»

Vor Vergnügen und Siegesgewißheit schlagen sich die Buben gegenseitig auf die Schultern.

«Ja, die sollen nur kommen.»

Drüben, auf der Erlifluh, wird das Fernglas gewechselt. Res macht ein essigsaures Gesicht. «Donner und Doria. Wie bringen wir jetzt diese dumme Kiste in den Bunker hinein?»

«Mit Gewalt auf keinen Fall», macht Berni und setzt das Glas an. «Da müssen wir schon eine List anwenden.»

«Aber wie?»

«Zuallererst werden wir uns die Geschichte etwas aus der Nähe ansehen.»

«Wenn wir von hinten angreifen würden?» «Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Von vorne wäre glatter Unsinn.»

«Die Sache ist heikel.»

«Einer von uns müßte unbemerkt ins Haus hineinkommen.»

«Wozu?»

«Um die Kiste in Empfang zu nehmen.»

«Das ist leichter gesagt als getan.»

«Allerdings.»

Die Bären sind ratlos. Der Fall sieht verworren aus. Die Sperre ist zu stark. Vorschläge fallen, werden wieder verworfen. Den Buben will der Mut sinken. Da platzt Marcel mit einer grandiosen Idee heraus.

 

 

Die Spannung steigt. Je länger die Löwen warten müssen, desto mehr wittern sie den Feind hinter jedem Baum. Ruedi hat die Bären zum Erlihof hinunter steigen sehen. Sie müssen jeden Moment da sein. Es prickelt in allen Gliedern. Jetzt kommts drauf an. Wer wird Sieger? Die Punkte und Flaggen sind zu sehr ausgeglichen. Wer den ‚Goldenen Eber' ins Haus hineinbringt, hat gewonnen.

Da humpelt Alfons wehleidig den Steinweg zum Haus hinunter. Er stöhnt. An seinem Knie leuchtet ein mordsgroßer Verband. Bei genau­erem Hinschauen sieht man, daß er rot durchwirkt ist.

«Was ist mit dir los?» Göpf packt ihn am Arm. «Herrschaft, ich bin ausgerutscht und habe mein Knie aufgeschürft. Ah, das tut weh... Res schickt mich hierher, damit Bulle die Wunde behandeln kann.»

«Wann kommen deine Kumpane?»

«Das weiß ich doch nicht. Die habe ich seit einer halben Stunde nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich kann ja nicht kämpfen mit dem Bein.»

Die Löwen weichen ein wenig zurück und Alfons schlüpft durch die Bresche ins Haus. Beinahe hätte er mit dem falschen Bein gehunken.

«So ein Simulant», denkt Fredi und schüttelt den Kopf.

Dann ist es wieder zum Zerplatzen still. Die Ruhe vor dem Sturm. Jetzt muß es jeden Moment scherbeln. Der Fahnenmast ächzt und knarrt. Der Wind treibt seinen Spott mit den vier großen Bannern. Sie wehren sich, wild ausschlagend: die rote Schweizerflagge und darunter das blau-weiße Kantonswappen, die leuchtend gelbe Lagerfahne und das immergrüne Jungwachtbanner mit seinem strahlend weißen Chiro.

Der Wind spielt auch mit den Baumkronen des Waldes, der leise sein Lied dazu summt. Aber vom Feind ist nicht das Geringste zu hören. Doch spürt jeder, daß der Angriff in der Luft liegt. Die Löwen werden nervös.

Da! Von der Seite her stürmt der ganze Harst Bären in wildem Durcheinander dem Haus zu. Einige überschlägt es. Sie reißen sich hoch und rennen. Dicht umgeben sie die Träger der Schatzkiste. Diese ist fest in eine Zeltblache gehüllt. Sie jagen auf den Eingang zu und werden von den Löwen abgefangen. Blitzschnell wenden sie sich nach Süden und rasen wieder vom Haus weg. Die Löwen in blindem Rausch hintendrein.

«Los drauf!»

«Ihnen nach.»

«Den ,Goldenen Eber'!»

Auch der lebende Schutzwall vergißt seine Pflicht. Alles stürmt der Bande nach. Immer weiter vom Haus weg. Jetzt erreichen sie schon wieder den Waldrand. Die Löwen holen ein. Geschrei, Gejohle, Keilerei. Sie ergreifen die Kiste. Für einen Moment scheint sie ihnen zu gehören. Aber nein. Die Bären halten sie fest. Jetzt, jetzt gelingt es den Löwen den Schatz an sich zu reißen. Sie kehren um, jagen dem Haus zu, die Gegner auf den Fersen.

 

Aber was ist denn das? Oben schmettert jemand die ,Reveille» in die Luft hinaus. Berni steht im ersten Stock und trompetet. Am andern Fenster lungern Sigi und Alfons. Sie schreien, die Bären schreien mit, machen Handstände, überschläge, umarmen sich. Den Löwen stockt der Atem. Hören sie richtig? Die rufen ja:

«Sieg! Sieg!»

Fredi reißt die Zeltbahn von der Kiste.

«Die haben uns reingelegt. Das ist ja nur eine leere Kartoffelharasse.»

«Oh je. So etwas Blödes.»

«Zum Kuckuck.»

«Wir haben verloren.»

Die Kiste fliegt im weiten Bogen über das Bord hinunter, das Zelttuch folgt. Sigi hält stolz die silberbeschlagene Schatztruhe zum Fenster hin­aus und streichelt sie liebevoll. Der ,Goldene Eber' ist geborgen, die List geglückt.

Illustration aus "Der goldene Eber"

Während die Löwen blindlings der imitierten Kiste nachgestürmt sind und nicht gemerkt haben, daß sie sich immer weiter vom Haus entfernen, hat Alfons die Hintertüre geöffnet. Den Verband trägt er nicht mehr, aber am Knie klebt immer noch Himbeersirup. Berni und Sigi sind dann von Norden her ans Haus gesprungen und haben die Kiste in Sicherheit gebracht. Die Barrikade hat versagt.

Rrrrrrrrrrädä, dätätdä … Fredi wirbelt auf sein

Trommelfell, drei blanke Clairons drehen sich über den Köpfen und blinken in der Sonne. Die Jagd nach dem ,Goldenen Eber' war zu Ende.

Die Buben sammelten sich um den Fahnenmast. Schmutzig, zerschunden und zerzaust, mit dreckigen Hosen und zerknitterten Socken. Aber das Geländespiel hatte eingeschlagen.

Bulle hob die Hand und gebot Ruhe.

«Ich glaube, wir müssen die Bändel nicht abzählen. Die Bären haben gewonnen ...»

«B r a v o !»

«Uhh!»

«Aber gekämpft wurde auf beiden Seiten gut. Jetzt wollen wir aber wieder eine einzige Schar sein. Die Feindschaft ist aus. Laßt uns die Friedenspfeife rauchen.»

«Wenn wir nur dürften», machte Alfons und leckte an seinen Sirupfingern.

«Jetzt geht ihr duschen und zieht euch sauber an. In einer Stunde ist Nachtessen.»

Die Buben eilten zur Schlafhütte, die wenige Meter unterhalb des Lagerhauses stand. Die Duschen und Wasserhahnen liefen auf Hochtouren. Für einige brauchte es allerdings Ajax und Schrupper, bis die Hautfarbe wieder hellere Töne bekam.

«Au», schrie Toni. Ein nasser Waschlappen hatte ihn am Bauch getroffen. Er packte ihn und warf ihn zu Stephan zurück, der sich scheinheilig grinsend einseifte.

«Ist einfach toll in der Jungwacht.»

«Hab ich ja immer gesagt.»

 

 

 

 

11. Kapitel

 

Bulle stopfte nochmals seine Pfeife und zündete sie an. Er stieß eine dicke Rauchwolke aus und wandelte in gleichmäßigen Schritten auf und ab. Es war Nacht. Das Haus und der Wald erschienen als große, dunkle Flecken, wie tot. Unten in den Schlafsälen war der Lärm längst verstummt. Auch die Gruppenführer hatten gute Nacht gesagt. Ja, sie hatten die Ruhe alle nötig, nach dem zweitägigen Geländespiel.

«Schade, daß so eine dumme Sache dazwi­schen kommen mußte. Sonst wäre das Spiel ganz nett gelungen. Ewald hat enormes Glück gehabt. Das Bein wird bald verheilen, hat der Arzt erklärt.»

Bulle lauschte in die Nacht. Irgendwo bellte heiser ein Fuchs. Sonst lag eine beruhigende Stille über der Gegend. Weit unten im Tal schlug eine Uhr. «Zehn. Schon wieder so spät. Ich schaue nochmals zu den Buben hinein und lege mich dann selbst aufs Ohr.»

Während der Scharführer seine Pfeife ausrauchte, ließ er in Gedanken nochmals das ganze Spiel, wie einen Film durchlaufen.

«Rolf macht mir Sorgen. Er schließt sich richtiggehend von der Gemeinschaft aus und spricht kaum. Nach dem Abendgebet hat er mich mit weitaufgerissenen Augen angeblickt. Ganz verstört sah er aus. Auch ungepflegt scheint er mir. Nicht einmal gekämmt hat er sich. Sein Haar hing weit ins Gesicht. Dabei gibt er sonst so viel auf Ordentlichkeit.»

Bulle schlug sich an die Stirne.

«Herrjeh. Der Bub wollte mich doch sprechen. Das habe ich glatt vergessen. Ach, morgen ist auch wieder ein Tag. Wäre die Sache wichtig, hätte er mich nochmals gesucht.»

Bulle klopfte die Pfeife an der Schuhsohle aus und öffnete leise die Türe. Sie knarrte. Über dem Raum lag tiefer Schlaf. Ganz hinten «sägte» ein Jungwächter einen Holzklotz durch. Dumpfe Atemzüge übertönten den schleichenden Schritt des Scharführers. Er tastete sich den übereinanderliegenden Strohlagern entlang. Im obern «Stockwerk» streckte einer seine Füße über die Wandung. Schon spürte sie Bulle im Gesicht. Er wich zurück.

«Was ist das denn für ein Kerl?»

Die Taschenlampe blitzte auf.

«Wie Engel sehen sie alle aus, diese Lauser. Wenn sie nur immer so wären.»

Der Lichtkegel überflog der Reihe nach alle Gesichter. Von einigen Buben guckten nur die Haarbüschel aus den Wolldecken.

«Halt, was ist da. Hier ist ein Strohsack leer.» Bulle blieb stehen und leuchtete auf die Stelle. Daneben rührte sich ein Haarschopf und wie ein Murmeltier kroch Sigi auf und hielt die Hand vors Gesicht.

«Bist du noch wach?» flüsterte Bulle.

«Ja, daß heißt nein. Jetzt bin ich erwacht.»

«Wer liegt da neben dir?»

«Neben mir? Ah, neben mir. Da liegt Max. Nein, der schläft ja auf der andern Seite. Neben mir?» Sigi schoß hoch. Jetzt war er hellwach.

«Da müßte doch Rolf sein. Er war vorhin aber noch da. Sein Schlafsack ist auch weg.»

«Habt ihr gestritten?»

«Nein. Er redet ja gar nicht mehr.»

Auf der Gegenseite raschelte Stroh. Ein Jungwächter drehte sich aufs andere Ohr. Der Schnarcher im Hintergrund hatte scheinbar seinen Baumstamm durchgesägt und gab Ruhe.

«Gewiß liegt Rolf an einer anderen Stelle», vermutete Bulle.

Sigi warf die Decke zurück und kniete in seinem Trainingsanzug auf: «Aber der Rucksack und die Schuhe, alles ist weg.»

«Tatsächlich.» Der Scharführer erblaßte. «Leg dich wieder hin und schlafe. Die andern wachen schon auf.»

Werner hob seinen Kopf und zwinkerte mit den Augen. Die Lampe erlosch. Die Buben drehten sich um und schlummerten weiter. Bulle suchte den Ausgang.

«Verflixt, jetzt ist mir der Kerl durchgebrannt. Wenn er nur keinen Blödsinn macht. Herrschaft, überall steilabfallende Felsen. Dabei ist es stockdunkel.»

Er knöpfte die Taschenlampe an seinen Ledergurt und stieg zum Haus hinauf.

«Ich muß ihn suchen. Er kann noch nicht weit sein. Aber welchen Weg mag er eingeschlagen haben? Allzuviele Möglichkeiten gibt es jetzt in der Nacht nicht. Am ehesten kommt die Straße nach Olten in Frage. Wenn er nämlich nach Hause flieht, muß er dort den Zug besteigen. Die Hornfluh wird er kaum benützen wollen. So kann er nur Richtung Ifenthal marschiert sein. Ich jedenfalls hätte es an seiner Stelle getan.»

Mit diesen Gedanken hastete Bulle den Weg hinauf zur Kreuzung und von dort ins Tal. Ein langes Stück Straße eilte er durch den Wald. Der Mond. stieg über den Horizont und beleuchtete das Gelände. Die Hügelzüge tauchten in ein seltsames Licht. Von milchigen Nebelfetzen leicht verschwommen, zog sich die Krete nach Westen. Dahinter bezeichnete ein helleres Stück Himmel die Lage von Olten.

«Dort geht jemand. Das muß Rolf sein. Nur er hat einen solchen Schritt.»

Hohl widerhallte die trockene Straße unter den dicken Ledersohlen. Jetzt trat die Gestalt in die Helle einer Laterne. Scharf umriß das Licht die dunkle Silhouette.

«Das ist Rolf. Den Rucksack trägt er auf dem Buckel. Wenn ich ihm jetzt aber nachrenne, reißt er mir aus. Ich muß ihn von unten abfangen.» Bulle spurtete quer über den Wasseracker und den Weg hinunter zum Dorf. Obstbäume verdeckten die Sicht von oben. Bei der Weggabelung traf er mit Rolf zusammen.

«N' Abend», machte der Scharführer und gesellte sich zum nächtlichen Wanderer, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt.

Rolf schritt schweigend weiter. Er schaute nicht auf und tat, als wüßte er gar nichts von seinem Begleiter, machte aber auch keinerlei Anstalten, davonzurennen. Im Grunde genommen hatte er damit gerechnet. Es war ihm auch Wurst. Bubentrotz.

«So, machen wir einen kleinen Bummel?»

Keine Antwort.

«Ich muß sagen, bei so klarer Nacht läßt es sich gut wandern. Ich jedenfalls liebe die Nacht. Du nicht auch?»

Rolf packte die Riemen des Rucksackes fester und schmollte. Weit im Hintergrund wand sich ein Scheinwerferpaar in die Höhe. Einmal funkte es heller, verschwand und tauchte weiter oben wieder auf. Dort führte der Paß über den Hauenstein.

Eine Weile tippelten die beiden im Selbtritt nebeneinander. Die Lichter von Ifenthal lagen schon weit hinter ihnen. über ihren Köpfen aber blinkten die Sterne. Bulle zeigte hinauf:

«Siehst du den Großen Wagen? Wenn du die hintere Achse fünfmal verlängerst, triffst du auf den Polarstern. Ist doch wunderbar da oben.»

Er schielte zu Rolf und stellte fest, daß der zum Himmel aufblickte. Bulle fuhr fort:

«Nach dem Porlarstern kann man sich in der Nacht wunderbar orientieren. Er steht genau in Norden.» Rolf schwieg.

«Soll ich deinen Rucksack tragen, damit du ihn nicht die ganze Nacht durchschleppen mußt?»

«Nein.»

Bulle atmete auf. Wenigstens ein Wort — schon ein kleiner Erfolg.

«Wie du willst. Darf ich aber wissen, wohin wir eigentlich gehen?»

«Nach Hause.»

«Nach Hause? Jetzt in der Nacht? Und überhaupt, warum heute schon? Das Lager ist noch gar nicht zu Ende.»

«Für mich schon.»

«Warum? Gefällt es dir nicht mehr bei uns?»

«Nein, ich habe hier nichts mehr verloren. Ich gehöre nicht mehr dazu. Keiner glaubt mir. Ich bin ein Lügner, weil ich nicht beweisen kann. Ich habe die falsche Meldung nicht geschrieben.»

«Aber Rolf, deswegen läuft man doch nicht einfach davon. Komm doch zu mir und red.»

«Das wollte ich tun, aber du magst mich auch nicht mehr.»

«Nein, das stimmt nicht. Ich habe dich wirklich vergessen und das tut mir leid. Ich muß eben noch an sechzig andere Buben denken. Aber weshalb sollte ich dich ausstoßen?»

«Die andern tun es alle auch, sogar Berni.»

«Bist du so sicher? Das bildest du dir ein. Die Kameraden sind wohl etwas gleichgültig, aber niemals gegen dich. Und Berni hat dich heute abend schwer verteidigt. Er behauptet, die Meldung stam­me nicht von dir.»

Rolf blieb stehen.

«Wirklich? Stimmt das? — Aber du glaubst es ja nicht.»

«Das will ich nicht sagen. — Gehen wir da rechts den Pfad hinunter. — Vielleicht möchtest du mir nun doch den Rucksack geben.»

Der Bub war froh, den Ballast los zu werden. «Schau», machte Bulle und hängte den Lederriemen ein, «wenn ich gerecht sein will, muß ich beiden glauben. Ich könnte auch beiden mißtrauen, aber ich glaube. Das Dumme ist nur, daß der Kalender dir gehört.»

«Das verstehe ich eben auch nicht.»

«Du hast ihn doch immer in der Tasche getragen?»

«Das schon.»

Sie stiegen einem schmalen Pfad entlang ins Tobel hinunter.

«So glaub mir doch. Bitte, glaub mir doch.»

«Gut, auf dein Ehrenwort hin will ich dir glauben. Ich wäre aber tief betrübt, wenn du mich jetzt anlügen würdest.»

«Sicher, Bulle, ich sage die Wahrheit.»

Trotz Mond und Polarstern hatte Rolf nicht gemerkt, daß sie die Richtung geändert hatten. Plötzlich tauchte vor ihnen wieder Ifenthal auf. Aber diesmal sah er es mit klareren Augen an. Bulle glaubte ihm und Berni auch. Wie konnte er da nicht wieder froh werden?

«Es ist noch zu früh, um heimzugehen. Haben wir die Tour einmal angefangen, wandern wir auch noch ein bißchen weiter. Wir wollen dem Geländespiel nachgehen», schlug der Scharführer vor.

Sie schritten dem Erlihof zu.

«Weißt Rolf, ganz freisprechen kann ich dich trotzdem nicht. Du hast auch deine Fehler. Dein Zornigwerden bestärkte die Vermutung.»

«Ich weiß, das ist mein großes Kreuz. Immer gehe ich gleich hoch.»

«Schau, du hast ganz gute Fähigkeiten. Aber manchmal scheint mir, du bauest zu viel auf dich selbst. Du nützest die Talente manchmal eher, um dich emporzuheben, weniger um der Gruppe oder Schar zu dienen.»

Rolf blickte auf den Boden.

«Du möchtest gerne der Tüchtigste sein. Bitte, versteh mich nicht falsch. Du leistest viel, das weiß ich. Aber du willst anerkannt der Beste sein. Die Tatsache, daß dir etwas gelingt, genügt nicht, man muß dich dabei loben. Hast du die Fähigkeiten etwa von dir selbst? Ist es nicht der Herrgott, der sie dir gegeben hat?»

Der Bub lächelte stumm. Es stimmte. Zwar hatte ihm das noch niemand gesagt und er selbst kannte sich da wirklich zu wenig. Aber Bulle hatte den Kern getroffen. Rolf schämte sich ein wenig. Zum Glück marschierten sie in der Dunkelheit.

«Das macht es natürlich aus, daß du Neider hast und diese freuen sich an deinem Versagen. Das ist begreiflich, wenn auch nicht schön. Aber alle sind wir eben nur Menschen. Wie dich nun die Sache mit der Falschmeldung brandmarkte, standen nicht alle auf deiner Seite. Du bist eben doch zu wenig Kamerad. Ich weiß, du suchst die Kameradschaft, aber es gelingt dir nicht ganz, weil du dich mit den andern nicht auf gleiche Ebene stellst, weil du besser sein willst. Die Kühle der andern gegen deine Verlassenheit löste in dir das Gefühl des Verstoßenseins aus.»

Sie überquerten den Bach am Ausgang des Waldes.

«Hier haben wir den ,Goldenen Eber' gefunden», sagte Rolf, um seine Verlegenheit zu überdecken. «Ich weiß, und da in der Nähe stand euer Lager.» Bis zur großen Linde hinauf sprachen sie kein Wort. Die Nacht strahlte eine angenehme Wärme aus. Leises Glockengebimmel verriet, daß in der Gegend Kühe weideten. Die beiden Wanderer setzten sich ans Straßenbord.

«Verstehst du mich? Ich will dir gewiß nicht weh tun. Aber Fehler haben wir alle, doch sind wir meistens blind dafür. In einem Jahr bist du Hilfsführer und bald darnach Chef einer Gruppe. Du hast das Zeug dazu. Aber diesen Makel mußt du auszumerzen versuchen. Sonst kommst du mit den anderen Gruppenführern in Konflikt. Ich denke da gerade an Urs. Auch er könnte Führer werden.»

Rolf zuckte zusammen.

«Der?»

«Warum denn nicht? Du darfst ihn nicht unterschätzen. Nicht die Muskeln machen den Jungwachtführer, sondern das Herz.»

«Aber so ein Aufschneider wie der. Plagiert mit Sachen, die nur halb oder gar nicht stimmen.»

Sie standen auf und schritten dem Weidli zu. «Siehst du, jetzt fehlt dir schon wieder die Toleranz. Versuche einmal Urs von innen her zu verstehen. Eben, weil er nicht aufkommen kann, weil er nichts gilt, braucht er seine Prahlerei. Würdet ihr ihn anerkennen, so hätte er das nicht notwendig. Er kann sich nun einmal nicht so entfalten wie du und andere. Zu Hause ist er angebunden und kontrolliert wie ein kleines Hündchen. Sein Vater möchte aus ihm einen Kaufmann machen, dabei liebt er die Handarbeit. Das arbeitet in so einem Buben drin. Und selbst wenn er andere Auffassungen hat, dürft ihr ihn deswegen nicht einfach verachten. Das werde ich morgen auch der ganzen Schar einmal sagen. Das geht alle an. Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Wenn ihr nun den Schwachen noch das wenige nehmt, das sie haben, drückt ihr euere eigene Gemeinschaft zu Boden.»

«Aber wenn er einen schmutzig macht und verleugnet? Kann man denn da noch gut zu ihm sein?»

«Selbst dann. Es ist zwar schwer und hart, aber so fordert es unser Evangelium. Das Vaterunser wäre eine Heuchelei, wenn wir nicht verzeihen wollten.»


«Hier kämpften wir um die Depesche.»


Bulle blieb stehen und blickte Rolf geradewegs ins Gesicht, das im Mondschein hell leuchtete. Die Haarsträhne hing immer noch wirr in die Stirne.

 
«Hier habt ihr gekämpft. Du und Urs. Und jetzt mußt du hier nochmals kämpfen, aber mit dir selber. Wenn Urs wirklich die falsche Meldung geschrieben und darauf gelogen hat, warum tat er das wohl?»


«Ich weiß nicht.»


«Um von seinen Kameraden nicht ausgespottet zu werden. Sie haben ihn unbewußt dazu getrieben.»
 
«Aber wozu soll ich jetzt mit mir kämpfen?»

«Um die Liebe, die ihr Urs verweigert. Die mußt du dir jetzt abringen.»

«Das bringe ich nicht fertig.»

«Rolf, auf dich kann ich mich verlassen. Du mußt mir helfen, daß Urs bei den andern Jungwächtern ankommt. Er muß voll und ganz zur Jungwacht gehören, wir wollen bei uns keine Mitläufer haben.»

Rolf schaute zum Lagerhaus hinüber. Ganz blaß und schwach vermochte er es am dunkelgrauen Hang zu erkennen. Dort schlummerten seine Kameraden. Keiner konnte wissen, daß er mit dem Lagerchef die Nacht durchwanderte. Ob Urs auch schlief? Vielleicht lag er wach auf seinem Strohsack und litt. Litt unter der Last des Gewissens, litt unter dem Bewußtsein, nicht wie die andern zu sein.

Rolf blickte zu Bulle auf.

«Wenn du meinst, daß es geht? Ich will es versuchen. Aber Urs muß auch seinen Teil beitragen.»
 
«Gewiß, auch er muß mitmachen. Ich werde jetzt gleich mit ihm reden.»

«Jetzt noch?»

«Freilich. Aber du mußt uns vorerst allein lassen? Fürchtest du dich in der Nacht?»

«Ich? Wo denkst du hin?»

«Gut geh voraus zum Chambersberg.»

«Wo ist der?»

«Wenn
du oberhalb unseres Hauses zur Belchenfluh aufsteigst, wirst du ein Stück weit außerhalb des Waldes gehen. Dort machst du ein Feuer.»

«Ein Feuer? Wozu?»

«Frag nicht so viel. Du wirst es noch sehen.»

 

Illustration aus "Der goldene Eber"

 

  

12. Kapitel

 

Urs erhob sich mit schlotternden Knien von seinem Strohlager und legte die Wolldecken zusammen. Er ahnte nichts Gutes, wie er so spät in der Nacht von Bulle geheißen wurde, aufzustehen und sich anzukleiden. Er hatte auch wirklich noch kein Auge zugemacht und wußte, daß der Scharführer Rolf vermißte. Dabei hatte ihm dieser schon am Abend angedroht, er werde davonlaufen, wenn die Angelegenheit nicht bis zur Nachtruhe abgeklärt wäre. «Jetzt wird er mich ausfragen und morgen darf ich in Olten ein einfaches Billet nach Hause lösen.»

Der Bub stellte den Fuß auf seinen Rucksack und bändelte die Turnschuhe zu.

«Ist mir doch egal. Sollen sie mich eben rauswerfen.»

Er schlich zur Türe. Draußen wartete Bulle. Er hockte auf dem kleinen Mäuerchen und betrachtete die Sterne. Hoch oben überzog die Milchstraße den Himmel. Sirius, Algol und Deneb funkelten besonders hell. Beklommen setzte sich Urs neben Bulle hin, aber dieser blickte unentwegt hinauf.

«Weißt du, daß es Sterne gibt, die wir jetzt zwar sehen, die aber viele Lichtjahre entfernt sind, und gar nicht mehr existieren?»

«Der Lehrer hat uns einmal so etwas erklärt.» Urs staunte. Hatte ihn Bulle etwa hinausgerufen, um mit ihm Astronomie zu betreiben?

«So, dann gehen wir. Bist du bereit?»

«Wohin?» Urs fürchtete sich.

«Zu einer kleinen Nachtwanderung. Es ist wirklich schade, jetzt schon zu träumen, oder?»

Der Bub folgte dicht hinter Bulles fester Gestalt. Sie kletterten zum Waldrand hinauf, machten Halt und lagerten sich im weichen Gras. Der Mond stand schon hoch und warf gespenstisches Licht über die Gegend. Urs zupfte einen Grashalm ab und spielte abwartend damit.

«Hast du schon geschlafen?»

«Nein, ich konnte nicht schlafen.»

«Warum denn? Ist dir nicht gut? Nach dem Geländespiel ist man doch recht müde. Oder macht dir die Geheimmeldung zu schaffen?»

Urs schreckte zusammen. Also doch. Jetzt würde der Zauber wieder aufs neue losgehen.

«Warum läßt man mich denn nicht in Ruhe? Ich habe doch gesagt, daß die Depesche nicht von mir ist. Außerdem beweist ja der Kalender, daß Rolf sie geschrieben hat.»

«Bist du da so felsenfest überzeugt?

Urs zuckte mit den Achseln.

«Laß mich doch endlich in Ruhe.»

«Eben das möchte ich tun. Ich will, daß du in Zukunft Ruhe hast und wieder schlafen kannst. Du mußt wieder frei atmen können, Urs, das Gewissen wühlt sonst in dir.»

Der Jungwächter versuchte kühl zu bleiben. Er biß auf die Zähne. Es durfte nichts auskom­men.

«Warum soll mich das Gewissen plagen?»

Bulle spürte, daß er so zu keinem Erfolg gelangen konnte. Er mußte die Sache von einer andern Seite anpacken.

«Schau, Urs. Gesetzt den Fall, daß Rolf tatsächlich die falsche Meldung schrieb. Was ändert das jetzt noch an der Tatsache, daß Ewald sein Bein gebrochen hat? Der Haxen ist entzwei, der Fehler passiert. Sicher, es hätte nicht sein müssen, doch rückgängig machen können wir es nicht. Aber wir wollen Ruhe und Frieden, wir wollen einen sauberen Tisch. Der Hase liegt nämlich an einer ganz anderen Stelle im Pfeffer.»

Urs blickte ins Tal hinunter. Er verstand nicht, was Bulle da meinte und wo er hinaus wollte.

«Was sagst du dazu, wenn ich dich in den Hilfsführerkurs aufnehme?»

Der Bub schreckte auf. Hatte er recht gehört? «Ich als Hilfsführer? Das kann ich nicht.»

«Du hast zu wenig Vertrauen in dich. Was nicht ist, kann noch werden. Umsonst halten wir keine Kurse. Auch die Führung einer Gruppe will gelernt sein.»

Urs strahlte: «Meinst du wirklich? Das wäre natürlich pfundig.»

Er konnte es kaum fassen. Er, der Schwächling würde eine Gruppe leiten dürfen. Aber jetzt kam er sich erst recht schmutzig vor. Es ekelte ihn. Der Dünkel seiner Lügnerei stieg ihm bis zum Hals. Bulle meinte es so ernst mit ihm und er log ihn dafür faustdick an.

«Wenn er jetzt erfährt, daß ich den Rolf so hereingelegt habe, nimmt er alles zurück», dachte er und spielte verlegen mit seinem Grashalm. Nein es war zu dumm. Jetzt konnte er erst recht nicht mehr zurück.

«Und Rolf, wird der auch Hilfsführer?»

«Rolf ist durchgebrannt.»

«Was?» tat Urs scheinheilig.

«Ja, und weißt du auch warum?»

«Warum?»

«Kennst du den Grund wirklich nicht?» Bulle schlug dem Knaben kameradschaftlich auf die Schultern. «Jetzt einmal Spaß beiseite, weißt du es wirklich nicht?»

Urs stotterte: «Wegen mir.»

«Siehst du, den ersten Schritt hast du getan. Möchtest du das andere nicht auch sagen?»

Im Wald knackte ein dürrer Ast. Ein Reh wird die Fährte gewechselt haben. Urs mußte die Tränen zurückhalten und preßte die Lippen heftig aufeinander. Bulle wartete geduldig. Er spürte, daß der Bub einen heißen Kampf mit sich auszufechten hatte.

Plötzlich schoß Urs hoch, stellte sich vor den Scharführer und warf seine Arme verzweifelt in die Luft: «Ich bin ein gemeiner Hund. Schmeiß mich zur Jungwacht raus, ich habe Rolf dreckig gemacht. Ich selbst habe die Falschmeldung geschrieben. Den Kalender hat er verloren und ich habe ihn als Beweis benützt.»

Jetzt war es draußen, wie ein Vulkan, der sich unter der Erdkruste geballt hatte und dann plötzlich in die Luft schoß, so schleuderte Urs seine ganze aufgestaute Schlechtigkeit aus sich hinaus. An­gefangen von jenem verhängnisvollen Moment, da er seine Meldung an Rolf verloren hatte, bis zum Lagerfeuer in der Gewitternacht.

Dann setzte er sich erschöpft hin und wartete auf das Donnerwetter. Aber es blieb aus. Lange Zeit schwiegen beide. Urs aber fühlte sich immer freier.

«Das war dein zweiter Schritt, Urs. Ich weiß, daß er dich viel gekostet hat. Als angehender Führer aber mußt du noch mehr tun.»

Urs traute seinen Ohren nicht. Statt zu schimpfen, nannte ihn Bulle ,angehenden Führer’. Das war zu viel. Er schluchzte leise.

«Ich habe das alles gar nicht gewollt, aber die andern hätten mich ausgelacht, wenn ich ohne Meldung ins Lager gekommen wäre. Ich ahnte nicht, daß es solche Folgen haben würde.»

«Ich weiß, du möchtest gerne wie die andern sein, aber es gelingt dir einfach nicht. Doch mit krummen Touren kommst du hier nicht weit. Zumindest hättest du nach dem Unfall zur Sache stehen müssen. Nicht die Falschmeldung an sich war das Schlimme, sondern die Verleumdung. Auch wenn Rolf nicht dein bester Kollege ist, auch wenn er deine Depesche geklaut hat, so darfst du ihm nicht die Ehre nehmen. Die Ehre ist ein wertvolles Gut jedes Menschen. Die muß man hüten und pflegen, die darf man sich nicht entreißen lassen.

Außerdem hätte jeder versucht, den Zettel in die Hand zu bekommen. Es handelte sich ja nur um ein Spiel. Aber selbst im Leben geht nicht alles nach Wunsch und Laune. Damit muß man sich einfach abfinden. Oft kommt einer und schöpft den Rahm von der Milch, die man selber gemolken hat. Deswegen darf man ihn doch nicht gleich vernichten. War das wirklich so schlimm, daß du die Meldung verloren hast? Jedem Meldeläufer kann so etwas passieren. Ein bißchen Witz, der nicht bös gemeint ist, muß man doch ertragen können. Was du da getan hast, ist beinahe kriminell. So kommen wir nie ans Ziel, weder beim Geländespiel noch in der Jungwacht und erst recht nicht im Leben draußen. Und jetzt ist Rolf davongelaufen. Aus Verzweiflung, weil du ihn bei den Kameraden und bei mir unmöglich gemacht hast. Entspricht das dem siebten Jungwachtgesetz: ,Der Jungwächter ist ein zuverläßiger Kamerad', und dem neunten: ,Er ist wahrhaft und froh', wenn man andere durch eine Lüge unglücklich macht?»

Urs blickt durch seine wäßrigen Augen zum Mond auf.

«Wie kann ich das wieder gut machen?» stammelte er.

«Durch den dritten Schritt. Durch eine Versöhnung mit Rolf.»

«Der wird jetzt nichts mehr wissen wollen von mir.»

«Ihr braucht ja nicht gleich ab heute die dicksten Freunde zu sein. Das wäre zuviel verlangt. Aber ihr müßt euch die Hand geben und nebeneinander leben können. Die Freundschaft muß langsam wachsen.»

«Aber wird Rolf wieder zurückkommen?»

«Ich habe ihn gefunden und lange mit ihm gesprochen. Er würde dir sofort verzeihen.»

«Bulle, darf ich ihn nicht sehen? Ich will heute Nacht noch Frieden schließen mit ihm. Ich habe die Streiterei satt bis über die Ohren. Wir haben uns rivalisiert, dabei könnten wir uns prima verstehen. Ich sag es ehrlich: Eigentlich hätte ich ihn gut gemocht, aber ich war neidisch, weil er bei den andern besser ankommt als ich, weil er stärker ist, weil er alles kann.»

«Schau Urs, ich glaube fast, es mußte alles so kommen. Wer weiß, vielleicht war der Unfall und die Falschmeldung notwendig, um euch zusammenzuführen. Komm! Rolf erwartet uns auf dem Chambersberg.»

Urs fühlte in seiner Brust etwas Befreiendes wie schon lange nicht mehr. Alles in ihm sang und jubelte. Er faßte neuen Mut und große Hoffnung. Nur eines machte ihm Herzklopfen: Die Begegnung mit Rolf. Was würde er sagen; wie reagieren? Er konnte es sich noch gar nicht vorstellen, daß sie, die ewigen Feinde, nun friedlich zueinander stehen würden, miteinander Hilfsführer werden und später jeder eine Gruppe führen. Oh, die Klassenkameraden werden Augen machen, wenn sie im Herbst Schulter an Schulter zur Schule marschieren.

Drüben flackerte ein munteres Feuerchen zwischen den Baumstämmen durch. Wie ein Gespenst beleuchtet, hantierte Rolf daran herum. Jetzt standen sich die beiden Buben gegenüber, beklommen und wortlos. Urs faßte sich ein Herz:

«Rolf, kannst du mir verzeihen? Ich habe dich eingeschmiert. Die Meldung war von mir.»

«Eigentlich müßte ich dich um Entschuldigung bitten, denn ich war nie nett zu dir», antwortete leise der andere und reichte ihm die Hand. «Wir wollen das Kriegsbeil begraben.»

Bulle schmunzelte. Aber er hatte zu viel Erfahrung, um gleich seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Die drei jungen Menschen setzten sich ans Feuer.

«Ihr dürft jetzt in eurer Freude die Wirklichkeit des Lebens nicht übersehen. Es wird immer Zeiten geben, wo Konflikte und Meinungsverschiedenheiten auftauchen. Dann ist es wichtig, daß ihr euch sofort wieder findet. Nicht der Streit an sich ist das Schlimmste, sondern das Verharren in der Feindschaft. Und diese darf in unseren Reihen nicht herrschen. Ihr habt jetzt an euch selbst eine Sache erfahren, die oft im Leben vorkommen kann. Nicht nur heute, da ihr Buben seid, auch später im Mannesalter. Immer werden euch Menschen begegnen, die anders denken und wollen. Trotzdem sollt ihr mit ihnen zurechtkommen. Dazu müßt ihr euch durchringen, wenn ihr einmal Buben führen wollt.

Ihr habt nun zwei Tage lang um einen verschollenen Schatz gekämpft, und die Bären haben ihn erobert. Jetzt liegt die Kiste unbeachtet im Materialzimmer. Ihr beide aber habt dabei den echten ,Goldenen Eber' errungen. Euer Schatz ist wertvoll und groß. Ihr habt euch selbst gefunden. So hat die Jagd nach dem ,Goldenen Eber' trotz Zwischenspielen ihren berechtigten Sinn gehabt.

Jetzt aber habe ich für euch noch eine Überraschung. Ab heute abend seid ihr Hilfsführerkandidaten. Charli wird noch dazukommen. Am Montag halten wir die erste Kursstunde. Ihr dürft sogar ab und zu an den Führerrunden teilnehmen.»

Die Buben strahlten. So hätten sie den Ausgang des heutigen Tages nicht erwartet.

Bulle warf einen Blick auf seine Uhr und zwinkerte verschmitzt mit dem linken Auge.

«Ich denke, ihr habt wie ich Hunger.» Er zog schmunzelnd drei Cervelats aus dem Hosensack. «Wer sucht Spieße?»

Urs verschwand im Gebüsch. Rolf zog seinen Dolch und schnitt kreuzweise in die Würste, und schon schmorten diese duftend über der Flamme. Das Fett tropfte zischend in die Glut. Die Haut spannte und öffnete sich und ließ das Fleisch hervorquellen. Lange sprach keiner. Aber jeder spürte, was Kameradschaft ist. Für Urs war es das erstemal in seinem Leben, daß er bei einer so außerordentlichen Sache dabei sein durfte. Und jetzt würde er sogar Hilfsführer werden. Nie hatte er geglaubt, daß er es erreichen könnte. Weit unten im Tal schlug eine Turmuhr.

«Mitternacht, Geisterstunde», lachte Rolf.

«Wenn meine Mutter wüßte, daß ihr Sohn so spät noch im Wald draußen hockt und Cervelats bratet», sagte Urs und riß mit seinen weißen Zähnen ein Stück von diesem knusprigen Braten.

Auch Bulle biß herzhaft in seine Wurst. «Da nehme ich für heute die Verantwortung einmal auf mich.»

 

 Illustration aus "Der goldene Eber"

 

  Bemerkung aus dem Jahr 2013

Der "Goldene Eber" ist in die Jahre gekommen.  Ich weiss nicht mal, ob in der Jungwacht solche Geländespiele noch gespielt werden. Aber fast 50 Jahre, nachdem wir dieses Geländespiel tatsächlich am genau beschriebenen Ort im Jura gespielt hatten, muss ich etwas schmunzeln. So vieles hat sich inzwischen verändert. Nicht nur in der Jungwacht, auch in uns und um uns herum. Es gab da noch keine Handys und doch haben wir kilometerweit kommuniziert. Die Jungwacht war auch eine reine Bubenorganisation  und man trug noch die traditionelle "Kluft". Allerdings nicht ganz so, wie im Buch beschrieben, während eines Geländespiels, dazu wäre sie doch zu schade gewesen. Das Spiel trug sich aber sonst ziemlich genau so zu. Ich war dabei der Boss der Bären, dem ich im Buch den Namen "Res" gegeben habe. Nur die Haupthandlung mit dem Zwist der beiden Protagonisten und dem Unfall ist glücklicherweise von mir nur erfunden. Aber sie hätte so passieren können. Ja und ein wenig geschummelt habe ich mit dem Schluss: Es ist uns Bären nämlich nicht gelungen, den Schatz ins General-Wille-Haus zu bringen, obwohl wir eine für damalige Verhältnisse neue List angewendet haben: Wir versuchten, sie mit einem Taxi ins Ziel zu bringen. Im Buch funktioniert das so, wie wir in den langen Diskussionen nach dem Spiel gemeint haben, so hätte es gehen müssen. Es ist eben doch schön, wenn man der Fantasie freien Lauf lassen kann und die Handlungen dorthin führen kann, wo man sie gerne haben möchte. Gerade das ist das Schöne am Geschichtenerzählen.

Harry Greis

 

 

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Blick vom General Wille Haus zur Erlifluh, zur Zeit als das reale Geländespiel um den goldenen Eber stattfand.
     
Das General Wille Haus ob Ifenthal. Schauplatz eines Jungwachtlagers mit Geländespiel, das zum Roman "Der goldene Eber" wurde

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